Annexion der Krim 2014
Im März 2014 besetzte Russland völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim, veranstaltete am 16. März ein „Referendum“ über den Status der Krim und annektierte sie am 18. März 2014. Russland erzwang die Annexion nach den Euromaidan-Ereignissen, die im Februar 2014 zum Fall der pro-russischen ukrainischen Regierung geführt hatten. Russlands Bruch völkerrechtlicher Verträge wie des Budapester Memorandums von 1994 über die Achtung der bestehenden Grenzen der Ukraine sowie weiterer Grundsätze der KSZE-Schlussakte von 1975, der Charta von Paris 1990 und der NATO-Russland-Grundakte von 1997 verursachte eine internationale Krise. Auch der 2008 verlängerte russisch-ukrainische Freundschaftsvertrag hatte die territoriale Integrität garantiert. In Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung wurde am 27. März 2014 die territoriale Integrität der Ukraine und die Ungültigkeit des von Russland initiierten Referendums festgehalten und die friedliche Beilegung des Konflikts gefordert. Die durch Russland verursachten Spannungen entwickelten sich in der Folge zum Russisch-Ukrainischen Krieg.
Hintergrund
Zugehörigkeit zu der Ukraine und Ansprüche Russlands
Die Krim machte im Laufe der Geschichte eine wechselvolle politische Entwicklung durch; vor der 300-jährigen Osmanischen Herrschaft ab 1475 war sie mongolisches, genuesisches sowie mit dem Fürstentum Theodoro letztes verbliebenes Gebiet des byzantinischen Imperiums. Im Russisch-Türkischen Krieg (1768–1774) geriet die Halbinsel unter russische Kontrolle; auch der Krimkrieg 1853 bis 1856 änderte trotz der russischen Niederlage an der Zugehörigkeit zum Russischen Reich nichts. Auch Phasen der Autonomie gab es immer wieder – so 1917/18 als Volksrepublik Krim und von 1921 bis 1946 als Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Krim. Von 1946 bis 1954 gehörte die Halbinsel innerhalb der Sowjetunion als Oblast zur russischen, danach bis 1991 zur ukrainischen Sowjetrepublik.
Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik im August 1991 zum unabhängigen ukrainischen Staat, zu dem im Rahmen der Rechtsnachfolge auch weiterhin die autonome Krim gehörte.[15] Beim späteren Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine vom Dezember 1991 stimmten 54 Prozent der Wähler in der zur Ukraine gehörenden Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Krim mit „Ja“.[16] Der Krim, die ihrerseits ein Unabhängigkeitsreferendum anstrebte, das Kiew mit erheblichem Druck verhinderte, wurde als Kompromiss 1992 der Status als Autonome Republik Krim innerhalb der Ukraine mit Hoheitsrechten in Finanzen, Verwaltung und Recht zugestanden.[17] Mit dem Budapester Memorandum von 1994 über die Achtung der bestehenden Grenzen der Ukraine sowie weiterer Grundsätze der KSZE-Schlussakte von 1975, der Charta von Paris 1990 und der NATO-Russland-Grundakte von 1997 durch Russland erkannte Russland die Zugehörigkeit der Krim zu der Ukraine an. Auch der 2008 verlängerte russisch-ukrainische Freundschaftsvertrag hatte die territoriale Integrität der Ukraine garantiert.[18][19]
Aber bereits in den Jahren 1992 bis 1994 gab es wegen russischer Abspaltungsversuche der Krim eine Krise zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation, welche als erster postsowjetischer Konflikt gilt. In diesem Rahmen verabschiedete das Parlament der Krim 1992 zwei unterschiedliche Fassungen des Verfassungstextes.[20] Die damalige Sprecherin des russischen Föderationsrates Walentina Matwijenko sprach 2014 von Annexionsplänen für das Jahr 1992, aber ein Referendum sei damals zu schwierig zu organisieren gewesen.[21]
Bevölkerung der Krim
Nach der russischen Eroberung der Krim im 18. Jahrhundert siedelten sich zunehmend Russen und Ukrainer auf der Krim an. Bis Ende des 19. Jahrhunderts stellten die vorwiegend sunnitischen Krimtataren noch die Bevölkerungsmehrheit. Unter Josef Stalin wurde 1944 die gesamte tatarische Bevölkerung, die pauschal der Kollaboration mit den deutschen Invasoren bezichtigt wurde, in die Uralregion, nach Sibirien und nach Usbekistan deportiert und durch neuangesiedelte Russen ersetzt.[22] Tatarische Historiker schätzen, dass bei den Deportationen und Zwangsansiedlungen bis zu 45 Prozent der tatarischen Bevölkerung ums Leben kamen.[23] Den überlebenden Krimtataren und ihren Nachkommen wurde erst 1988 erlaubt, in ihre Heimat zurückzukehren.[22] Ihr Bevölkerungsanteil stieg in der Folge von 1,9 % im Jahr 1989 auf 12,1 % im Jahr 2001 an. Bei der Volkszählung von 2001 bildeten die Russen mit 58,5 % die größte ethnische Gruppe,[24] gefolgt von den Ukrainern mit 24,4 %. Neben den Krimtataren zählen laut der Volkszählung von 2001, auch Belarussen, Tataren, Juden, Deutsche, Armenier, Bulgaren, Griechen, Koreaner u. a. zu den Minderheiten. Russisch ist die dominierende Sprache der Krim; etwa 5 % der Schüler besuchten 2005 ukrainischsprachige Schulen.[25]
Russischer Flottenstützpunkt und NITKA in Saky
Die russische Schwarzmeerflotte ist seit ihrer Gründung 1783 auf der Halbinsel Krim stationiert. Nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 ging ein kleiner Teil der Flotte an die Ukraine und das Land schloss mit Russland 1997 einen Pachtvertrag zur Fortführung des Aufenthalts russischer Streitkräfte auf der Krim.[26] Trotz Bedenken wurde der Vertrag im März 1999 vom ukrainischen Parlament ratifiziert,[27] auch weil er die territoriale Integrität der Ukraine bekräftigte.[28] 2010 wurde der ursprüngliche Pachtvertrag, der 2017 abgelaufen wäre, mit den Charkiw-Verträgen bis 2042 verlängert.[29][30] Im Jahr 2008 hatte der damalige Präsident Wiktor Juschtschenko während des Kaukasuskrieges Russland mit der Sperrung der Krimhäfen gedroht.[31]
Obergrenzen des Vertrags sind 388 Schiffe, 161 Fluggeräte und 25.000 Soldaten.[26] Im Jahr 2010 zählten mehr als 16.000 Soldaten und über 40 Schiffe zur russischen Schwarzmeerflotte.[29] Nach Schätzungen des ukrainischen Außenministeriums befanden sich am 10. März 2014 rund 19.000 russische Soldaten auf der Krim,[32] bei Anwesenheit von nicht mehr als einer Brigade mit 3500 Mann der ukrainischen Armee.[31] Die russische Marine verfügt auf der Krim über 180 km² Fläche, davon 30 km² Hafengelände in Sewastopol.[33]
In Saky, ca. 60 Kilometer nördlich von Sevastopol, befindet sich der Militärflugplatz Saky mit einer Übungsanlage für Marineflieger (NITKA), auf dem Piloten das Starten und Landen auf einem Flugzeugträger der Admiral-Kusnezow-Klasse lernen können. Diese Anlage war und ist einzigartig in der Sowjetunion bzw. Russland und ist unverzichtbar für Russland. Trotzdem begannen die Planungsarbeiten für eine Ersatzanlage auf russischem Boden erst 2009. 2014 und 2022 war die Anlage noch nicht fertiggestellt.
Politischer Umbruch in der Ukraine 2014
Am 21. Februar 2014, nach der Eskalation der Euromaidan-Proteste, unterzeichnete der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch eine Vereinbarung zur Beilegung der Krise mit den Oppositionsführern Vitali Klitschko, Oleh Tjahnybok und Arsenij Jazenjuk. Die von den Außenministern Deutschlands, Polens und Frankreichs, Frank-Walter Steinmeier, Radosław Sikorski und Laurent Fabius vermittelte Vereinbarung sah neben der Entwaffnung rechtsextremer Milizen[34] auch eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit und eine vorgezogene Präsidentschaftswahl vor.[35] Obwohl Putin den Westen später scharf dafür kritisierte, das Abkommen ausgesetzt zu haben, wurde es vom russischen Vermittler Wladimir Lukin nicht unterzeichnet. Lukin deutete an, Putin habe die Vereinbarung nicht gebilligt. Der „Maidan-Rat“ stimmte dem Abkommen mit 34:2 Stimmen zu, dieses wurde am nächsten Tag von der auf dem Maidan versammelten Menge jedoch abgelehnt und Janukowytsch wurde von einem Redner ein Ultimatum gestellt, bis spätestens am nächsten Tag zurückzutreten.[36][37] In der Folge lief ein großer Teil der Polizei und der Sicherheitskräfte zum Maidan über, das bestehende Machtgefüge zerbrach und Janukowytsch setzte sich zunächst nach Charkiw ab, später floh er nach Russland.[38] Am 22. Februar 2014 erklärte das amtierende ukrainische Parlament Janukowytsch für abgesetzt. Unter rein staatsrechtlichen Aspekten betrachtet war das Vorgehen nicht verfassungsgemäß, da der vom Parlament genannte Grund der „Verwirkung der Präsidentschaft durch Verlassen des Landes“ in der Verfassung nicht vorgesehen war.[39] Dennoch erkannten auch alle ehemaligen sowjetischen Republiken außerhalb Russlands die ukrainische Übergangsregierung zumindest implizit an. Russland lehnte eine Anerkennung der Übergangsregierung hingegen explizit ab.[38]
Am selben Tag zeichnete Janukowytsch eine Rede auf, in der er seine Absetzung anprangerte und erklärte, dass er nicht von seinem Amt zurücktreten werde.[40] Janukowytsch bat Putin um ein Treffen, der dafür Rostow am Don vorschlug, doch auf Anweisung der neuen Regierung verhinderten Grenzbeamte seinen Abflug vom Flughafen Donezk. Daraufhin entschied er sich, auf die Krim zu fahren und bat unterwegs Putin um Unterstützung. Die russischen Sicherheitsdienste informierten während der Fahrt Janukowytsch, dass ein Hinterhalt auf ihn lauern würde. Es gibt bis heute (Stand 2023) keine Hinweise auf einen möglichen Überfall auf Janukowytsch, dieser ließ jedoch seine Autokolonne anhalten und wurde von drei russischen Militärhubschraubern auf ukrainischem Gebiet noch vor Erreichen der Krim abgeholt, von denen er zu seiner Überraschung nach Russland und nicht auf die Krim geflogen wurde. Putin erklärte später: „Wir trafen Vorkehrungen, um ihn direkt aus Donezk herauszubringen, auf dem Land-, See- oder Luftweg.“ Janukowytsch forderte, auf die Krim gebracht zu werden und wurde von Anapa an der russischen Schwarzmeerküste auf einen Militärstützpunkt auf der Krim geflogen. Dort traf er auf eine unübersichtliche Situation und nachdem dort die ukrainischen Sicherheitsbehörden mit einem Haftbefehl nach ihm fahndeten, beschloss Janukowytsch die Krim wieder zu verlassen. „Ich fasste den Entschluss, außer Landes zu gehen, als mir klar wurde, dass mein Leben in Gefahr wäre, wenn ich in der Ukraine bliebe“, erklärte Janukowytsch später. Er verließ die Ukraine am Abend des 23. Februar auf einem Schiff nach Russland.[41] Wie später bekannt wurde, hatte Janukowytsch schon am 19. Februar begonnen, Vorbereitungen für seine Flucht zu treffen, noch vor der Eskalation der Gewalt und vor der Unterzeichnung der Vereinbarung mit der Opposition.[40] Videoaufnahmen zeigten, wie er auf seinem Anwesen Bargeld und Wertgegenstände in bereitstehende Lieferwagen verlud.[42]
Arsenij Jazenjuk wurde am 27. Februar vom Parlament als Ministerpräsident der Übergangsregierung bestätigt.[43] Auch drei Mitglieder der rechtspopulistischen Swoboda-Partei wurden ins Kabinett aufgenommen.[34] Das ukrainische Parlament beschloss anschließend eine Reihe von Gesetzesänderungen. Ein Gesetzesentwurf zur Abschaffung des Sprachengesetzes von 2012 wurde durch Übergangspräsident Oleksandr Turtschynow mit einem Veto verworfen. Dieses schon zuvor politisch instrumentalisierte Sprachengesetz berief sich auf die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, obwohl das Russische nie eine „allmählich zu verschwinden drohende […] Regional- oder Minderheitensprache“ gemäß deren Präambel war.[44][45] Zudem garantierte die Verfassung der Autonomen Republik Krim von 1998 die Verwendung der russischen Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, weswegen dort nie vom Sprachengesetz Gebrauch gemacht wurde. Die dennoch entstehende Unsicherheit wurde durch russische Medien durch propagandistische Berichterstattung verstärkt, die sich auch offensichtlicher Fälschungen bediente.[46][47][48]
Nach Meinungsumfragen von Februar bis April 2014 gab es auch auf der Krim keine Mehrheit für einen Anschluss an Russland. Eine Umfrage der „Stiftung für Demokratische Initiativen“ und des „Kiewer Internationalen Institutes für Soziologie“ im Februar ergab, dass landesweit 12 % der Bevölkerung und auf der Krim 41 % einen Anschluss an Russland befürworteten.[49][50]
Russische Propaganda
Russische Unterstützung von Separatismusbestrebungen sei auf der Krim bis auf zehn Jahre zurück bekannt gewesen, so Mykola Rjabtschuk, begann sich jedoch im November 2013 zu einem Informationskrieg zu entwickeln.[51] Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte schrieb im Bericht über die Situation der Menschenrechte in der Ukraine im April 2014, die Propaganda im Fernsehen der Russischen Föderation habe parallel zu den Entwicklungen auf der Krim signifikant zugenommen, darunter auch völkerrechtlich geächtete Hass-Propaganda.[52] Der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Umland sagte Anfang März 2014, die ersten 20 Minuten der russischen Nachrichten seien „teilweise reine Hasspropaganda“ gewesen.[53]
Wirtschaftliche Situation
Die Unterstützung der Bevölkerung der Krim für das Vorgehen Russlands, aber auch in ganz Russland, war direkt von den Erwartungen der wirtschaftlichen Situation abhängig, wie auch vom Versprechen, die bisherigen Renten den russischen anzupassen und somit zu verdoppeln.[54][55] In der Ukraine waren gar Altersrenten wegen des drohenden ukrainischen Staatsbankrotts[56] nicht mehr vollständig ausbezahlt worden. Das Pro-Kopf-Einkommen auf der Krim betrug vor der Annexion weniger als ein Drittel des russischen; der ukrainische Staat hatte gemäß Kritikern zu wenig in die Region investiert.[57] Das jährliche Haushaltsdefizit der Krim wurde im Frühjahr 2014 auf umgerechnet 55 Milliarden Rubel (etwa 1,1 Milliarden Euro) geschätzt.[54]
Öl- und Gasfelder im Schwarzen Meer
Vor der Küste der Krim liegen große, noch nicht erschlossene Öl- und Gasvorkommen.[58] Zur Erschließung des Gasfelds Skifska hatte die ukrainische Regierung Ende 2013 ein Abkommen mit einem internationalen Konsortium angeführt von ExxonMobil geplant, dessen Unterzeichnung jedoch verschoben wurde.[59] Deren russischer Konkurrent Lukoil war 2012 in einem Bieterverfahren unterlegen.[60] Ab 2017 sollten jährlich bis zu zehn Milliarden Kubikmeter Gas gefördert werden; die Ausbeutung aller Offshore-Vorräte hätte etwa ein Fünftel der ukrainischen Gasimporte ersetzen können.[61] Die gesamten Vorräte werden vom ukrainischen Ministerium für Ökologie und natürliche Rohstoffe auf insgesamt bis zu acht Billionen Kubikmeter geschätzt.[62]
Verlauf
Russische Intervention auf der Krim
Machtverlust der Lokalregierung und Russlands Entscheidung zur militärischen Intervention
