David Ehl
28.10.202528. Oktober 2025
Russlands Staatschef Wladimir Putin prahlt mit dem neuen atomgetriebenen Marschflugkörper Burewestnik – einer “einzigartigen Erfindung” mit “unbegrenzter Reichweite”. Was man über die Waffe wissen sollte.
In dem vom Kreml veröffentlichten Video zum angeblichen Durchbruch bei einer komplett neuen Waffe fällt zuerst auf, was nicht zu sehen ist: Die Waffe selbst. Stattdessen zeigt es den in einem schmucklosen Besprechungsraum erhöht sitzenden Staatschef Wladimir Putin und den schräg darunter sitzenden Generalstabschef Waleri Gerassimow. Beide Männer tragen Tarnanzüge und reden über einen Test des Marschflugkörpers “Burewestnik” (“Sturmvogel”) am 21. Oktober.
Das Besondere: Statt eines konventionellen Raketentriebwerks verfügt die Burewestnik über einen Atomantrieb. “Kein anderer auf der Welt” habe so eine Waffe, sagt Putin. Gerassimow referiert über die “unbegrenzte Reichweite”, die noch über die 14.000 Kilometer hinausgehe, die die Burewestnik in ihrem 15-stündigen Flug zurückgelegt habe. Der Marschflugkörper soll konventionelle oder nukleare Sprengköpfe ins Ziel tragen können. Russland arbeitet bereits seit 2001 an der Waffe; die NATO nutzt für sie den Codenamen “Skyfall”.
Wie denkbar ist ein Einsatz der neuen russischen Rakete?
“Die entscheidenden Tests sind nun abgeschlossen”, verlautbarte Putin. Der norwegische Militärgeheimdienst teilte am Montag mit, der Test sei in der vergangenen Woche vom arktischen Barentssee-Archipel Nowaja Semlja aus gestartet worden. “Wir können bestätigen, dass Russland einen neuen Teststart der Langstrecken-Marschflugkörper Skyfall (Burewestnik) auf Nowaja Semlja durchgeführt hat”, erklärte Vizeadmiral Nils Andreas Stensoenes, Leiter des norwegischen Geheimdienstes, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Doch bedeutet das wirklich, dass die 2018 erstmals vorgestellte Waffe demnächst in Dienst gestellt werden könnte? Daran zweifeln Experten.
Denn es war nicht der erste Test dieser Art. Von 14 bekannten Tests seien nur drei erfolgreich gewesen, 11 seien gescheitert, sagt Carlo Masala, Politik-Professor an der Universität der Bundeswehr in München, der DW.
Etwas abfällig äußerte sich Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz, auf X. Seine Analyse des Kreml-Videos: “Der Zirkus um die Tests der russischen Burewestnik-Rakete dient vor allem dem Ziel, möglichst oft das Wort ‘nuklear’ zu erwähnen.”
Warum redet Russland gerade jetzt über die Burewestnik?
Nach dem Zeitpunkt der russischen Ankündigung gefragt, verweist Carlo Masala zunächst auf Nuklear-Übungen der NATO. Das jährliche Manöver “Steadfast Noon” ist gerade zu Ende gegangen: Zwei Wochen lang trainierten 14 NATO-Staaten mit rund 70 Flugzeugen in einem Übungsgebiet über der Nordsee die Verteidigung des Bündnisgebiets mit Atomwaffen. Auch die russischen Nuklearstreitkräfte hielten parallel eine Übung ab.
Masala sieht noch einen zweiten Anlass: “Die Verkündung des erfolgreichen Tests findet genau dann statt, wenn Donald Trump mit den Sanktionen die Daumenschrauben andreht. Dann noch einmal daran zu erinnern, was man für eine Nuklearmacht ist, gehört ja auch in das Playbook von Putin.” Die USA hatten Strafmaßnahmen gegen russische Ölkonzerne verhängt, nachdem Pläne für ein Treffen zwischen Trump und Putin in Budapest vorerst an der mangelnden Verhandlungsbereitschaft Russlands für eine Beendigung des Ukraine-Kriegs gescheitert waren.
Trump bezeichnete die Raketentests als “nicht angemessen”. Russland solle den Krieg beenden, der statt einer Woche nun fast vier Jahre andauere, “anstatt Raketen zu testen”, sagte der US-Präsident. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wies die Kritik zurück und sagte, Russland werde sich von den eigenen nationalen Interessen leiten lassen.
Könnte die NATO einen Angriff mit Atomkraft-Raketen überhaupt abwehren?
