Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse ‘Alle Menschen sind im Autismus-Spektrum’

Wie wir ticken: So vielfältig sind unsere Gehirne

Quarks gibt Einblicke in die besondere Wahrnehmung von Menschen: Autismus, ADHS, Synästhesie, Legasthenie, Tourette-Syndrom, Hochbegabung – das sind nur einige der zahlreichen Diagnosen, die heute unter dem Begriff Neurodiversität zusammengefasst werden.

Gemeint sind Menschen mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Funktionsweisen des Gehirns. Gemeinsam ist Ihnen, dass sie von der “Norm abweichen”. Quarks zeigt, wie normal Unterschiede zwischen den Menschen sein können.

( https://www.ardmediathek.de/video/quarks/wie-wir-ticken-so-vielfaeltig-sind-unsere-gehirne/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLXNvcGhvcmEtOWI1OWI1NmEtNzQyOC00YTUzLTliMDMtNmZjNGE3N2I2YmEz )

Autismus neu denken: Spektrum, Neurodiversität, Diagnose

M.Sc.Psych. Nazim Venutti

Autismus wurde einst als eine extrem seltene Störung betrachtet, die nur einen winzigen Teil der Bevölkerung betrifft. Von einem bösen Geist war die Rede, der Eltern ihrer Kinder beraube. Heute gibt es viele führende Forschende, die Autismus längst nicht mehr für eine Störung halten. Manche Menschen sehen Autismus sogar als einen fundamentalen Schlüssel für den menschlichen Fortschritt, dank des abweichenden, analytischen Denkstils, der oft mit ihm einhergeht.

Jede hundertste Person wird nach aktuellem Forschungsstand als autistisch erkannt. Dabei ist der Begriff Autismus, wie die Gesellschaft selbst, einem starken Wandel unterworfen. Es überrascht daher auch nicht, dass niemand so richtig weiß, was Autismus eigentlich sein soll. Besorgte Eltern, die ihren Kindern helfen wollen; Erwachsene, die sich in ihren Spezialinteressen verlieren – hinter der Andersartigkeit und einem starken Bedürfnis nach einer eindeutigen Diagnose verbergen sich oft besondereSchicksale. Was haben sie gemeinsam? Die Wissenschaft sucht bis heute erfolglos nach einer einheitlichen Ursache oder einem fundamentalen Merkmal, der den Wesenskern von Autismus erfasst und beschreibt. Von einem Autismus-Spektrum ist daher die Rede: nicht eine einzelne Sache ist Autismus, sondern eine ganze Reihe von Dingen, die anders sind als bei den meisten Menschen.

Das Phänomen Autismus ist dabei nicht mehr nur Sache der Wissenschaft. Es ist der Deutungshoheit der Psychiatrie, Psychologie und Soziologie entglitten und durch die Selbstvertretung autistischer Personen, darunter auch Forscherinnen und Forscher, zu einem Paradigma geworden, das neben Autismus auch weitere neurologische Veranlagungen wie ADHS, Dyslexie oder Hochsensibilität umfasst: Neurodiversität ist der moderne Begriff, der eine natürliche Vielfalt an neurologischen Varianten beschreibt, die an und für sich nicht gestört oder krank sind, sondern einfach nur anders.

Was sich für manche vielleicht liest, als wolle man so bloß Vorurteile und Diskriminierung abbauen, ist in Wirklichkeit ein Umstand, der inzwischen wissenschaftlich gut belegt ist und in der modernen Forschung viel Aufwind erfährt.

Durch den Überbegriff Neurodiversität eröffnet sich eine neue Welt, die unsere bisherige, defizitäre medizinische Sicht auf Menschen, die anders sind als unser Verständnis von normal, in Frage stellt. Hervorgehoben wird dabei, dass Autismus bloß deshalb als Störung erscheint, weil Psychiatrie und Psychotherapie aus einer neurotypischen (d.h. aus einer als neurologisch normal geltenden) Perspektive darauf schauen.

Warum gibt es immer mehr Autismus-Diagnosen?

Von E. Weidt

Die Zahl der diagnostizierten Fälle von Menschen mit Autismus steigt seit Jahren an. Eine neue Studie aus den USA zeigt, dass vor allem Kinder betroffen sind. Auch Hausarztpraxen sind mittlerweile für das Thema sensibilisiert.

Eine bedeutende Autismusstudie deckt biologisch unterschiedliche Subtypen auf und ebnet so den Weg für präzise Diagnose und Behandlung.

Nicola Davis

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es im Autismus-Spektrum keine klare Abgrenzung gibt. Eine neue Studie, die in Nature Genetics veröffentlicht wurde, deutet darauf hin, dass Gene, die Menschen für Autismus prädisponieren, die sozialen Fähigkeiten in der breiteren Bevölkerung beeinflussen könnten.