Am 19. Februar 2014 wurde im Parlament der Autonomen Republik Krim über eine mögliche Verfassungsänderung der Ukraine gesprochen. Das Parlament verabschiedete eine Erklärung, laut der „die aktive Teilnahme der Regionen der Ukraine“ bei den Vorbereitungen für eine Verfassungsänderung zweckmäßig sei. Ein Abgeordneter forderte darüber hinaus die Rückkehr der Krim zu Russland, „wenn sich die Situation in der Ukraine nicht regelt“. Am gleichen Tag reiste der Präsident des Parlaments, Wladimir Andrejewitsch Konstantinow, nach Moskau. Dort sprach er über die Abspaltung der Krim aus der Ukraine per „Aufkündigung der Entscheidung von 1954“ (Beschlusses des Präsidiums des ZK der KPdSU über die Übergabe der Halbinsel Krim von der RSFSR an die ukrainische Unionsrepublik), „wenn das Land auseinanderfällt“. Es bestünde noch die Chance, das Land zu retten. Aktuell würde nicht um die Krim, sondern um Kiew gekämpft; nur wenn dieser Kampf verloren würde, werde die Autonomieregierung der Krim über deren Zukunft entscheiden. Konstantinow behauptete, in Kiew sei faktisch eine ausländische Armee von 5000 Mann zugange, welche praktisch die ganze russische Welt herausfordere. Die Ukraine sei hierbei lediglich eine Etappe. Er sagte, er bitte um ein Eingreifen Russlands, um die Zentralgewalt zu retten.[63] „Ein Referendum werde ‚in der ersten Etappe‘ für den Austritt aus der Ukraine nicht erforderlich sein“, sagte Konstantinow, der aktuell aber nicht anstünde. „Sollten wir uns jetzt mit dem Austritt befassen, werden wir das Land zugrunde richten.“[64]
Weil am 21. Februar 2014 in Kiew gewalttätige Auseinandersetzungen weitergingen, wollten sich am selben Tag Teile des Parlaments der Krim in einer Sitzung an Russlands Präsidenten Wladimir Putin wenden, um Unterstützung zu erbitten. Der parlamentarische Aufruf wurde von außerparlamentarisch organisierten Krimtataren verhindert, indem diese zuvor die Besetzung des Parlaments und die Behinderung der Parlamentsarbeit androhten.[65] In der Folge wurde eine parlamentarische Bitte an Russland nicht ausgesprochen. Auch die Frage einer möglichen Abspaltung der Krim von der Ukraine wurde während der gesamten Parlamentssitzung von keinem Abgeordneten angesprochen.[66]
Am 22. Februar versammelten sich in Putins Amtssitz in Nowo-Ogarjowo Wladimir Putin, der Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation Nikolai Patruschew, Verteidigungsminister Sergei Schoigu und der Stabschef der Russischen Präsidialverwaltung Sergei Iwanow. Nach Angaben von Putin wurde die Entscheidung, russische Truppen auf die Krim zu entsenden, am nächsten Morgen getroffen. Angeblich waren Schoigu, Wladislaw Surkow und das russische Außenministerium gegen eine Militäroperation.[67] Laut dem Politikwissenschaftler Daniel Treisman gibt es Zweifel an der Darstellung Putins, die Entscheidung sei am 23. Februar gefällt worden. Nach Angaben einer Quelle im Umfeld des Kommandeurs der Operation seien russische Spezialkräfte im Hafen von Noworossijsk und der Schwarzmeerflotte in Sewastopol schon am 18. Februar in Alarmbereitschaft versetzt worden. Am 20. Februar erhielten sie den Befehl, in einer „friedenssichernden“ Operation ukrainische Militärstützpunkte auf der Krim zu blockieren. Teilnehmern der Operation wurde später eine Medaille für die Rückholung der Krim überreicht, auf der als Zeitraum der Operation 20. Februar bis 18. März eingraviert war.[68] Durch einen Hackerangriff auf das Mailkonto eines Putin-Beraters wurde später bekannt, dass diese Medaillen schon im Herbst 2013 hergestellt worden waren.[69] In der Nacht vom 21. auf den 22. Februar wurden Marine- und Speznas-Einheiten auf die Krim entsandt und der Flughafen Anapa wurde zum Logistikzentrum der Invasion.[70] Ein Internetportal berichtete, dass 11.000 russische Soldaten per Schiff auf der Krim ankamen.[68] Am 23. Februar wurde der russische Botschafter aus Kiew zurückgezogen und am Tag darauf behaupteten das Außenministerium und Ministerpräsident Dmitri Medwedew, der Euromaidan sei ein vom Westen geförderter Umsturz militanter Ultranationalisten. Die Legitimität des Parlaments und der einige Tage später gewählten Regierung wurden bestritten. Das Leben „unserer Landsleute“ im Osten der Ukraine und auf der Krim sei bedroht und die russische Sprache sei „fast vollständig verboten“ worden.[71]
Öffentlich antwortete Putin noch im März 2014 auf die Frage, ob er erwäge, dass die Krim sich Russland anschließe: „Nein, das erwägen wir nicht.“ Und weiter: „Wir werden eine solche Entscheidung nicht herbeiführen oder solche Gefühle wecken.“ Im Mai 2014 bestritt Putin, dass überhaupt russische Armeeangehörige in das Geschehen dort eingegriffen hätten. Im Juni 2014 gab er es jedoch zu.[72]
Am 26. Februar 2014 kam es beim Parlamentsgebäude in Simferopol zu Zusammenstößen zwischen Anhängern der neuen ukrainischen Führung und prorussischen Demonstranten.[73] Zwei Menschen starben und mehrere dutzend wurden verletzt.[74] Russlands Präsident Putin leugnete die Verstrickung russischer Armeeangehöriger anfangs. Im Juni 2014 wurde bekannt, dass er Landsleute ehrte, die sich um den Anschluss der Krim „verdient gemacht hatten“. Viele hatten eine kriminelle Vergangenheit und waren wegen Wohnungseinbrüchen, Raubüberfällen oder Betrugs einschlägig vorbestraft.[75]
Besetzung des Parlaments
Bewaffnete, die sich selbst als „Selbstverteidiger der russischsprachigen Bevölkerung der Krim“ bezeichneten, besetzten am 27. Februar 2014 das Parlamentsgebäude. Sie forderten von den Abgeordneten die umgehende Festsetzung eines Termins für ein Referendum über die staatliche Zugehörigkeit der Krim.[76][77] Die folgende Sondersitzung war nicht öffentlich,[78] Journalisten wurden ausgeschlossen.[79] Zutritt erhielten nur Abgeordnete, die vom erst im Verlaufe jener Sitzung überhaupt als Chef gewählten, damals noch gewöhnlichen Parlamentsabgeordneten Sergei Aksjonow „eingeladen“ worden waren.[80] Sie wurden durchsucht und mussten ihre Mobiltelefone abgeben.[81] Während der Sitzung waren Bewaffnete mit Panzerfäusten im Saal.[80] Der russische Feldkommandeur Igor Girkin teilte dazu mit: „Es waren die Kämpfer, welche die Abgeordneten zusammengetrommelt und zum Abstimmen gezwungen haben. Ja, ich war einer der Kommandeure dieser Kämpfer.“[82]
Gemäß einer telefonisch[83] und per parlamentarischer Webseite verbreiteten Verlautbarung[84] stimmten 61 von 64 anwesenden Abgeordneten für ein Referendum über die Unabhängigkeit der Krim, welches am 25. Mai 2014 zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine abgehalten werden sollte. Medienrecherchen ergaben jedoch, dass zu wenige Abstimmungsberechtigte anwesend gewesen waren, um das Quorum von 51 Mitgliedern für die Beschlussfähigkeit zu erfüllen; es wurden Stimmen von Parlamentsmitgliedern gezählt, die nach eigenen Angaben nicht anwesend waren.[81] Dies betraf demnach mindestens 10 der abgegebenen Stimmen, für die aus dem Safe des Parlaments entwendete Duplikate der Stimmkarten verwendet worden seien. Manche Abgeordnete, deren Stimmen registriert wurden, seien nach eigenen Angaben nicht einmal in Simferopol gewesen.[84] Die norwegische Zeitung Aftenposten sprach von 36 Anwesenden, ukrainische Quellen von 43 anwesenden Abgeordneten.[85]
In der gleichen Sitzung wurde Anatolij Mohiljow von der Partei der Regionen, seit 8. November 2011 amtierender Ministerpräsident der Krim, abgesetzt und Sergei Aksjonow von der marginalen Partei Russische Einheit zum neuen Ministerpräsidenten ernannt.[86] Aksjonow wurde von der ukrainischen Übergangsregierung nicht als Ministerpräsident der Krim anerkannt; er selbst betrachtete Janukowytsch weiterhin als rechtmäßigen Präsidenten der Ukraine[87] und bat Russland um „Schutz vor gewaltbereiten ukrainischen Nationalisten und Extremisten“.[88]
Ukraine und Russland im Konflikt um die russische Militärpräsenz
Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow (Kabinett Jazenjuk I) bewertete die Ereignisse auf der Krim als bewaffnete Invasion und Besetzung durch die russischen Streitkräfte. Ihm zufolge hätten bewaffnete Einheiten der russischen Schwarzmeerflotte auch den Flughafen Belbek bei Sewastopol blockiert.[89] Nach Angaben der ukrainischen Übergangsregierung landeten am 27. Februar 2014 bis zu 2000 russische Soldaten per Lufttransport auf der Krim. Die russische Regierung bestätigte diese Angaben nicht, der russische Vertreter bei der UNO erklärte in einer Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates in New York, alle Aktivitäten der russischen Truppen bewegten sich im Rahmen des Abkommens über die Stationierung der Schwarzmeerflotte. Der ukrainische Übergangspräsident Oleksandr Turtschynow rief Russlands Präsidenten Wladimir Putin dazu auf, die „nackte Aggression gegen die Ukraine“ umgehend zu stoppen. Turtschynows Sprecher Serhij Kunitsyn sagte am 28. Februar in einem TV-Interview, dieser werde als Interimspräsident sein Veto gegen die Abschaffung des Sprachengesetzes einlegen.[90]
Am frühen Morgen des 28. Februar drangen Bewaffnete in den Flughafen Simferopol ein und besetzten ihn kurzzeitig.[91] Der Flugbetrieb wurde nicht beeinträchtigt.[92] Am 28. Februar bat das ukrainische Parlament den UNO-Sicherheitsrat um Hilfe.[93] Jurij Serhejew, Vertreter der Ukraine bei der UNO, forderte den Sicherheitsrat auf, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die „brutale Aggression der Russischen Föderation“ zu stoppen.[94] Am 1. März 2014 bat der russische Präsident Putin den Föderationsrat um die Erlaubnis für einen Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Dies sei angesichts der außergewöhnlichen Situation notwendig, um russische Bürger sowie die auf der Krim stationierten Streitkräfte zu schützen, bis sich die Lage normalisiert habe. Der Föderationsrat ermächtigte Putin am gleichen Tag zum Einsatz von Truppen.[95]
Der ukrainische Interimspräsident Turtschynow ordnete am Abend des 1. März in einer im Fernsehen direkt übertragenen Rede die Alarmbereitschaft aller ukrainischen Militäreinheiten an. Russland habe für seinen „Akt der Aggression“ keine Grundlage. Meldungen über Gefahren für russische Staatsbürger oder russischsprachige Ukrainer auf der Krim seien frei erfunden.[96] Die ab dem 1. März begonnene russische Abriegelung ukrainischer Militär- und Polizeistationen in offenkundiger Okkupationsabsicht stand nicht im Einklang mit dem russisch-ukrainischen Flottenvertrag, der Einmischungen in innere Angelegenheiten der Ukraine ausschloss. Das ukrainische Parlament forderte daher am 2. März den Rückzug der russischen Truppen.[97] Am 4. März behauptete Putin in einem TV-Interview, nicht russische Truppen, sondern „örtliche Selbstverteidigungskräfte“ hätten die Kontrolle auf der Krim übernommen. Ein Einsatz russischer Truppen in der Ukraine sei bisher nicht notwendig.[98] Verteidigungsminister Sergei Schoigu sagte zu am 5. März vorgehaltenen Bildern russischen Kriegsgerätes der „unbekannten“ Soldaten: „Das ist eine Provokation“. Auf ein Video angesprochen, auf dem sich Uniformierte als Russen bezeichnen, äußerte er „Das ist reiner Quatsch“,[99] und auf die Frage, woher die Panzerwagen Tigr und „Luchs“ kämen, sagte er: „Ich habe keine Ahnung.“[100][101] Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentierte mehrere Fälle, in denen prorussische Milizen, die den sogenannten „Selbstverteidigungskräften“ der Krim zugeordnet wurden, Zivilpersonen misshandelt und proukrainische Aktivisten verschleppt hatten. Nach seiner Verschleppung durch unbekannte Paramilitärs auf dem Leninplatz in Simferopol am 3. März wurde die gefesselte Leiche eines der vermissten Aktivisten am 16. März in einem Waldstück bei Bilohirsk aufgefunden. Die Menschenrechtler forderten Aufklärung über das Schicksal der übrigen Verschleppten und verlangten die Auflösung der Selbstverteidigungskräfte oder ihre Einbindung in die Kommandostruktur und Operationen der regulären Sicherheitsbehörden der Krim, die bis zum Referendum am 16. März nicht gegeben schien.[102][103]
Russische und ukrainische Medien berichteten am 2. März 2014, das Flaggschiff der ukrainischen Marine, die Fregatte Hetman Sahaidatschnyj, habe auf dem Rückweg von Somalia nach Sewastopol die Sankt-Andreas-Flagge der russischen Marine gehisst. Der neue ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk habe die Türkei aufgefordert, das Schiff nicht durch den Bosporus ins Schwarze Meer fahren zu lassen.[104][105] Das ukrainische Verteidigungsministerium widersprach dieser Darstellung. Die Besatzung des Schiffs habe zu keinem Zeitpunkt ihren Eid auf die Ukraine verletzt oder eine andere Flagge gehisst. Die Fregatte befinde sich auf Kreta und werde wie geplant in den nächsten Tagen in ihren Heimathafen zurückkehren.[106] Der vom ukrainischen Übergangspräsidenten Turtschynow am Vortag zum neuen Befehlshaber der ukrainischen Marine ernannte Konteradmiral Denys Beresowskyj unterstellte sich allerdings am 2. März der Regierung der Krim.[107] Die ukrainische Regierung erklärte, ein Verfahren wegen Landesverrats gegen Beresowskyj eröffnet zu haben.[108] Die russische Regierung gab am 3. März dem staatlichen russischen Infrastrukturunternehmen Avtodor den Auftrag zur Gründung einer Tochtergesellschaft zum Bau der Kertsch-Brücke.[109]
Am 4. März 2014 beschloss die OSZE auf Anfrage der Ukraine unbewaffnete Militärbeobachter zu entsenden. Der Zutritt zur Krim wurde den Beobachtern verwehrt.[110] Am 6. März 2014 wurde der im August 2011 außer Dienst gestellte russische U-Jagd-Kreuzer Otschakow der Kara-Klasse von russischen Streitkräften in der Einfahrt des ukrainischen Marinestützpunkts Nowooserne auf der Krim selbstversenkt, um die Einfahrt zu blockieren.[111][112][113] Lediglich die Kostjantyn Olschanskyj und zwei Minensucher entzogen sich zunächst dem Zugriff der russischen Truppen, während die übrigen ukrainischen Schiffe im Hafen von Nowooserne gestürmt oder ihre Mannschaften zum Überlaufen aufgefordert wurden.[114] Am 12. März schloss Turtschynow einen Militäreinsatz auf der Krim aus, damit würde die ukrainische Ostgrenze bloßgelegt.[115]
Nach ukrainischen Angaben seien am 15. März russische Truppen auf der Arabat-Nehrung in die ukrainische Oblast Cherson vorgedrungen. 60 bis 80 Soldaten sollen mit Hubschraubern gelandet sein und eine Erdgasstation bei Strilkowe besetzt haben. Nach Angaben der Regierung der Republik Krim handelte es sich dagegen um Selbstverteidigungskräfte, die die ukrainische Station vor Überfällen schützen wollten.[116] Am 24. März erklärte Turtschynow, die ukrainische Regierung habe den Rückzug ihrer Truppen von der Krim angeordnet.[117]
Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministers Ihor Tenjuch entschlossen sich 4.300 der insgesamt 18.000 ukrainischen Soldaten auf der Krim, sich nicht den russischen Streitkräften anzuschließen, sondern ihren Dienst bei den ukrainischen Streitkräften fortzusetzen.[118] Am 28. März erklärte der russische Verteidigungsminister Schoigu, dass die letzten Kiew-treuen ukrainischen Soldaten die Krim verlassen haben und der Austausch der Staatssymbole von zu Russland gewechselten ukrainischen Schiffen und Militäreinheiten abgeschlossen sei.[119] Am 6. April erschossen russische Soldaten jedoch einen Major der ukrainischen Armee nach einem Streit, während dieser sich mit seiner Familie auf die Abreise in die Ukraine vorbereitete.[120]
Eine Weichenstellung in den innenpolitischen Auseinandersetzungen über den Verbleib der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol sowie des Donbass im ukrainischen Staatsverband markierte am 14. April 2014 der Erlass № 405/2014[121] des Präsidenten der Ukraine, der den Übergang der Ukraine zur militärischen Anti-Terror-Operation (ATO) gegen die Autonomisten auf der Krim und in Sewastopol sowie im Donbass erklärte. Der Erlass wurde von Oleksandr Turtschynow unterzeichnet, der als Rada-Vorsitzender nach dem Sturz von Wiktor Janukowytsch als Präsident der Ukraine amtierte.