Zumindest laut russischer Darstellung ist die Burewestnik schwer abzufangen. Generalstabschef Gerassimow sprach von “komplexen horizontalen und vertikalen Manövern”, mit denen sie ihre Fähigkeiten beim Ausweichen unter Beweis gestellt habe. Die große Reichweite soll den Marschflugkörper in die Lage versetzen, die Erde mehrere Male zu umrunden und dabei sämtlichen Abwehrstellungen auszuweichen.
Auch Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München sagt, dass die Rakete offenbar “multiple Angriffsvektoren fliegen kann und bis zum Schluss steuerbar ist, was natürlich so ein Abfangen schwieriger macht. Aber es ist jetzt nicht so, dass das die Super-Rakete ist, der man nichts entgegenzusetzen hat”. Denn sie fliege langsamer als Schallgeschwindigkeit. “Damit ist sie potenziell detektierbar und potenziell auch abfangbar.”
Jeffrey Lewis, Experte für Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle am Middlebury Institute of International Studies im kalifornischen Monterey, sagte der Nachrichtenagentur Reuters, die Rakete könne mit ihrer nahezu unbegrenzten Reichweite Abwehranlagen umfliegen. “Andererseits könnte man weitere Abwehranlagen errichten oder Flugzeuge einsetzen, um sie abzufangen. Ich glaube also nicht, dass das System unbesiegbar ist, aber es ist Teil des sich verschärfenden Wettrüstens, in dem wir uns befinden. Sie haben ein neues System entwickelt, und jetzt müssen wir uns etwas einfallen lassen, um es abzuschießen.”
Wie funktioniert ein Atomantrieb – und gab es das schon einmal?
Das Funktionsprinzip der Burewestnik lässt sich – etwas vereinfacht – mit einem konventionellen Düsentriebwerk vergleichen, wie es in Raketen oder Flugzeugen zum Einsatz kommt: Angesaugte Luft wird erhitzt und erzeugt durch die Ausdehnung einen Schub nach vorne. Bei der Burewestnik sorgt statt eines Verbrennungsvorgangs ein Atomreaktor für die Energie. Und weil dafür keine großen Treibstoffmengen transportiert werden müssen, ist die Reichweite ungleich höher.
Die Idee, einen Marschflugkörper atomar anzutreiben, stammt aus dem 20. Jahrhundert: Zwischen 1957 und 1964 entwickelte das US-Militär im “Project Pluto” ein Triebwerk mit ähnlicher Funktionsweise. Das Projekt wurde eingestellt, weil neue Entwicklungen im Bereich der Strahltriebwerke schlicht vielversprechender waren – und dabei keine radioaktiven Abgase ausstießen.
In einem ähnlichen Zeitraum arbeitete Russland auch an einem atomar angetriebenen Langstrecken-Bomber. Letztlich wurde aber auch das Projekt Tu-119 eingestellt, weil es den Ingenieuren nicht gelang, einen ausreichenden Strahlenschutz einzubauen, der nicht zu schwer für ein Flugzeug war.
Wie gefährlich ist die Strahlung der neuen Rakete?
In früheren Einschätzungen zur Burewestnik äußerten einzelne Experten die Sorge, dass ein Atomtriebwerk während des gesamten Flugs Strahlung freisetzen könnte. “Ich bin vorsichtig bei Behauptungen, es sei ein fliegendes Tschernobyl”, reagiert darauf der unabhängige Nuklearexperte Pavel Podvig gegenüber der DW. “Hätte es einen radioaktiven Auslass gegeben, wäre es entdeckt worden.”
Ähnlich sieht es Nikolai Sokov, Senior Fellow am Wiener Zentrum für Abrüstung und Non-Proliferation (VCDNP): “Es war eine schwierige Aufgabe. Offenbar konnte Rosatom so einen Antrieb entwickeln, der im Flug keine ernsthafte radioaktive Strahlung verursacht”, sagt er der DW.
Gefährlicher wäre wohl das Szenario einer Havarie beim Start oder während des Fluges. Der folgenschwerste Unfall im Burewestnik-Projekt ereignete sich Berichten zufolge am 8. August 2019: Auf einem Forschungsgelände am Weißen Meer, 1000 Kilometer nördlich von Moskau, gab es eine Explosion. Fünf Mitarbeiter der russischen Atomgesellschaft Rosatom starben; lokal wurde erhöhte Strahlung gemessen. Mehrere Mitarbeiter waren ins Meer geschleudert worden. Ob es auch Todesfälle durch Strahlung gab, ist unbekannt.
9M730 Burewestnik (Marschflugkörper)
9M730 Burewestnik (russisch Буревестник ‚Sturmvogel‘) ist ein strategischer Marschflugkörper mit Kernenergieantrieb aus russischer Produktion in der Testphase. Im GRAU-Index wird der Flugkörper mit 9M730 bezeichnet. Der NATO-Codename lautet SSC-X-9 Skyfall.
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