ADHS, Autismus und Neurodiversität: Was ist eigentlich normal? | Quarks Dimension Ralph

( https://youtu.be/OE9GYR020E0?si=pixiCOOp4Keim1if )

Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse ‘Alle Menschen sind im Autismus-Spektrum’

Neuere Forschung stützt die Idee, dass autistische Merkmale nicht scharf von „Nicht-Autismus“ getrennt sind, sondern kontinuierlich in der gesamten Bevölkerung verteilt auftreten. Daraus folgt aber nicht, dass „alle Menschen autistisch“ sind, sondern dass es ein breites Spektrum an Ausprägungen gibt, von leichten, weit verbreiteten neurodivergenten Merkmalen bis hin zu klinisch relevantem Autismus mit deutlichem Unterstützungsbedarf.​

Was mit „alle im Spektrum“ gemeint sein kann

Viele Genetik- und Neurowissenschafts-Studien zeigen, dass Varianten, die das Autismus-Risiko erhöhen, in abgeschwächter Form auch bei Menschen ohne Diagnose vorkommen und dort z.B. soziale Kommunikation oder Reizverarbeitung leicht beeinflussen. In diesem Sinn lässt sich sagen, dass die biologischen Grundlagen von Autismus und anderen Formen von Neurodiversität in der ganzen Bevölkerung verteilt sind, statt nur in einer klar abgetrennten „Randgruppe“.​

Der Begriff Neurodiversität fasst dabei verschiedene neurologische Varianten zusammen – etwa Autismus, ADHS, Dyslexie, Tourette, Synästhesie oder Hochbegabung – und versteht sie primär als natürliche Varianz, nicht als defekte Abweichung von einer „richtigen“ Norm. Die klassische defizitorientierte Sicht („Störung“) wird dadurch relativiert, ohne zu leugnen, dass viele Betroffene im Alltag massive Hürden erleben.​

Klinische Diagnose vs. Kontinuum

Aktuelle epidemiologische Daten gehen von etwa 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung aus, die die Kriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) nach ICD‑11/DSM‑5 erfüllen. Diese Diagnosen werden gestellt, wenn die Besonderheiten in Wahrnehmung, Kommunikation, Interessen und Reizverarbeitung so stark sind, dass sie im Alltag dauerhaft zu Beeinträchtigungen führen und Unterstützung nötig ist.​

Gleichzeitig betonen moderne Klassifikationen, dass Autismus dimensional gedacht werden sollte: Es gibt graduelle Unterschiede in sozialen Fähigkeiten, sensorischer Verarbeitung und Flexibilität, nicht zwei getrennte „Arten“ von Menschen. Man kann daher sinnvoll unterscheiden zwischen:​

  • klinisch relevantem Autismus (Diagnose, oft hoher Leidensdruck),
  • breiteren autistischen / neurodivergenten Zügen in der Allgemeinbevölkerung,
  • und eher neurotypischen Profilen, die trotzdem individuelle Besonderheiten haben.​

Warum die Diagnosen zunehmen

Der starke Anstieg von Autismus-Diagnosen in den letzten Jahren wird vor allem auf bessere Aufklärung, erweiterte Diagnosekriterien und höhere Sensibilität in Medizin, Schulen und Öffentlichkeit zurückgeführt. Menschen, die früher als „sonderbar“, „schwierig“ oder einfach „schüchtern“ galten, erhalten heute häufiger eine spezifische Diagnose – insbesondere Frauen und nicht-binäre Personen, die lange untererkannt waren.​

Neue genetische und neurobiologische Studien sprechen außerdem dafür, dass es verschiedene Subtypen von Autismus gibt, die sich in ihrer biologischen Grundlage unterscheiden können. Das passt zu der Beobachtung, dass Autismus sehr unterschiedlich aussehen kann – von nicht-sprechenden Personen mit großem Unterstützungsbedarf bis zu hochfunktionalen, spezialisierten Fachleuten.​

Was das für das eigene Verständnis bedeutet

Die Kernaussage vieler aktueller Arbeiten und neurodiversitätsorientierter Beiträge wie der von dir genannten Quellen ist:

  • Unterschiede in Wahrnehmung und Denken sind normal, weit verbreitet und oft nützlich.​
  • Gesellschaftliche Normen und Umgebungen entscheiden stark mit darüber, ob diese Unterschiede als „Störung“ oder als Variante erlebt werden.​

Wenn du magst, kann der nächste Schritt sein:

  • deine eigenen Wahrnehmungs- und Denkbesonderheiten zu beschreiben,
  • gemeinsam zu sortieren, was eher neurodivergente Merkmale sein könnten,
  • und zu überlegen, welche Anpassungen (z.B. im Alltag oder Beruf) dir konkret helfen könnten – unabhängig davon, ob es eine formale Diagnose gibt.

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