Am 16. April 2014 räumte Russlands Präsident Putin in einer Fernsehfragestunde ein, dass russische Truppen auf der Krim einheimische „Selbstverteidigungskräfte“ aktiv unterstützt hatten.[122][123] Am 21. April übergab Russland 13 der 70 ehemals ukrainischen Kriegsschiffe wieder an die Ukraine. Die Schiffe wurden in neutralen Gewässern an die ukrainischen Besatzungen übergeben und nach Odessa überführt. Zuvor waren schon drei Kriegsschiffe an die Ukraine übergeben worden.[124]
Die 76. russische Luftlandedivision erhielt am 18. August 2014 für die Ausführung von Kommandoaufgaben den Suworoworden.[125] Die Gruppe Wagner hatte ihren ersten Einsatz während der Eroberung der Krim.[126]
Referendum und Abspaltung
Der am 27. Februar an die Macht gekommene Ministerpräsident der Krim Aksjonow verkündete am 1. März 2014, das Unabhängigkeitsreferendum bereits am 30. März 2014 abhalten zu wollen.[127] Am 6. März beschloss das Parlament der Autonomen Republik Krim dann eine erneute Vorverlegung des Termins auf den 16. März 2014.[128]
Einschränkungen der Pressefreiheit
Bis zum 7. März wurden auf der Krim die Übertragungen des regionalen ukrainischen Fernsehsenders Black Sea TV auf gleicher Frequenz durch solche von Rossija 24 ersetzt, auch die terrestrischen Signale der Sender Inter, Briz, 1+1, 5 Kanal, Perschyj Natsionalnyj und STB wurden abgeschaltet und durch russische Programme ausgetauscht.[129] Journalisten wurden auf der Krim bedroht, eingeschüchtert und entführt, Ausrüstung beschlagnahmt oder beschädigt.[130] Die Organisation Reporter ohne Grenzen berichtete in der Zeit vor dem Referendum von einem zunehmenden Klima der Zensur auf der Krim.[129][131]
In Russland wurden mehrere regierungskritische Internetseiten abgeschaltet, darunter der Blog des Oppositionellen Alexei Nawalny.[132] Nawalnys Blog wurde am 13. März wieder freigeschaltet.[133] Bereits im Dezember 2013 hatte Putin RIA Novosti als eigenständige Nachrichtenagentur aufgelöst und der staatlich gelenkten Rossija Sewodnja unter Dmitri Kisseljow, der als ideologischer Hardliner und als Verfechter präsidialer autokratischer Tendenzen gilt,[134] eingegliedert.[135]
Russischen Fernsehsendern wurde die Verbreitung von Falschmeldungen über Feuergefechte in Kiew, Überfälle auf prorussische Zivilisten und die Massenflucht russischer Ukrainer vorgeworfen, während sie die Präsenz russischer Truppen auf der Krim in ihren Berichterstattungen ignoriert haben sollen.[136][137] Daraufhin untersagte die ukrainische Aufsichtsbehörde am 11. März die Verbreitung der russischen Fernsehsender Rossija 1, Perwy kanal, NTW und Rossija 24 im ganzen Land. Das russische Außenministerium beklagte, dass man einigen russischen Journalisten die Einreise in die Ukraine verweigert habe.[138] Auch sei gegen russische Journalisten in der Ukraine Druck und Gewalt ausgeübt worden.[139]
Sowohl die Eingriffe in die Pressefreiheit auf der Krim, das Vorgehen gegen unabhängige Medien in Russland und die Abschaltung russischer Fernsehsender in der Ukraine lösten gleichermaßen Kritik internationaler Organisationen aus.
Krimtatarische Medien wurden schikaniert und mit Schließung bedroht. Das Selbstvertretungsorgan der Krimtataren – der Medschlis – wurde systematisch handlungsunfähig gemacht.[140]
Entwicklungen bis zum Referendum
Die ukrainische Regierung unter Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk (Allukrainische Vereinigung „Vaterland“) in Kiew erklärte den Machtwechsel in Simferopol für illegal. Sie bezeichnete das geplante Referendum der Krim ebenfalls als illegal und nicht mit der ukrainischen Verfassung vereinbar – die Regierung der Krim überschreite damit ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen. Interimspräsident Oleksandr Turtschynow erließ daher ein Dekret zur Annullierung der Entscheidung des Parlaments der Autonomen Republik Krim,[141] worauf dieses mit dem Hinweis reagierte, nur das Verfassungsgericht der Ukraine sei befugt, seine Beschlüsse außer Kraft zu setzen.[142] Der deutsche Völkerrechtler Stefan Talmon bezeichnete die Entscheidung des Krimparlaments als „verfassungs- und völkerrechtlich unerheblich, weil sie nicht mit der Verfassung der Ukraine in Einklang steht“.[143][144]
Russlands Präsident Wladimir Putin erklärte zuvor, dass sein Land zwar keinen Anschluss der Krim plane, aber das Volk der Halbinsel darüber frei entscheiden könne.[145] Das Referendum wurde von Moskau und nicht von Simferopol aus organisiert, was vom russischen Außenminister Sergei Lawrow in einem Interview bestätigt wurde, in dem er die Eile wahrheitswidrig mit einem drohenden Krieg erklärte: „Die Banditen kamen bewaffnet in Eisenbahnzügen angereist, mit der Absicht, alle Russen von hier zu vertreiben.“[146] Am 28. Februar brachte die Partei Gerechtes Russland eine Gesetzesvorlage in die russische Duma ein, die die Aufnahme ausländischer Gebiete vereinfachen soll, bei denen keine funktionierende Zentralregierung vorhanden ist.[147][148] Der Stadtrat von Sewastopol, das der Autonomen Republik Krim nicht angehört, stimmte am 6. März 2014 ebenfalls für den Beitritt zu Russland und für die Teilnahme am Referendum vom 16. März.[149][150]
Am 11. März 2014 beschloss das Krimparlament die Schritte, die eingeleitet werden sollen, sollte in dem Referendum für eine Abspaltung von der Ukraine gestimmt werden. Die Unabhängigkeit der Krim inklusive Sewastopols als Republik Krim sollte zunächst erklärt werden, um dann ein Aufnahmegesuch an die Russische Föderation zu stellen.[151] Man wolle ein demokratischer, säkularer und multiethnischer Staat werden und berief sich unter anderem auf das Kosovo-Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 22. Juli 2010 (Rechtsgutachten zur Gültigkeit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos), wonach eine einseitige Unabhängigkeitserklärung nicht gegen das Völkerrecht verstoße.[152] Das in dem Gutachten geforderte Allgemeine Gewaltverbot wird dabei von der neuen Führung der Krim nicht erwähnt. Die Regierung der Krim kündigte zudem an, im Falle einer Loslösung von der Ukraine die auf der Krim befindlichen ukrainischen Flottenstützpunkte und Kraftwerke zu beschlagnahmen. Diese Schritte nahm die Kiewer Zentralregierung zum Anlass, die Regierung der Krim ultimativ aufzufordern, das Referendum bis zum 12. März abzusagen.[153]
Am 13. März 2014 erörterte das ukrainische Verfassungsgericht die Gültigkeit der Entscheidung des Krimparlaments über die Durchführung des Referendums.[154] Das geplante Referendum wurde am 14. März 2014 für unzulässig erklärt.[155]
Das Krimparlament lud die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein, das Referendum zu beobachten.[156] Die OSZE lehnte die Beobachtung ab, weil das Referendum verfassungswidrig sei und keine Einladung des ukrainischen Staates vorliege.[157]
In den Tagen vor dem Referendum gab es eine großangelegte Kampagne für den Beitritt zur Russischen Föderation. Auf Wahlplakaten wurde die Krim mit einem Hakenkreuz und Stacheldraht einer Krim in den Farben der russischen Flagge gegenübergestellt.[158] Auf anderen waren Parolen zu lesen wie „Der Faschismus wird nicht durchkommen. Alle zum Referendum.“[159]
Unabhängigkeitserklärung
Am 11. März 2014 wurde vom Parlament der Krim die dem Referendum vorgreifende Unabhängigkeitserklärung der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol für den Fall eines dahingehenden Ergebnisses des Referendums verabschiedet.[153]
Referendum am 16. März 2014
Am 16. März 2014 fand das Referendum zum Status der Krim statt. Es konnten die beiden folgenden Optionen gewählt werden:[160]
- Sind Sie für eine Wiedervereinigung der Krim mit Russland mit den Rechten eines Subjekts der Russischen Föderation?
- Sind Sie für eine Wiederherstellung der Gültigkeit der Verfassung der Republik Krim von 1992 und für einen Status der Krim als Teil der Ukraine?
Eine Optionsmöglichkeit für das Verbleiben in der Ukraine unter Beibehaltung der bestehenden Verfassung – also für den Status quo vor Beginn der Krise – gab es nicht.[160]
Maßnahmen der Ukraine nach der Abspaltung
Am 12. März 2014 beschloss das ukrainische Parlament die Gründung der ukrainischen Nationalgarde.[161]
Zur Bekämpfung sezessionistischer Bestrebungen in anderen Landesteilen nach dem Vorbild der Krim wurden deren Anführer verhaftet und angeklagt,[162] so etwa der aus Charkiw stammende Mychajlo Dobkin[163] oder der „Volksgouverneur“ von Donezk, Pawlo Hubarjew.[164] Zur Beruhigung der Lage stellte Ministerpräsident Jazenjuk eine Dezentralisierung und mehr Kompetenzen für die Regionen der Ukraine in Aussicht. Dies solle Teil der neuen ukrainischen Verfassung sein.[165]
Am 19. März erklärte das Außenministerium der Ukraine aus Protest gegen das russische Vorgehen, die Präsidentschaft der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die sie damals innehatte, mit sofortiger Wirkung ruhen zu lassen.[166] Am selben Tag kündigte Andrij Parubij die Einführung einer Visumspflicht für russische Staatsbürger an.[167] Am 20. März sprach sich Jazenjuk jedoch gegen die Visumspflicht aus, weil an der Beibehaltung des visumfreien Verkehrs eine große Zahl der Bürger in erster Linie im Süden und Osten des Landes, die in Russland arbeiten oder Verwandte haben, interessiert sei.[168]
Am 14. April 2014 erging der Erlass № 405/2014 zur Aufnahme einer militärischen Anti-Terror-Operation (ATO) gegen die Aufrührer im Donbass, auf der Krim und in Sewastopol[169] des Präsidenten der Ukraine. Der Erlass wurde von Oleksandr Turtschynow unterzeichnet, der als Rada-Vorsitzender nach der Flucht von Wiktor Janukowytsch als Präsident der Ukraine amtierte.[170]
Am 23. Dezember 2014 beschloss das Parlament, die in der Verfassung festgeschriebene Bündnisfreiheit der Ukraine aufzuheben.[171] Die Ukraine schaltete auf der Halbinsel Krim aus Protest über die Einverleibung der Krim durch Russland zeitweise den Strom ab; am 26. Dezember wurden auch die Zug- und Busverbindungen vom Festland unterbrochen.[172]
Der Nord-Krim-Kanal speist sich aus dem Dnepr und leitete früher Trinkwasser auf die Krim. Nach 2014 hat die Ukraine kurz vor dem Kontrollpunkt Kalantschak einen beweglichen Sperrriegel in den Kanal gebaut und ihn an anderer Stelle mit einem Wall gestaut. Der Kanal verschilfte dort.[173]
Aufnahme durch Russland und Eingliederung
Bereits einen Tag nach dem Referendum erklärte der Chef der Abstimmungskommission, es gäbe eine Zustimmung von 96,77 % der Wählerstimmen für einen Beitritt zu Russland.[174] Der von Putin eingesetzte Rat für Menschenrechte stellte versehentlich eine interne Analyse auf seine Website nach der die Wahlbeteiligung bei 30 bis 50 % gelegen habe und 50 bis 60 % für den Anschluss an die Krim gestimmt hätten.[175] Offizielle in Sewastopol verkündeten eine Wahlbeteiligung von 123 % der registrierten Wähler.[176] Ministerpräsident Aksjonow kündigte an, dass gleich am Folgetag ein Aufnahmegesuch an den russischen Präsidenten Putin gerichtet würde.[177] Am auf das Referendum folgenden 17. März 2014 beschloss das Regionalparlament in Simferopol folgende Maßnahmen:[178]
- Zeitumstellung ab 30. März auf Moskauer Zeit;
- Rubel wird Zweitwährung, ukrainische Währung Hrywnja sollte am 1. Januar 2016 auslaufen (per Oktober 2017 weiter ukrainische Währung)
- Verstaatlichung der Öl- und Gaswirtschaft, beginnend mit Tschornomornaftohas.
Aksjonow teilte mit, das Schicksal der verbliebenen ukrainischen Truppen auf der Krim hänge davon ab, ob sie Russland die Treue schwören würden. Die Soldaten, die das ablehnten, müssten die Krim verlassen, man würde ihnen freies Geleit anbieten.[179]
Der russische Präsident Wladimir Putin hielt am 18. März 2014 eine Rede zur Annexion der Krim. Noch am selben Tag unterzeichnete er zusammen mit dem Ministerpräsidenten der Republik Krim Sergei Aksjonow, dem Parlamentsvorsitzenden Wolodymyr Konstantynow sowie dem Vorsitzenden des Koordinationsrates zur Organisation der Stadtverwaltung von Sewastopol, Alexei Tschaly, einen Beitrittsvertrag der Krim zu Russland und kündigte an, es werde zwei neue Föderationssubjekte geben.[180][181][182] Das Presseamt der russischen Regierung teilte hierzu mit, die Krim sei „ab dem heutigen Tag Bestandteil der Russischen Föderation“.[183] In einem Fernsehinterview erklärte der russische Staatschef Putin, einer der Gründe für die Angliederung der Krim sei der Ausbau der militärischen Infrastruktur an den Grenzen Russlands im Zuge der NATO-Osterweiterung. Russland sei vom Schwarzen Meer abgedrängt worden.[184]
Putin behauptete zur Rechtfertigung der Intervention, er habe „Erklärungen aus Kiew über einen baldigen NATO-Beitritt der Ukraine gehört“. Dabei ließ er aus, dass diese öffentlichen Erklärungen ukrainischer Politiker erst abgegeben worden waren, nachdem russische Truppen auf der Krim erschienen waren. Tatsächlich hatte die Ukraine unter der Janukowytsch-Regierung 2010 ein Gesetz verabschiedet, das dem Land die Teilnahme an einem Militärblock untersagte. Während des NATO-Gipfels in Bukarest im April 2008 wurde der Ukraine nach einer Intervention von Deutschland, Frankreich und Großbritannien ein „Aktionsplan für die Mitgliedschaft“ (englisch Membership Action Plan, MAP) verwehrt. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel lehnte Schritte in diese Richtung ab und US-Präsident Barack Obama unternahm im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger keine Maßnahmen in Richtung NATO-Betritt der Ukraine. NATO-Generalsekretär Anders Rasmussen erklärte im Oktober 2013, dass die Ukraine 2014 definitiv nicht der NATO beitreten werde. Von 2009 bis 2014 spielte nach Angaben von Michael McFaul eine Erweiterung der NATO in Besprechungen zwischen Obama und Medwedew oder Putin keine Rolle.[185] In einer Rede am 18. März 2014 versuchte Interims-Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk sowohl Russland als auch den Ukrainern im Südosten zu versichern, dass eine NATO-Bewerbung der Ukraine „nicht auf der Tagesordnung“ stehe.[186]
Der russische Staatskonzern Gazprom beantragte ebenfalls am 18. März die Förderkonzession für Öl- und Gasvorkommen vor der Küste der Krim, die sich nach Auffassung der Krimregierung nach dem Referendum nicht mehr in ukrainischem Besitz befinden.[187]
Das russische Verfassungsgericht stellte am 19. März die Übereinstimmung des Abkommens mit der russischen Verfassung fest.[188] Am 20. März stimmte die Duma mit 433 Ja- und einer Neinstimme für die Aufnahme der Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation. Die Gegenstimme kam von Ilja Ponomarjow, der bekannt gab, gegen den Krieg opponiert zu haben.[189] Am Tag darauf hatte auch der Föderationsrat den Vertrag gebilligt.[190] Damit wurden die Republik Krim und die Stadt Sewastopol innerhalb der föderalen Gliederung Russlands zu zwei neuen Föderationssubjekten, die beide Teil des ebenfalls neu gegründeten Föderationskreises Krim sind.[191]
Das russische Außenministerium gab am 31. März bekannt, dass Ausländer für einen Besuch der Krim künftig ein russisches Visum benötigen.[192][193] Das ukrainische Außenministerium sagte am Tag darauf, nur diplomatische Vertretungen der Ukraine könnten Visa für die Krim ausstellen. Wer diese Bestimmungen nicht einhalte, dem drohten Sanktionen wegen „Unterstützung der zeitweiligen Besetzung ukrainischen Territoriums“.[194]
Die Grenze der Krim wurde schon vor dem Referendum vermint.[195] Am 18. März 2014 wurde nach Angaben des Sprechers des ukrainischen Verteidigungsministeriums der ukrainische Praporschtschik (ein höherer Unteroffizier) S. W. Kakurin durch einen Schuss tödlich verletzt. Prorussische Einheiten hätten den Stützpunkt, auf dem sich der Vorfall ereignete, besetzt. Interims-Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk genehmigte daraufhin den Schusswaffeneinsatz für ukrainische Streitkräfte auf der Krim, sollten sie angegriffen werden. Eine Polizeisprecherin auf der Krim gab an, dass auch ein Mitglied der „Selbstverteidigungskräfte“ (prorussische Miliz) getötet wurde. Der Milizionär sei wie der ukrainische Soldat durch einen bisher nicht identifizierten Heckenschützen getötet worden.[196]
Unmittelbar nach der Machtübernahme strich Viktor Iwanow, Chef der russischen Drogenkontrollbehörde, den Abhängigen auf der Krim das dortige Methadonprogramm für 800 Drogenkonsumenten, das die Ukraine aufgebaut hatte. Durch die Änderung auf die russische Drogen- und Gesundheitspolitik verschlimmert sich die HIV-Epidemie auch wieder auf der Krim.[197][198]
Der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew kündigte am 31. März 2014 an, auf der Krim eine Sonderwirtschaftszone zu errichten. Gehälter und Renten sollen angehoben, das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die örtliche Infrastruktur verbessert werden.[199] In der Regierung der Russischen Föderation wurde am gleichen Tag der Posten eines Ministers für Krim-Angelegenheiten neu geschaffen und mit Oleg Saweljew besetzt.[200] Am 2. April 2014 wurde die Halbinsel Krim in den Militärbezirk Süd eingegliedert.[201] Nach einer Übergangszeit bis zum 1. Januar 2015 sollten die Kreditinstitute auf der Krim der Aufsicht der Russischen Zentralbank unterstellt werden. Deren stellvertretender Vorsitzender Alexei Simanowski sagte, man werde solche Banken, die ihre Verpflichtungen gegenüber Kunden nicht erfüllten, zeitweise schließen.[202] Knapp einen Monat nach dem Beitritt gab die Krim sich eine neue Verfassung, nach der sie als „unabänderlicher Teil der Russischen Föderation“ bezeichnet wird. Amtssprachen sind Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch.[203]
Der Erste Stellvertretende Ministerpräsident der Krim Rustam Temirgalijew verkündete, die Landnahme durch Krimtataren, die nach dem Ende der Sowjetunion erfolgt war, teilweise rückgängig machen zu wollen. Die Tataren müssten das Land verlassen, da es für nicht näher definierte soziale Zwecke benötigt werde. Man sei jedoch bereit, einen anderen Teil des tatarischen Grundbesitzes zu legalisieren.[204] Am 3. Mai stürmten 5000 Krimtataren die Grenze zwischen dem ukrainischen Festland und der Krim-Halbinsel, obwohl Spezialkräfte versuchten, die Grenze abzusichern. Sie wollten damit ihrem Anführer Mustafa Abduldschemil Dschemilew die Einreise auf die Krim ermöglichen, die ihm von Russland untersagt worden war.[205][206][207] Die russischen Strafverfolgungsbehörden führten Strafprozesse gegen mehrere Dutzend Krimtataren, die die ihnen zwangsweise verliehene russische Staatsbürgerschaft nicht akzeptieren wollten. Inhaftiert wurden wegen angeblichen Terrorismus auch Teilnehmer von Protestaktionen der Krimtataren.[208]
Am 1. Juni 2014 wurde der russische Rubel zur einzigen offiziellen Währung auf der Krim, die ukrainische Hrywnja erhielt den Status einer ausländischen Währung.[209]
Konfrontation 2018 um die Meerenge von Kertsch
Seit der Besetzung der Krim behindert Russland den ukrainischen und internationalen Schiffsverkehr im Asowschen Meer (vgl. Abschnitt „Schiffsverkehr“). Schiffe können das Asowsche Meer nur über die Meerenge von Kertsch befahren, die das Gewässer mit dem Schwarzen Meer verbindet.[210][211] Gemäß dem 2003 von den Präsidenten Putin und Kutschma abgeschlossenen Vertrag zur gemeinsamen Nutzung des Asowschen Meeres dürfen Handels- wie Kriegsschiffe beider Länder die Meerenge frei benutzen.[212] Am 25. November 2018 beschoss die russische Küstenwache, die dem Inlandsgeheimdienst FSB unterstehen, einen Schlepper und zwei Patrouillenboote vom Typ Hjursa der ukrainischen Marine, die auf dem Weg von der ukrainischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer nach Mariupol am Asowschen Meer waren.[213][214] In den Monaten zuvor hatte es zunehmend Fälle von durch Russland aufgebrachten Frachtschiffen gegeben und die Ukraine hatte infolgedessen begonnen, zur Gewährleistung des sicheren Handelsverkehrs im Asowschen Meer dort eine Marinebasis aufzubauen.[215] Am 25. November sollten daher planmäßig, und laut ukrainischen Angaben angekündigt, ein Schlepper und zwei Patrouillenboote von Odessa nach Mariupol verlegt werden.
Um Mariupol anzulaufen, mussten die drei Schiffe die Meerenge von Kertsch durchqueren. Zuerst rammte ein russisches Schiff den ukrainischen Schlepper, später wurden die ukrainischen Schiffe im Schwarzen Meer beschossen. Anschließend stürmten russische Spezialeinheiten die Schiffe, beschlagnahmten sie und nahmen 23[216] oder 24[217] ukrainische Matrosen fest.[214][213] Nach ukrainischen Angaben wurden sechs Matrosen verletzt, der FSB sprach von drei Verwundeten.[218] Am folgenden Tag bestätigte der FSB, dass ukrainische Schiffe im Schwarzen Meer mit Waffengewalt gestoppt und geentert wurden.[219][220] Russland sperrte die Meerenge von Kertsch, indem es einen Tanker direkt unter der Krim-Brücke positionierte und so die Durchfahrt für ukrainische Schiffe blockierte.[218] Russland setzte darüber hinaus Militärschiffe und -hubschrauber sowie Kampfflugzeuge ein, um ukrainische Schiffe an der Durchfahrt zu hindern.[218][221]
2003 hatten Russland und die Ukraine einen Vertrag über die gemeinsame Nutzung des Asowschen Meeres unterzeichnet, der das Meer als inneres Gewässer beider Staaten definiert. Er garantiert den Schiffen beider Länder die freie Durchfahrt.[222] Darüber hinaus dürfen nach den Regeln des internationalen Seerechtsübereinkommens von 1982, dem sowohl Russland als auch die Ukraine beigetreten sind, Schiffe die Meerenge von Kertsch frei passieren – auch ohne die Zustimmung der Anliegerstaaten.[223] Seit der Annexion der Krim sieht Russland die Meerenge zwischen dem Asowschen und Schwarzen Meer jedoch als sein alleiniges Hoheitsgebiet[213] und warf der Ukraine vor, die territorialen Gewässer Russlands verletzt zu haben. Da es sich um die Küste der Krim handelt, beansprucht die Ukraine diese als eigene. Das Schwarze Meer, in dem die Schiffe beschossen wurden, ist für die Schifffahrt frei.[216][224] Noch im September hatte eine angemeldete Verlegung ukrainischer Schiffe durch die Meerenge nach Artikel 18 und 19 der UNO-Seerechtskonvention funktioniert.[225] In einer von Kiew und Moskau initiierten Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates am 26. November wurde Russlands Sichtweise, die Ukraine habe durch die Verlegung ukrainischer Schiffe in ukrainische Häfen russische Grenzen verletzt, mehrheitlich abgelehnt.[226][227]
Aufgrund des Zwischenfalls und wegen angeblicher geheimdienstlicher Informationen, dass Russland einen großen Landangriff vorbereite, beantragte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko beim Parlament die Verhängung des Kriegsrechts für 30 Tage, beginnend am 28. November um 9 Uhr Ortszeit in den zehn Regionen mit Grenze zu Russland und Transnistrien, das unter russischer Kontrolle steht.[217][224][228] Das Parlament stimmte dem Antrag zu.[224] Die Vereinigten Staaten,[229] die drei baltischen Staaten,[230][231][232] Schweden,[233] Tschechien,[234] Rumänien,[235] die Türkei,[236] die Europäische Union, Großbritannien, Frankreich, Polen, Dänemark und Kanada verurteilten das russische Vorgehen.[217] Russland folgte Aufrufen anderer Länder nicht, die festgehaltenen ukrainischen Matrosen und Schiffe freizugeben,[217] und stellte sich auf den Standpunkt, die gefangenen Seeleute wären nicht Kriegsgefangene, sondern Kriminelle.[237] Deutschland rief Russland und die Ukraine zur Mäßigung auf und kritisierte die Vorführung ukrainischer Gefangener im russischen Fernsehen.[238] Die österreichische Außenministerin Karin Kneissl äußerte: „Wir verfolgen die russische Militäraktion in der Straße von Kertsch mit großer Besorgnis“.[239]
Am 30. November gab der Chef des ukrainischen Grenzdienstes, Petro Tsygykal, bekannt, männlichen russischen Staatsbürgern im Alter zwischen 16 und 60 Jahren sei die Einreise verboten. Der ukrainische Präsident Poroschenko erklärte, die verweigerte Einreise ziele darauf ab, Russen daran zu hindern, „private Armeen“ zu bilden, die auf ukrainischem Boden kämpfen.[240]
Bekräftigung der Ansprüche durch die Ukraine
Die politischen Anstrengungen der ukrainischen Regierung zur Wiedereingliederung der Autonomen Republik Krim und Sewastopols in den ukrainischen Staatsverband widerspiegelten sich in der ‘Militärstrategie der Ukraine’ der Jahre 2015 und 2020. Im Februar 2021 ist die „Strategie der militärischen Sicherheit der Ukraine“ (`Militärstrategie’ 2021)[241] in Kraft. Am 24. März 2021 von Präsident Selenskyj durch den Erlass № 117/2021 der Beschluss des Rates für Nationale Sicherheit und Verteidigung der Ukraine vom 11. März 2021 sowie die „Strategie zur Beendigung des Besatzungsregimes und der Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Territoriums der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ bestätigt und deren Umsetzung angeordnet.[242][243] Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vom Februar 2022 bekräftigte Selenskyj mehrfach, dass eines der Kriegsziele der Ukraine die Rückholung der Krim sei; dies wurde insbesondere nochmals hervorgehoben, als am 9. August 2022 mehrfache Explosionen schwere Schäden auf einem russischen Militärflugfeld bei Saky verursachten, und somit erstmals Kriegsziele auf der Krim angegriffen worden waren, obgleich die Ukraine sich nicht offiziell zu den Schlag bekannte und Russland von einem Unfall sprach.
Internationale Reaktionen
Alle Vertreter der G8-Staaten (außer Russland) sowie die Präsidenten des Europarates und der EU-Kommission erklärten am 12. März 2014, das geplante Referendum der Krim nicht anerkennen zu wollen. Eine russische Annexion der Krim würde die Charta der Vereinten Nationen sowie Russlands Verpflichtungen aus der Helsinki-Schlussakte von 1975, aus dem Freundschaftsvertrag und dem Flottenstationierungsvertrag mit der Ukraine von 1997 und aus dem Budapester Memorandum von 1994 verletzen.[244][245][246][247] In Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung wurde am 27. März 2014 die territoriale Integrität der Ukraine und die Ungültigkeit des von Russland initiierten Referendums festgehalten und die friedliche Beilegung des Konflikts gefordert.[248]
OSZE
Der Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Didier Burkhalter, kündigte die Entsendung des Beauftragten Tim Guldimann auf die Krim an.[249] Ein einwöchiger Besuch unbewaffneter Militärbeobachter begann am 5. März 2014 in Odessa.[250] Am 8. März 2014 wurden zivile und militärische Beobachter der OSZE von prorussischen bewaffneten Einheiten an einem Kontrollposten bei Armjansk daran gehindert, die Krim zu betreten.[251] Nach OSZE-Angaben schossen die bewaffneten Männer in die Luft, es sei niemand verletzt worden.[251][252] Prorussische Bewaffnete hatten den Beobachtern auch am 6. und 7. März an anderen Kontrollposten den Zugang zur Krim verwehrt. Die Aufgabe der OSZE-Beobachter war es, die militärischen Aktivitäten Russlands in der Ukraine zu beobachten.[251] Die Mission wurde auf Bitte der Ukraine zunächst bis zum 16. März, dann bis zum 20. März verlängert.[253]
Europarat
Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, sagte am 11. März, dass er keine Beweise für eine Gefährdung der russischsprachigen Bevölkerung der Krim sehe.[254] Das Ministerkomitee des Europarates unterstrich am 14. März die Wichtigkeit, eine politische Lösung der Krise anzustreben.[255] Die für verfassungsrechtliche Fragen zuständige „Venedig-Kommission“ des Europarats befand das Referendum auf der Krim für illegal: Weder ließen die Verfassung der Ukraine noch die Verfassung der Region Krim eine Volksabstimmung über eine Sezession zu. Die Umstände der Abstimmung widersprachen demokratischen Standards.[256] Am 10. April 2014 entzog die Parlamentarische Versammlung des Europarates den 18 Vertretern der Russischen Föderation bis zum 26. Januar 2015 das Stimmrecht. Ferner darf Russland während dieses Zeitraums nicht an Beobachtungsmissionen teilnehmen und ist aus dem Bureau of the Assembly, dem Presidential Committee und dem Standing Committee ausgeschlossen. Nach einer dreistündigen Debatte wurde die Resolution mit 145 Stimmen bei 21 Gegenstimmen und 22 Enthaltungen angenommen.[257] Das Verhalten Russlands wurde als eindeutiger Verstoß gegen das Budapester Memorandum bezeichnet. Durch die Missachtung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine habe Russland die Stabilität und den Frieden in Europa gefährdet.[258] Die russischen Delegierten unter Führung von Alexej Puschkow verließen den Sitzungssaal und boykottierten die Debatte.[259]
Europäische Union
Die Europäische Union ist mit der Ukraine über die Östliche Partnerschaft verbunden. Am 13. März 2014 verurteilte das Europäische Parlament in einer nicht legislativen Entschließung die Invasion der Krim.[260] Es forderte den unverzüglichen Rückzug derjenigen russischen Streitkräfte, die rechtswidrig auf dem Gebiet der Ukraine stationiert sind. Die russischen Vorwürfe seien unbegründet. Die Abgeordneten forderten die ukrainische Regierung auf, die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten, einschließlich der Rechte der russischsprachigen Ukrainer, uneingeschränkt zu schützen. Sie verlangten die Einführung einer neuen weitreichenden Sprachenregelung, durch die alle Minderheitensprachen gefördert werden. Die zwischen dem Europäischen Parlament und der russischen Staatsduma sowie dem Föderationsrat bestehende Zusammenarbeit könne nicht wie bisher fortgeführt werden.
Am 21. März kam es in Brüssel zur Unterzeichnung des politischen Teils des mit der Ukraine ausgehandelten Assoziierungsabkommens. Der wirtschaftliche Teil wurde nicht gebilligt. Grund sind Bedenken, dass Russland als Reaktion darauf den zollfreien Import aus der Ostukraine stoppen könnte, wodurch sich die Krise in der Ukraine verschärfen würde.[261]
NATO
In Brüssel kam am 2. März 2014 der Nordatlantikrat in einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um über die Lage in der Ukraine zu beraten. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen beschuldigte Russland eines Bruchs des Völkerrechts. Russland müsse deeskalieren und seine Streitkräfte zurück in ihre Basen rufen.[262] Die Ukraine ist wie Russland ein Partnerland der NATO. Rasmussen forderte ein baldiges Treffen des NATO-Russland-Rates sowie die Einleitung eines politischen Dialogs unter der Schirmherrschaft der UNO oder der OSZE.[263]
Es wurde entschieden, AWACS-Flugzeuge über Polen und Rumänien einzusetzen, um den Luftraum im Krisengebiet überwachen zu können.[264]
Vereinigte Staaten
Der US-amerikanische Präsident Barack Obama zeigte sich „zutiefst besorgt“ über das russische Vorgehen. Jede Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine werde einen Preis haben, erklärte Obama.[265] US-Außenminister John Kerry drohte mit einer Absage des für Juni 2014 geplanten G8-Gipfels in Sotschi. Russland könne seine Mitgliedschaft in der Gruppe der Acht verlieren.[266] Des Weiteren stellte er fest, dass Russland seine Verpflichtungen aus dem trilateralen Budapester Memorandum nicht eingehalten habe. Darin hatten Russland, Großbritannien und die USA Zusicherungen für die territoriale Integrität der Ukraine gegeben, die im Gegenzug alle atomaren Waffen aus ehemals sowjetischen Beständen nach Russland auslieferte. Daher wurde für den 5. März 2014 ein Treffen der Außenminister nach Art. 6 des Memorandums in Paris anberaumt. Russland lehnte die Teilnahme ab. Die USA, Großbritannien und die Ukraine trafen sich und kamen überein, dass direkte Gespräche erforderlich seien und internationale Beobachter in der Ostukraine und auf der Krim stationiert werden sollten.[267]
Der Zerstörer USS Truxtun (DDG-103) wurde ins Schwarze Meer verlegt[268] und die militärische Zusammenarbeit mit Russland wurde suspendiert.[269]
Am 24. März 2014 schlossen die übrigen Mitglieder Russland aus der G8 aus und wurden so wieder zur G7.[270]
Vereinigtes Königreich
Der Außenminister William Hague warnte vor einer Teilung der Ukraine.[271] Am 3. März stellte er zudem fest, dass die Krim bereits unter völliger Kontrolle Russlands sei.[272] Er sehe die aktuelle Situation als „die größte Krise des 21. Jahrhunderts“. Trotzdem erwarte er eine starke Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft. Die Grundlagen für die Zusammenarbeit im G8-Gremium seien geschädigt worden.[273]
Premierminister David Cameron teilte mit, Russland habe die Souveränität und staatliche Einheit der Ukraine verletzt.[274] Daher werde er wie auch Prince Edward, Earl of Wessex, der Schirmherr des britischen Behindertensportverbands, nicht zu den Winter-Paralympics 2014 in Sotschi reisen.
Nach einem Regierungsdokument, das auf offener Straße fotografiert worden war, möchte die britische Regierung Wirtschaftssanktionen gegen Russland vermeiden, die russischen Handel am Finanzplatz London gefährden. Zudem soll in allen Gremien von der Möglichkeit militärischer Vorbereitungen abgeraten werden. Europa solle zudem nach alternativen Gas- und Ölliefermöglichkeiten für die Ukraine suchen, falls Russland sie abschneide.[275]
Deutschland
Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sah Anfang März 2014 den Vorschlag von Kerry, Russland zur Not aus der G8 auszuschließen, skeptisch: Man sollte zur Deeskalation in der Ukraine beitragen und nicht jede mögliche Verschärfung herbeireden, die im Zweifel nicht helfen werde.[276] Eine Woche später kündigte er die nächste Stufe der EU-Sanktionen an, wenn sich Russland in Gesprächen nicht bewege.[277]
Bundeskanzlerin Angela Merkel warf Putin am 2. März in einem Telefonat vor, mit der „unakzeptablen russischen Intervention auf der Krim gegen das Völkerrecht verstoßen zu haben“.[278] Außerdem habe Russland gegen den Vertrag über die Schwarzmeerflotte von 1997 verstoßen.[279] Putin teilte diese Sichtweise nicht, akzeptierte jedoch Merkels Vorschlag bezüglich der umgehenden Einrichtung einer Fact Finding Mission sowie einer Kontaktgruppe, um einen politischen Dialog zu beginnen.[278] Merkel warf Russland in einer Regierungserklärung am 13. März 2014 vor, sich nicht als „Partner für Stabilität“ erwiesen zu haben, sondern die Schwäche des Nachbarlandes Ukraine ausgenutzt zu haben. Dem „Recht des Stärkeren“ stünde die „Stärke des Rechts“ gegenüber. Russland habe einen „eindeutigen Bruch grundlegender völkerrechtlicher Prinzipien“ begangen. Sollte es nicht sehr bald „auf den Weg des Rechts und der Zusammenarbeit“ zurückkehren, werde dies Russland politisch und wirtschaftlich massiv schaden.[280][281]
Die von der EU im März 2014 verhängten Sanktionen gegen Russland wurden von drei der vier im 18. Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen befürwortet. Die Ausnahme bildete die Partei Die Linke.[282][283][284]
Der freundschaftlich mit Putin verbundene frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder verurteilte erstmals im Januar 2021 das russische Vorgehen als „Bruch des Völkerrechts“. Er lehne Sanktionen ab, weil er „nicht sehe, was sie erreichen können.“ Es werde keinen russischen Präsidenten geben, „der die Krim wieder rausrückt“.[285]
Schweiz
Die Schweiz schloss sich den Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland nicht an. Umgehungsgeschäfte via Schweiz sollten aber vermieden werden. Außerdem beschloss sie einen Bewilligungsstopp für Ausfuhren von Kriegsmaterial sowie für gewisse Dual-Use-Güter nach Russland und in die Ukraine, Meldepflichten betreffend Russland für Güter und Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Erdölförderung sowie für Finanzdienstleister, dazu ein Verbot neuer Geschäftsbeziehungen für den Finanzsektor. Eine geplante Wirtschaftsmission wurde 2014 abgesagt.[286] Nachdem selbst die boykottierenden EU-Staaten solche Missionen durchgeführt hatten, reiste der Wirtschaftsminister 2017 erstmals wieder nach Russland.[287]
Volksrepublik China
Am 4. März 2014 betonte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums: „China hält sich immer an den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder und respektiert die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine“, berücksichtige aber gleichzeitig „die historischen und gegenwärtigen Faktoren der Ukraine-Frage“.[288]
Eine Woche vor dem geplanten Krim-Referendum rief der Außenminister der Volksrepublik China, Wang Yi, alle Seiten zur Mäßigung im Ukraine-Konflikt auf: „Es ist bedauerlich, dass es zu der heutigen Situation in der Ukraine gekommen ist, doch ist es kein Zufall, dass dieser Punkt erreicht wurde“, sagte er bei einer Pressekonferenz in Peking. Die Krise sei kompliziert, Vorrang aber habe jetzt, dass „Gelassenheit und Zurückhaltung geübt und verhindert wird, dass die Situation weiter eskaliert.“ Sanktionen der USA und der EU gegen Russland lehnte er grundsätzlich ab. Wang beschrieb die Beziehungen zwischen China und Russland als in der besten Phase ihrer Geschichte. Chinas Staatspräsident Xi Jinping und Russlands Präsident Wladimir Putin hätten eine tiefe Freundschaft entwickelt.[289]
Am 10. März rief Xi in einem Telefonat mit US-Präsident Barack Obama alle Seiten zu Ruhe und Zurückhaltung auf, um eine Eskalation zu vermeiden. Xi wies auf die komplexe Lage in der Ukraine hin und mahnte, die Differenzen durch politische und diplomatische Mittel zu lösen.[290]
Internationale Beobachter sehen die VR China in einem gewissen Dilemma. Zum einen sei man an guten Beziehungen zum Nachbarn Russland interessiert, andererseits fürchte China auch separatistische Bewegungen im eigenen Land (Tibet, Xinjiang) und wolle daher diese auf internationalem Parkett nicht unterstützen.[291] China habe eine unabhängige diplomatische Politik der Nichteinmischung in die internen Angelegenheiten anderer Länder, die nicht durch einen einzelnen Zwischenfall verändert werden könne.[288]
Reaktionen der Vereinten Nationen
Vermittlungsbemühungen des UNO-Sicherheitsrats
Der Weltsicherheitsrat befasste sich am 28. Februar, 1., 3., 10., 13., 15. und 19. März 2014 mit dem Konflikt.[292]
Am 15. März 2014 legte Russland sein Veto gegen eine Resolution des Sicherheitsrates ein, die das Unabhängigkeitsreferendum der Krim am 16. März als ungültig bezeichnen sollte. Die UNO-Vetomacht China enthielt sich der Stimme, die übrigen Mitglieder des Rates stimmten dafür.[293][294] Dass China sich nicht an der Seite Russlands gegen die Resolution gestellt hatte, führten westliche Diplomaten auf den Verstoß des Referendums auf der Krim gegen die von China im Sicherheitsrat vertretenen Grundprinzipien der territorialen Integrität und der Nichteinmischung zurück.[295] Der Vertreter der Vetomacht Frankreich, Gérard Araud, bezeichnete dagegen das Veto als russische Niederlage.[294]
Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen
Am 27. März 2014 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen auf Antrag von Kanada, Costa Rica, Deutschland, Litauen, Polen und der Ukraine eine Resolution an, in der das Referendum vom 16. März für ungültig erklärt wurde. Sie bestätigte die Einheit der Ukraine[297] und forderte alle Staaten, internationalen Organisationen und Sonderorganisationen auf, keine Änderung des Status der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol anzuerkennen und alle Handlungen oder Geschäfte zu unterlassen, die als Anerkennung eines solchen geänderten Status ausgelegt werden könnten.[298][299] Die Resolution bezieht sich dabei ausdrücklich auf den Vorrang des in der UN-Charta festgeschriebenen Grundsatzes der territorialen Unversehrtheit aller Mitgliedsstaaten, das Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 und den ukrainisch-russischen Freundschaftsvertrag vom Mai 1997.[297] Resolutionen der UN-Generalversammlung sind allerdings generell nicht bindend.
169 von 194 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen[300] nahmen an der Abstimmung teil, 100 stimmten für die Resolution. Dabei enthielten sich 58 Staaten aus Afrika und Asien, einschließlich Indien und China, der Stimme.[301][302] Gegen die Resolution stimmten elf Staaten: neben Russland auch Armenien, Bolivien, Kuba, Nicaragua, Nordkorea, Simbabwe, Sudan, Syrien, Venezuela und Belarus.
Am 7. Dezember 2020 forderte die UN-Generalversammlung die Russische Föderation als Okkupationsmacht in einer weiteren Resolution auf, sofort und bedingungslos ihre Truppen von der Krim abzuziehen und die Besetzung der Krim unverzüglich zu beenden.[303]
Resolution des Menschenrechtsausschusses der UN-Generalversammlung
Im Herbst 2016 brachte die Ukraine einen Resolutionsentwurf zu Menschenrechtsverstößen auf der Krim ein, mit der Unterstützung von 40 Ländern, darunter den Vetomächten USA, Frankreich und Großbritannien. Der Menschenrechtsausschuss der UN-Generalversammlung beschloss die Resolution im November 2016 mit 73 Ja-Stimmen, 23 Nein-Stimmen und 76 Enthaltungen. Dagegen stimmten unter anderem Russland, China und Syrien. In der Resolution wird Russland dazu gedrängt, UN-Beobachter auf die ukrainische Halbinsel Krim zu lassen. Die Resolution verurteilt „die diskriminierenden Übergriffe, Maßnahmen und Praktiken der russischen Besatzungsbehörden gegenüber den Einwohnern“ der Krim. Es ermahnt wegen einer ungerechten Behandlung von Minderheiten, insbesondere der Krimtataren, und ruft Russland auf, seine Entscheidung, den Medschlis aufzulösen, rückgängig zu machen. Kulturelle und religiöse Institutionen der Minderheit müssten wieder aktiv werden dürfen.[304]
Internationale Sanktionen
Europäische Union
Die Europäische Union beschloss am 6. März 2014, in einem ersten Schritt die Verhandlungen mit Russland über Visumerleichterungen sowie über das neue Grundlagenabkommen auszusetzen.[305] Guthaben von 18 Personen wurden blockiert.[306]
Am 12. März 2014 wurden Rahmenbedingungen für weitergehende Sanktionen abgesegnet, die das Einfrieren von Vermögenswerten und Einreiseverbote beinhalten und mit den Vereinigten Staaten, der Schweiz, der Türkei, Japan und Kanada abgestimmt seien. Der formelle Beschluss dazu und eine Festlegung auf bestimmte natürliche und juristische Personen, auf die diese Sanktionen anzuwenden sind, sollten am 17. März bei einem Zusammentreffen der EU-Außenminister erfolgen.[307]
Am 17. März 2014 setzte der Rat der Europäischen Union 21 Personen auf eine Sanktionsliste, mit der Reisebeschränkungen und das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen verbunden sind. Die Personen werden vor allem für die Befürwortung der Entsendung russischer Truppen, für die Absetzung der bisherigen und Einrichtung der neuen Regierung der Krim und die Teilnahme an der Organisation des Referendums verantwortlich gemacht.[308] Dazu gehörten der Ministerpräsident der Krim, Sergei Aksjonow, und Wolodymyr Konstantynow, Vorsitzender des Parlaments der Krim, aber auch russische Parlamentarier und höhere russische Offiziere. Am 21. März 2014 publizierte die EU eine zusätzliche Sanktionsliste mit den Namen von 12 weiteren Personen.[309] Die Sanktionsliste wurde bis September 2014 mehrfach erweitert.
Am 18. Dezember 2014 führte die EU Sanktionen gegen die Krim und die Stadt Sewastopol ein, die es Unternehmen mit Sitz in der EU verbieten, wirtschaftliche Beziehungen zur Krim zu unterhalten.
Vereinigte Staaten
Am 6. März 2014 beschloss US-Präsident Barack Obama, Sanktionen gegen die Bedrohung der Souveränität und Integrität der Ukraine zu ergreifen.[310] Er erließ eine vorbereitende Executive Order („E.O. 13660“).[311] Der Senat der Vereinigten Staaten forderte am 11. März einen umgehenden Abzug russischer Truppen von der Krim und den Ausschluss Russlands aus der G8. Zudem wurde der Weltfußballverband FIFA aufgefordert, seinen Entscheid, die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland auszutragen, zu überdenken.[312]
Der Senatsausschuss für Außenpolitik beschloss am 12. März Sanktionen gegen Russen und Ukrainer, die an Gewalttätigkeiten oder Menschenrechtsverletzungen während des Euromaidans beteiligt waren, zusammen mit Rechts- und Finanzhilfen für die ukrainische Regierung und einer Mittelzuweisung für den Internationalen Währungsfonds. Von den 18 Komitee-Mitgliedern stimmten einzig die Republikaner James Risch, Rand Paul und John Barrasso gegen den Entwurf, der im nächsten Schritt dem Senat zur Abstimmung vorgelegt wird.[313]
Am 17. März verhängte US-Präsident Obama per „Executive Order 13661“ Sanktionen gegen sieben Personen aus Russland, denen die USA vorwerfen, an der Inbesitznahme der Krim und der Einmischung in die nationale Souveränität der Ukraine beteiligt zu sein.[314] Einreiseverbote wurden verhängt, Vermögenswerte eingefroren und Bürgern und Unternehmen der USA ist es verboten, Geschäfte mit den Sanktionierten zu machen. Das Finanzministerium der Vereinigten Staaten belegte zusätzlich aufgrund der „E.O. 13660“ ukrainische Personen mit Sanktionen.[315][316]
Am 20. März wurden mit der „Executive Order 13662“ weitere Personen und Unternehmen auf die SDN-Liste gesetzt.[317] Zudem wurde der Export von Rüstungsgütern und Dual-Use-Produkten nach Russland eingeschränkt.[318]
Weitere Länder
Wegen der Zugehörigkeit der Schweiz zum Schengen-Raum gelten die Einreisesperren der EU auch für die Schweiz, nicht aber die Wirtschaftssanktionen.
Am 2. April 2014 beschloss die Schweizer Regierung, dass Schweizer Finanzintermediären die Aufnahme neuer Geschäftsbeziehungen zu den 33 von der EU sanktionierten Personen untersagt ist.[319] Bereits bestehende Beziehungen können beibehalten werden. Am 20. Mai wurde die Liste um 13 Personen und zwei Unternehmen erweitert.[320]
Kanada verwendete ab 17. März dieselbe Sanktionsliste wie die erste Liste der USA, aber ohne Wiktor Janukowytsch.[321] Norwegen implementierte am 21. März ebenfalls eine Sanktionsliste.[322] mit den Namen von 21 Personen.[323]
Japan kündigte am 18. März 2014 an, als Sanktionsmaßnahmen Verhandlungen über Visumerleichterungen und Abkommen über gegenseitige Investitionen, militärische und Raumfahrtkooperation mit Russland vorläufig auszusetzen.[324][325] Am 28. Juli 2014 gab das Außenministerium weitere Sanktionen bekannt, darunter das Einfrieren von Geldern in Japan von Personen und Organisationen, die als Beteiligte an der Annexion der Krim und Destabilisierung der Ostukraine gelten, und die Einfuhr von Waren mit Ursprung auf der Krim oder in Sewastopol zu reduzieren; dies aufgrund der japanischen Haltung, die Annexion der Krim durch Russland nie anzuerkennen.[326]
Gegensanktionen durch Russland
Als Reaktion auf die Sanktionen der US-Regierung veröffentlichte das Außenministerium Russlands am 20. März 2014 eine Liste von neun Personen, denen die Einreise nach Russland untersagt wird.[327] Dazu zählten John Boehner, Sprecher des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten, und John McCain, US-Senator von der Republikanischen Partei. Als Vergeltung gegen die Sanktionen Kanadas belegte Russland am 24. März dreizehn kanadische Amtsträger mit Einreiseverboten, u. a. gegen Andrew Scheer, Sprecher des kanadischen Unterhauses, und gegen die Abgeordnete Chrystia Freeland.[328][329]
Insbesondere verfügte der Kreml wirtschaftliche Gegensanktionen und verbot die Einfuhr von Lebensmitteln aus der EU. Jahrelang wurden – wie 2015 beschrieben „voller Stolz“ – Vernichtungsaktionen von Lebensmitteln veröffentlicht, auch entgegen einer 2015 von 310.000 Bürgern Russlands unterzeichneten Petition auf Change.org.[330][331] Präsident Putin pries in den folgenden Jahren die Vorzüge von Importsubstitutionen an, bis im Februar 2019 erstmals auch offiziell von wirtschaftlichen Nachteilen durch die Sanktionen die Rede war – von zuvor propagierter vollständiger Importsubstitution war kaum mehr die Rede.[332] Die Sanktionen wurden jährlich verlängert, zuletzt im September 2021 bis Ende 2022.[333]
Am 27. Mai 2015 untersagte Russland 89 europäischen Politikern die Einreise.
Russische Verlautbarungen
Russland warf dem Westen vor, er habe durch Besuche und Reden von Politikern wie Guido Westerwelle auf dem Majdan Nesaleschnosti[334] in Kiew aktiv am Umsturz teilgenommen[335] und sich in der Ukraine mit „ausgesprochenen Neonazis verbündet“. Damit war hauptsächlich die rechtsextreme Allukrainische Vereinigung „Swoboda“ unter der Führung von Oleh Tjahnybok gemeint sowie der Rechte Sektor um Dmytro Jarosch. Russland bezeichnete sein Vorgehen in der Ukraine als „Verteidigung der Menschenrechte“. Vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf wurde erklärt, dass Moskau bei seinem Engagement „in erster Linie an die ukrainischen Bürger denke“. Der Übergangsregierung in Kiew warf Russland vor, die Menschenrechte der Russen in der Ukraine zu missachten.[336]
Am 4. März verteidigte Russlands Präsident Putin das Vorgehen seiner Regierung: „Wir sind besorgt wegen der Orgien der Nationalisten, Extremisten und Antisemiten in der Ukraine. Die Menschen sind wegen dieser Gesetzlosigkeit bekümmert.“ Er berief sich auf ein Hilfeersuchen des abgesetzten Präsidenten Janukowytsch. De jure sei Janukowytsch noch immer der ukrainische Präsident, auch wenn er de facto keine Macht mehr habe. Putin wies darauf hin, dass Janukowytsch keine politische Zukunft mehr habe. Die Aufnahme des Politikers in Russland bezeichnete er als humanitäre Geste. „Wäre er in der Ukraine geblieben, wäre er umgebracht worden.“[337] Bezüglich des Budapester Memorandums erklärte Putin, die Ukraine nach dem „verfassungswidrigen Putsch“ sei eine andere als die, für die damals dieses Memorandum ausgestellt wurde. Wenn in Kiew eine „Revolution“ stattgefunden habe, dann habe man es dort mit einem „neuen Staat“ zu tun, weswegen die Verpflichtungen aus dem Budapester Memorandum nicht zum Tragen kämen.[338]
Am 21. Februar habe Janukowytsch den Forderungen der ukrainischen Opposition zugestimmt, dann hätten sich die Regierungsgegner jedoch nicht an die Vereinbarungen gehalten, kritisierte Putin. „Dadurch hat man den Süden und Osten der Ukraine in Wallung gebracht.“ Der Putsch in Kiew sei lange vorbereitet worden, auch von westlichen Ausbildern. Putin räumte ein, dass die Probleme in der Ukraine groß seien, und zeigte Verständnis für die Menschen auf dem Majdan Nesaleschnosti, die einschneidende Änderungen forderten. Der Weg, den die Opposition wählte, sei nach seiner Auffassung falsch. Die jetzige Regierung der Ukraine sei illegitim. Sollten in der Ukraine Wahlen „unter solchem Terror abgehalten werden, wie wir ihn jetzt sehen, werden wir sie nicht anerkennen“, betonte Putin.[337]
Zusätzlich verkündete er, dass die russischen Streitkräfte in einem extremen Fall in anderen Teilen des Landes einschreiten könnten. Russland behalte sich alle Mittel zum Schutz der Russen in der Ukraine vor. „Wir werden nicht zusehen, wenn sie verfolgt und vernichtet werden.“ Derzeit gebe es jedoch keine Notwendigkeit für eine Entsendung von Truppen in die Ukraine, die Putin als Bruderstaat bezeichnete. Kritik aus dem Westen wies er zurück und erinnerte an das Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten im Irakkrieg und im Bürgerkrieg in Libyen.[337]
Ähnlich äußerte sich der Ständige Vertreter bei den Vereinten Nationen Witali Tschurkin in der Sitzung des Sicherheitsrates vom 13. März. Die Regierung in Kiew sei nicht die am 21. Februar vereinbarte „Übergangsregierung der nationalen Einheit“, sondern eine „Regierung der Sieger“, die gegen das Abkommen vom 21. Februar verstoße.[339]
In seiner Rede vom 18. März 2014 äußerte Putin seine Dankbarkeit gegenüber allen, die Verständnis für die russischen Handlungen auf der Krim zeigten, insbesondere „dem chinesischen Volk, dessen Führer die Lage um die Ukraine und die Krim in ihrer geschichtlichen und politischen Zusammenhang berücksichtigen“. Ebenso wisse man Indiens „Zurückhaltung und Objektivität“ zu schätzen.[340]
Im September desselben Jahres verglich Wiktor Schenderowitsch das Referendum auf der Krim mit dem Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands: Die jahrelangen Vorgänge und Abklärungen in Schottland definierte er als Abstimmung, die „grünen Männchen“ der Krim als „Pornografie“; die Frage sei eine reine Erpressung im Sinne etwa der Frage „Sind Sie für Putin oder das Absägen ihrer Hand mit einer rostigen Säge?“[341]
Am 4. Dezember 2014 hielt Putin die jährliche Rede zur Lage der Nation vor der Föderationsversammlung (den beiden Kammern des russischen Parlaments) in Anwesenheit zahlreicher Würdenträger.[342][343][344][345] Putin wiederholte seine These, der Beitritt der Krim sei in völligem Einklang mit dem Völkerrecht geschehen[346] und führte aus: „Die Krim hat eine große zivilisatorische und sakrale Bedeutung – jetzt und für immer. So wie der Tempelberg in Jerusalem für die, die sich zum Islam oder zum Judentum bekennen.“[347][348]
Gerichtliche Klagen
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Am 13. März 2014 reichte die Ukraine beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Staatenbeschwerde gegen Russland ein. Als provisorische Maßnahme wurden die Parteien ermahnt, auf jegliche Maßnahmen und insbesondere militärische Aktionen zu verzichten, die zu Verletzungen der in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Rechte der Zivilbevölkerung führen könnten.[349] Der EGMR forderte Russland auf, zu der Annexion der Krim und den Vorgängen in der Ostukraine Stellung zu nehmen. Die Ukraine warf Moskau in der Staatenklage zahlreiche Fälle von Folter, Misshandlungen und willkürlichen Inhaftierungen ukrainischer Zivilisten vor.[350] Der EGMR verlängerte die Rückmeldefrist und gab der Russischen Föderation bis zum 25. September 2015 Zeit, um zu zwei zwischenstaatlichen Klagen der Ukraine Stellung zu nehmen – auch in Bezug auf erzwungene Staatsbürgerschaft, Diskriminierung, Eigentumsrechte und das Recht auf Privatleben. Während dieser erweiterten Antwortfrist beschloss das Verfassungsgericht der Russischen Föderation am 14. Juli 2015, dass Russland nicht an die Urteile des EGMR gebunden sei. Die Entscheidung des russischen Verfassungsgericht steht laut den Menschenrechtsbeauftragten der OSZE im Widerspruch zu den Verpflichtungen, die Russland aus dem Völkervertragsrecht erwachsen.[351]
Internationaler Strafgerichtshof
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) beschäftigt sich seit dem 25. April 2014 mit dem russisch-ukrainischen Krieg. Am 14. November 2016 veröffentlichte der IStGH seine Einschätzung des Konflikts. Das Gericht stuft die Situation auf der Krim und in Sewastopol als einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ein. Dieser bewaffnete Konflikt begann laut dem IStGH spätestens am 26. Februar 2014, als Russland seine Streitkräfte einsetzte, um ohne Zustimmung der ukrainischen Regierung Kontrolle über Teile ukrainischen Gebiets zu erlangen. Die Situation auf der Krim und in Sewastopol nach dem 18. März 2014 stellt nach Ansicht des Gerichts eine andauernde Okkupation dar, auf die das Gesetz für internationale bewaffnete Konflikte weiterhin anwendbar sei. Der IStGH nennt Fälle möglicher Kriegsverbrechen seit der russischen Machtübernahme auf der Krim, die in die Zuständigkeit des Gerichts fallen können. Diese sind die Verfolgung von Krimtataren, Mord und Entführung von Gegnern der russischen Okkupation, Misshandlung im Zusammenhang mit Verhaftung oder Entführung und erzwungener Dienst im russischen Militär.[352][353][354]
Internationaler Gerichtshof
Am 16. Januar 2017 reichte die Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof Klage gegen Russland ein. Die Ukraine wirft Russland Verstöße gegen das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung durch Verfolgung von Ukrainern und Krimtataren auf der besetzten Krim vor sowie Verstöße gegen das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus durch Waffenlieferungen und andere Hilfe an bewaffnete Gruppen, die auf ukrainischem Gebiet agieren.[355] Die Anhörungen begannen am 6. März 2017.[356]
Am 19. April 2017 entschied das höchste Gericht der Vereinten Nationen mit einer Interims-Entscheidung gegen Russland in der Sache Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und gab damit der Klage der Ukraine in einem der zwei Punkte statt. Es verpflichtete Russland, die Tataren und Ukrainer auf der Krim vor Diskriminierung und Rassismus zu schützen. Die ethnischen Gruppierungen auf der Krim hätten ein Recht auf eigene Organisationen und Unterricht in ihrer Sprache. Russland wurde mit großer Mehrheit der Richter aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Gemeinschaft der Krimtataren auch künftig in der Lage ist, ihre repräsentativen Organisationen inklusive des Medschlis zu erhalten. Einstimmig beschlossen wurde, dass Russland die Verfügbarkeit einer Erziehung in ukrainischer Sprache sicherstellen muss. Abgelehnt wurde eine vorzeitige Entscheidung in der Sache Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus. Das Gericht wies damit die ukrainische Forderung nach Sofortmaßnahmen gegen Russland zurück. Die Richter sahen in dem gegebenen Stadium des Verfahrens die Beweise nicht als ausreichend an. Das Gericht hatte zu dem Zeitpunkt das Hauptverfahren zu dieser Klage noch nicht eröffnet.[304][357]
Völkerrechtliche Bewertung
Die Abtrennung der Krim von der Ukraine ist unter völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Beurteilung in mehrere Aspekte unterteilbar: der Frage nach der Rechtmäßigkeit des hastig improvisierten[358] Referendums, der Präsenz russischer Sicherheitskräfte auf ukrainischem Territorium, der auf das Referendum hin erfolgten Abspaltung und erklärten Sezession und der Beitrittserklärung zur Russischen Föderation.[359] Eine weitere damit zusammenhängende völkerrechtliche Frage ist die nach der Rechtmäßigkeit des Einsatzes russischer Truppen auf der Krimhalbinsel während der Krimannexion.[360]
Militärische Intervention
Die einseitige militärische Intervention Russlands auf der Krim wird mehrheitlich als ein Verstoß gegen das in Artikel 2 Nr. 4 der UN-Charta festgelegte Verbot der Gewaltanwendung bewertet.[361][362] Das militärische Eingreifen Russlands sowie Maßnahmen wie die Abriegelung von Kasernen, wodurch die Ukraine an legalen Gegenmaßnahmen gehindert wurde, gelten als Akt der Aggression und Angriffshandlungen nach Artikel 3 der Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen von 1974 (UN-Resolution 3314).[363][364][365][366][367] Angriffshandlungen liegen sowohl nach Artikel 3 lit. a als auch lit. e vor. Russische Truppen, die sich nach dem Abkommen von 1997 über die Schwarzmeerflotte auf gepachteten Militärstützpunkten in Sewastopol aufhalten durften, agierten außerhalb der erlaubten Militärbasen und gegen die im Stationierungsabkommen vorgesehenen Bedingungen.[368][366][369] Auch die Besetzung der Halbinsel und Abriegelung gegenüber den angrenzenden Gebieten der Ukraine, die Übernahme der Kontrolle über ihre Regierungs-, Kommunikations- und Versorgungseinrichtungen stellen Verstöße gegen das Gewaltverbot dar.[370] Die Aktivitäten russischer Einheiten auf der Krim verstoßen darüber hinaus gegen den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag von 1997, in dem sich beide Staaten zur Achtung der gegenseitigen territorialen Integrität und Unverletzlichkeit der Grenzen zwischen ihnen verpflichten, gegen die Helsinki-Schlussakte von 1975, die Alma-Ata-Erklärung von 1991 und das Budapester Memorandum von 1994.[366][371] Bereits die Anfrage Präsident Putins um Einsatz von Streitkräften in der Ukraine und die Ermächtigung durch den russischen Föderationsrat kann als Androhung von Gewalt gegen die Ukraine und damit als eine Verletzung des allgemeinen Gewaltverbots ausgelegt werden.[366][372]
Nach russischen Angaben war die militärische Intervention eine Maßnahme zum Schutz russischer Staatsbürger auf der Krim.[371][373] Ein derartiges Recht, zum Schutz eigener Staatsbürger in einem Nachbarland militärisch einzugreifen, existiert im Völkerrecht jedoch nicht.[374] Darüber hinaus handelt es sich bei den russischsprachigen Bewohnern der Krim mehrheitlich nicht um russische Staatsbürger, sondern russischsprachige Staatsangehörige der Ukraine.[373][375] Der russische Militäreinsatz diente der Schaffung einer ständigen Militärpräsenz im Nachbarland und dem Erwerb fremden Staatsgebiets, womit er sich von den bisher bekannten Schutzeinsätzen unterscheidet, die eine Evakuierung eigener Staatsangehöriger und sichere Rückführung ins Heimatland bezweckten.[376][377] Zudem wurden die von Russland behaupteten Angriffe gegen russischstämmige Krimbewohner international nicht bestätigt.[362][378] Völkerrechtler verweisen darauf, dass in den Menschenrechtsberichten der UNO[379] und OSZE[380] vor und während der Annexion der Krim keine Menschenrechtsverletzungen zu Lasten der russischsprachigen Krimbewohner festgestellt wurden, sondern eher die Krimtataren und ukrainischstämmigen Bewohner Diskriminierungen ausgesetzt waren.[378][369][381][382]
Referendum
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker beinhaltet kein Sezessionsrecht (externe Selbstbestimmung) und ermächtigt daher nicht dazu, aus einem in der internationalen Gemeinschaft etablierten Staat gegen dessen Willen mitsamt einem Teil des Staatsgebietes auszuscheiden.[383][384][373][385][386] Laut Theodore Christakis existiert zwar kein positives Recht auf externe Selbstbestimmung, einseitige Sezessionen sind aber auch nicht per se verboten.[387] Christakis führt weiter aus, dass die Sezession der Krim nicht wegen der unilateralen Unabhängigkeitserklärung illegal ist, sondern wegen der Gewalt, die von Russland ausging.[388]
Das Referendum wurde von vornherein durch den Umstand entwertet, dass die Abstimmung unter den Bedingungen einer militärischen Intervention und Okkupation durch Russland und somit unter Verstoß gegen das Gewaltverbot vorbereitet und durchgeführt wurde.[362][370][373] Eine effektive Ausübung der Selbstbestimmung der Völker war wegen des russischen Gewalteinsatzes nicht möglich.[362] Hinzu kommt, dass bei der Durchführung des Referendums nach Einschätzung der Venedig-Kommission elementare demokratische Standards verletzt wurden.[389] Zu den Verletzungen demokratischer Mindeststandards gehört nach Anne Peters unter anderem die mehrdeutige Referendumsfrage, die offenließ, welche Version der Krim-Verfassung von 1992 gemeint war, die mehrfache Vorverlegung des Durchführungsdatums sowie die fehlende Möglichkeit, in der Öffentlichkeit frei für den Verbleib in der Ukraine einzutreten, ohne Nachteile oder Sanktionen befürchten zu müssen.[390]
Unabhängigkeitserklärung und Eingliederung
Nach juristisch herrschender Meinung ist die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation eine Annexion.[391][392][386] Annexionen sind seit 1945 völkerrechtswidrig.[393] Im Unterschied dazu sehen russische Wissenschaftler den Krim-Anschluss überwiegend als völkerrechtskonform.[391][394]
Mit der einseitigen Erklärung der Unabhängigkeit wird nicht automatisch ein Staat geschaffen. Zwischen der Unabhängigkeitserklärung am 11. bzw. 17. März und der Unterzeichnung des völkerrechtlichen Vertrages über den Beitritt in den russischen Staatsverband am 18. März gelang es der „Republik Krim“ nicht, den Kriterien von Staatlichkeit zu entsprechen und eine von der Ukraine und Russland unabhängige Staatsgewalt zu etablieren.[395] Weil das Gebilde „Republik Krim“ nicht die Qualität eines Staates hatte, konnte es keine gültigen Verträge mit der Russischen Föderation abschließen.[386]
Nach Artikel 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge von 1969 sind Verträge, die zum Zeitpunkt des Abschlusses einer zwingenden Norm des Völkerrechts widersprechen, unwirksam. Der Vertrag verstößt gegen das allgemeine Gewaltverbot als zwingende Norm, weil sich die Russische Föderation durch militärische Intervention auf der Krim ihren Vertragspartner „Republik Krim“ geschaffen hat, sowie gegen die territoriale Integrität der Ukraine.[370] Da die „Republik Krim“ zum Zeitpunkt der Anerkennung durch Präsident Putin kein von der Ukraine unabhängiger Staat war, stellt die Anerkennung eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine dar.[370][396] Das Völkerrecht verpflichtet alle Staaten, die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation nicht anzuerkennen, weil der Gebietserwerb durch die Anwendung von Gewalt zustande kam (ex injuria jus non oritur).[397][398][367]
Der Rechtswissenschaftler Georg Nolte sah 2014 das Referendum als unvereinbar mit der ukrainischen Verfassung an.[399] Diese Einschätzung teilte der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel, er betonte allerdings, das Völkerrecht sei dieser Frage gegenüber indifferent und verhalte sich neutral.[359] Auch Hans-Joachim Heintze vom Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht äußerte 2014, es gebe grundsätzlich kein vom Selbstbestimmungsrecht abgeleitetes Sezessionsrecht, das nationale Minderheiten in Anspruch nehmen könnten:
„Völkerrechtlich handelt es sich um eine Minderheit. Diese hat ein Recht darauf, ihre eigene Identität zu wahren, nicht auf Sezession.“
Anne Peters nannte Voraussetzungen für ein Referendum und schrieb: „Selbst wenn das Referendum frei und fair gewesen wäre, hätte das nicht das Fehlen inhaltlicher Faktoren kompensieren können.“[401] Zur Frage nach der Rechtmäßigkeit des Referendums komme die Frage, ob die Präsenz russischer Militärangehöriger auf dem Territorium der Krim vor der formalen Unabhängigkeitserklärung völkerrechtswidrig war. Peters schrieb:
„Man kann die russische Militäraktion nicht von der Volksabstimmung trennen. Einen Abspaltungsversuch, der durch die Bajonette einer fremden Gewalt veranlasst und ermöglicht wird, darf man nicht anerkennen.“
Nolte und Saxer sahen in der Tatsache, dass das Referendum während einer russischen Militäraktion durchgeführt wurde, ein eindeutiges Indiz für eine Unrechtmäßigkeit nach Maßgabe der Hoover-Stimson-Doktrin oder des Litwinow-Protokolls.[399]
„Die Präsenz russischer/russisch gesteuerter Truppen, ursprünglich gedeckt durch ein Stationierungsabkommen, mutiert so zur militärischen Bedrohung und Besatzung, was das Gewaltverbot der UN-Charta, eine Zentralnorm des internationalen Systems, verletzt. Völkerrechtlich besteht eine Pflicht von Staaten und internationalen Organisationen, Gebietsveränderungen als Folge der Anwendung oder Androhung von Gewalt nicht anzuerkennen.“
Auswirkungen der Annexion
Menschenrechte
Seit der Besetzung und Annexion der Krim durch die Russische Föderation hat sich die Menschenrechtslage für eine große Anzahl von Einwohnern erheblich verschlechtert. Grundrechte wie die Versammlungs-, Vereinigungs-, Niederlassungs-, Informations- und Meinungsfreiheit wurden durch Russland auf der Krim eingeschränkt und ausgehöhlt. Systematischen Menschenrechtsverletzungen sind vor allem Krimtataren und Ukrainer ausgesetzt, die sich gegen die russische Annexion ausgesprochen, die russische Staatsbürgerschaft abgelehnt oder die Besatzungsmächte nicht unterstützt haben.[402][403][404][405] Unter der russischen Besetzung kam es zu schweren Menschenrechtsverletzungen wie willkürlichen Festnahmen, widerrechtlicher Haft, Verschwindenlassen, Misshandlung, Folter und außergerichtlicher Tötung. Gefangene wurden illegal von der Krim in russische Gefängnisse gebracht.[406] Das Europäische Parlament verurteilte die Menschenrechtsverletzungen in einer Entschließung vom 16. März 2017 über ukrainische Gefangene in Russland und die Lage auf der Krim.[407]
Amnesty International hält fest, dass es seit der Annexion mehrere Fälle des Verschwindenlassens von Krimtataren gegeben hat, die nie effektiv aufgeklärt worden sind. Am 24. Mai 2016 wurde Erwin Ibragimow, ein Mitglied des World Congress of Crimean Tatars, von einer Gruppe von Männern in einen Wagen gezerrt und weggefahren. Amnesty International fordert die russischen Behörden dazu auf, die Entführung aufzuklären.[408]
Russisches Rechtssystem
Das humanitäre Völkerrecht und das IV. Genfer Abkommen schreiben vor, dass eine Besatzungsmacht die geltenden Gesetze des besetzten Gebiets respektieren muss.[406][409] Unter Missachtung dieser Verpflichtung hat Russland ukrainische durch russische Gesetze ersetzt und die Krim dem russischen Rechtssystem unterstellt. Dadurch kam es zu einer Verschlechterung der Menschenrechtssituation.[404][406][410]
Russische Extremismus- und Separatismusgesetze werden willkürlich gegen friedliche Versammlungen, Äußerungen und politische Aktivitäten angewendet – in einigen Fällen rückwirkend auf Ereignisse vor der Annexion wie im Prozess gegen Achtjom Tschijgos und außerhalb der Krim auf dem ukrainischen Festland.[406][411][412] Kritik an der Annexion wird als „Separatismus“ ausgelegt und strafrechtlich geahndet.[413] Die Meinungsäußerung, die Krim gehöre zur Ukraine, ist strafbar mit bis zu fünf Jahren Haft.[414] Im September 2014 erklärte der Generalstaatsanwalt der Krim, dass jeder Ausdruck der Nichtanerkennung der Krim als Teil der Russischen Föderation strafrechtlich verfolgt wird. Bestimmungen des russischen Strafrechts werden regelmäßig verwendet, um Kritik an der russischen Regierung zu kriminalisieren.[415] Der krimtatarische Politiker Ilmi Umerow wurde des „Separatismus“ schuldig gesprochen und zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil er die Annexion kritisiert und die Krim als Teil der Ukraine bezeichnet hatte.[416][417] Der Journalist Mykola Semena erhielt eine zweieinhalbjährige Bewährungsstrafe ebenfalls wegen „separatistischer Äußerungen“, da er in Ausübung seines Berufes die Annexion als völkerrechtswidrig bezeichnet hatte.[418] Unter dem Vorwand der Extremismusbekämpfung werden Krimtataren und andere Kritiker durchsucht, eingeschüchtert und verhaftet.[406][419][420][421] Russland ließ das wichtigste Selbstverwaltungsorgan der Krimtataren – der Medschlis – als „extremistische Organisation“ einstufen und verbieten.[420] Seitdem ist die bloße Mitgliedschaft im Medschlis strafbar.[422] Anführer der Krimtataren wurden ausgewiesen. Die Vorsitzenden des Medschlis leben im Exil in Kiew, seitdem Russland ihnen die Einreise auf die Krim untersagte und gegen sie Haftbefehl erließ. Seit der Annexion gibt es immer wieder Meldungen über verschwundene Krimtataren und Ukrainer. Einige wurden tot aufgefunden.[420][423] Pro-Ukrainische Aktivisten, Minderheiten und Journalisten, die des „Extremismus“ und „Separatismus“ bezichtigt werden, erhalten keine Möglichkeit, ihr Recht auf ein faires Verfahren durchzusetzen und gegen eventuelle Verfahrensmängel vorzugehen.[411][424] Gegen kremltreue Milizen wurden hingegen keine Ermittlungen oder Strafverfahren eingeleitet, obwohl ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Entführungen und außergerichtliche Tötungen während und nach der Annexion vorgeworfen werden.[411][424] Im russischen Parlament wurde der Gesetzesentwurf eingebracht, die Rechtsverstöße pro-russischer Milizen auf der Krim zu amnestieren.[425] Im Juni 2014 wurden die Milizen in die Polizei der Krim eingegliedert.[426]
Seit der Annexion gelten auf der Krim russische Anti-Homosexuellen-Gesetze, die es untersagen, sich öffentlich zur Homosexualität zu bekennen. Die russischen Behörden verkündeten nach der Besetzung, dass Schwule auf der Halbinsel nicht mehr willkommen seien und keine öffentlichen Veranstaltungen abhalten dürften.[427] Schwule flohen aus der Krim auf das ukrainische Festland und in andere europäische Länder.[428][429]
Am 11. Februar 2016 wurde der krimtatarische Menschenrechtler Emir-Usein Kuku von russischen Behörden festgenommen. Kuku trat im Jahr 2014 der Crimean Human Rights Contact Group bei, die sich mit dem Verschwindenlassen von Menschen auf der Halbinsel beschäftigt hatte. Ihm wird von den russischen Behörden vorgeworfen, der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir anzugehören, was er jedoch selbst bestreitet. Amnesty International initiierte eine Kampagne für seine Freilassung.[430]
Als Reaktion auf die politische Verfolgung von Krimtataren wurde am 9. April 2016 die Basisorganisation Krim-Solidarität ins Leben gerufen. Eines ihrer leitenden Mitglieder Serwer Mustafajew wurde am 21. Mai 2018 verhaftet und wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ angeklagt. Auch ihm werden Verbindungen zu Hizb ut-Tahrir vorgeworfen. Amnesty International und Front Line Defenders setzen sich für seine sofortige Freilassung ein.[431][432]
Am 9. November 2016 wurden die Ukrainer Oleksij Bessarabow, Dmytro Schtyblykow und Wolodymyr Dudka festgenommen, denen vorgeworfen wurde, Sabotageakte im Auftrag des ukrainischen Geheimdienstes auf der Krim verüben zu wollen. Schtyblykow wurde zu fünf, Bessarabow und Dudka jeweils zu vierzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Freedom House und die Menschenrechtsorganisation Memorial stufen sie als politische Gefangene ein.[433]
Enteignungen
Einer Besatzungsmacht ist es gemäß humanitärem Völkerrecht untersagt, öffentliches oder privates Eigentum in den besetzten Gebieten zu konfiszieren. Trotzdem hat Russland seit März 2014 Immobilien und Unternehmen in ukrainischem Staatsbesitz sowie private Grundstücke und Geschäfte von Krimbewohnern häufig gewaltsam konfisziert und „verstaatlicht“. Die Beschlagnahmungen erfolgen Berichten zufolge ohne angemessene Ankündigung, Entschädigung, Rechtsgrundlage oder Möglichkeit zur Berufung. In einigen Fällen wurden die Beschlagnahmungen von kremltreuen Milizen durchgesetzt.[435][436] Schon am 18. März 2014 fanden Enteignungen statt, als maskierte und schwer bewaffnete Soldaten private Gewerbebetriebe wie Autohäuser stürmten und die Büros und Verkaufsräume übernahmen.[434]
Laut dem ukrainischen Justizministerium hat Russland allein bis Februar 2015 etwa 4.000 ukrainische Unternehmen beschlagnahmt. Der Ukraine entstand ein geschätzter Schaden von über eine Milliarde US-Dollar. Zusätzlich wurden zahlreiche andere öffentliche und private Grundstücke beschlagnahmt, darunter ein großer Teil des Tourismus- und Industriesektors.[435] Eine Untersuchung der Associated Press auf der Krim kam zu dem Ergebnis, dass bereits bis Dezember 2014 Tausende von privaten Unternehmen und Immobilien ohne Rechtsgrundlage beschlagnahmt wurden. Rechtmäßige Eigentümer wurden von ihren Grundstücken vertrieben, Gebäude, Bauernhöfe und andere wertvolle Immobilien wurden konfisziert, vorgeschriebene Entschädigungen wurden nicht gezahlt und Vertreter der krimtatarischen Minderheit und unabhängiger Nachrichtenmedien sowie ukrainefreundliche Vertreter der Orthodoxen Kirchen wurden gezielt enteignet.[435][437] Auch die New York Times berichtete von derartigen Übernahmen im Wert von über 1 Milliarde Euro innerhalb weniger Wochen nach der Besetzung. Banken, Hotels, Schiffswerften, Unternehmen in der Energiewirtschaft und der chemischen Industrie, die Filmstudios von Jalta, Mobilfunkunternehmen, ein Großbauernhof mit 34.600 Hektar Land, ein Tankstellennetz, der größte Brothersteller und der wichtigste Milchprodukteproduzent der Krim wurden von Moskau „verstaatlicht“ (vgl. Abschnitt „Unternehmen und Bankwesen“).[434][436][438] In Sewastopol finden seit 2016 regelmäßig Kundgebungen örtlicher Unternehmer gegen die Enteignung und Verstaatlichung von Grundstücken statt, welche die Ukraine an Privatunternehmen vergeben hatte.[439][440]
Gegen die systematischen Enteignungen reichten Krimbewohner und die Ukraine Klagen in Anlehnung an Artikel 1 des Protokolls 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte in einem früheren Urteil erklärt, dass eine Besatzungsmacht für die Verletzung von Eigentumsrechten im besetzten Gebiet verantwortlich ist.[435] Am 10. Mai 2018 entschied der Ständige Schiedshof in Den Haag über die Klage von 18 enteigneten ukrainischen Unternehmen und einer Privatperson. Laut dem einstimmigen Urteil trägt Russland die Verantwortung für die Verletzung der Rechte der ukrainischen Investoren und muss eine Entschädigung von rund 160 Millionen Dollar zahlen.[441][442] Weitere Klagen wurden bereits eingereicht und vom Schiedshof angenommen.[441][443] Im November 2018 beschloss der Ständige Gerichtshof, dass Russland der Staatlichen Sparbank der Ukraine als Entschädigung für ihren Eigentumsverlust 1,3 Milliarden Euro zahlen muss.[444]
Im März 2020 verfügte Russland per Dekret durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass sämtliche Grundstücke von nichtrussischen Eigentümern in Küstenregionen (etwa 11.500 Grundstücke) innerhalb eines Jahres entweder an russische Staatsangehörige oder den russischen Staat zu veräußern seien. Im März 2021 wurden alle bis dahin nicht veräußerten Grundstücke von Nichtrussen enteignet.[445]
Grenzsicherung
Seit 2014 verläuft die Grenze zwischen der Ukraine und der von Russland annektierten Krim entlang der südlichen Verwaltungsgrenze des Oblast Cherson über die Landenge von Perekop. Im Dezember 2018 hat Russland die Landverbindungen durch einen fast 60 km langen, soliden Metallzaun von 2,10 m Höhe mit Stacheldrahtkrone und Sicherungssensorik getrennt.[446]
Kultur und Sprache
Ukrainer und Krimtataren werden bei der friedlichen Auslebung ihrer Kultur und Äußerung politischer Ansichten zunehmend kontrolliert und unter Druck gesetzt.[402] Der Raum für die ukrainische Kultur wurde erheblich eingeengt, kulturelle und religiöse Symbole der Ukraine werden unterdrückt. Krimbewohner, die ukrainische Staatssymbole tragen oder wichtige Tage oder Personen in der ukrainischen Kultur und Geschichte feiern, sind Anfeindungen ausgesetzt, werden verwarnt und gerichtlich belangt.[448][449] Ein russisches Gericht verurteilte drei Krimbewohner zur Zwangsarbeit, weil sie den Geburtstag des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko feierten und in der Nähe einer ukrainischen Fahne standen. Das Gericht stufte die ukrainische Flagge als „extremistisch“ und als „Provokation“ ein.[414][450] Versammlungen, welche die Rückkehr der Krim in die Ukraine fordern oder Loyalität gegenüber der Ukraine ausdrücken, wurden effektiv verboten.[451] Spuren der ukrainischen Geschichte der Krim werden ausgelöscht und pro-ukrainische Aktivität ist gefährlich.[414][452] Einrichtungen zur Förderung der ukrainischen Kultur wurden geschlossen. Das Museum für Wyschywanka – eine traditionelle ukrainische Stickerei – wurde im Februar 2015 geschlossen und Personen, die den Wyschywanka-Tag feierten, wurden verhaftet. Ein ukrainisches Kulturzentrum in Simferopol wurde regelmäßig von der Polizei und vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB angerufen und die Aktivitäten gestört und verboten. 2017 wurde das Kulturzentrum geschlossen und der Leiter zog auf das ukrainische Festland, nachdem er Warnungen über seine bevorstehende Festnahme durch den FSB erhalten hatte.[453] Bücher in ukrainischer Sprache, von ukrainischen Autoren und über relevante Themen wurden aus öffentlichen und Schulbibliotheken entfernt.[454][455] Bücher krimtatarischer Menschenrechtsaktivisten und Politiker wurden verboten.[456] Schulverwaltungen, Lehrer, Eltern und Kinder werden unter Druck gesetzt, den Unterricht in ukrainischer Sprache aufzugeben. Seit der russischen Besetzung sind die ukrainische und krimtatarische Sprache aus dem Unterricht weitgehend verschwunden.[448][457]
Laut dem Bund der Vertriebenen und dessen Präsident Bernd Fabritius ist auch die deutsche Minderheit auf der Krim Repressionen ausgesetzt, die vor der russischen Annexion nicht bestanden hätten. Deutsche können im Alltag ihre Sprache nicht mehr wie gewohnt anwenden, müssen die russische Staatsangehörigkeit annehmen und sind Einschränkungen in der Versammlungsfreiheit ausgesetzt.[458]
Medien, NGOs und religiöse Einrichtungen
Russland hat die Zahl und den Zugang zu unabhängigen Medien auf der Krim reduziert, den freien Informationsfluss für die Öffentlichkeit (insbesondere Online- und Rundfunkmedien) abgeschnitten und strafrechtliche Sanktionen gegen private und öffentliche Akteure angedroht, die abweichende Ansichten über die Krim-Annexion vertreten.[459] Unmittelbar nach der Annexion wurden alle ukrainischen Fernsehsender aus dem Kabelnetz genommen und durch russisches Staatsfernsehen ersetzt. Bereits ein Jahr nach der Annexion wurden so gut wie alle unabhängigen Medien abgeschafft. Auch die Übertragung des größten unabhängigen Fernsehsenders der Krim – Fernseh- und Radiostation Schwarzmeer (Tschernomorskaja Teleradiokompanija) – wurde eingestellt und das Eigentum des Senders beschlagnahmt. Zeitungen in ukrainischer Sprache werden nicht mehr auf die Krim geliefert. Auch zahlreiche Radiosender auf der Krim haben ihre Übertragungsrechte verloren. Auf ihren Frequenzen senden seither russische Sender wie zum Beispiel das Radio des russischen Verteidigungsministeriums. Die russische Telekommunikationsaufsichtsbehörde Roskomnadsor vergibt seit Februar 2015 keine Lizenzen mehr für die Krim und die Registrier-Seite ist für Internetnutzer aus der Krim gesperrt. Journalisten und Blogger werden bei ihrer Arbeit behindert, angegriffen und verfolgt. Fälle von Entführungen sind bekannt.[460][461] Dem beliebten krimtatarischen Fernsehsender ATR wurde die Lizenz entzogen und der Sender musste nach Kiew umziehen.[420] Der Nachrichtenagentur QHA der Krimtataren wurde die Lizenz vorenthalten.[462] Die tatarische Zeitung Advent wurde mehrmals verwarnt und Mitarbeiter wurden vom Geheimdienst FSB einbestellt.[460] Der einzige krimtatarische Radiosender Medan verlor seine Lizenz.[460] Die russische Regierung bestätigte, dass auch Internetseiten wegen angeblich „extremistischer“ Inhalte auf der Halbinsel blockiert wurden.[463] Ein Jahr nach der Annexion fiel die Zahl der auf der Krim operierenden Medien von 3.000 auf 232.[464]
Alle zuvor registrierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie religiöse Gemeinschaften und Vereine wurden nach der Annexion angeordnet, sich nach russischen Gesetzen neu zu registrieren oder den Betrieb einzustellen. Waren vor der Annexion mehr als 10.000 NGOs auf der Krim angemeldet, so betrug ihre Zahl bis Ende 2014 nur noch 396. Die Neuregistrierung von NGOs wurde unter anderem durch russische Gesetze über „unerwünschte Organisationen“ und „ausländische Agenten“ behindert. Zum Beispiel musste sich eine Umweltschutzorganisation nach russischem Recht als „ausländischer Agent“ registrieren, weil sie sich hauptsächlich über internationale Zuschüsse finanzierte. Die NGO Feldmission für Menschenrechte auf der Krim wurde zur Aufnahme in die Liste der „unerwünschten Organisationen“ vorgeschlagen. Die meisten NGOs stellten ihren Betrieb auf der Krim ein und zogen auf das ukrainische Festland. Einige taten dies aus Protest gegen die Besetzung und andere wegen Drohungen von kremltreuen Milizen gegen NGO-Mitglieder.[465] Vor der Annexion waren 1.400 religiöse Vereine nach ukrainischem Recht registriert und weitere 674 Organisationen aus dem Muftiat operierten ohne Anmeldung. Nach Angaben der russischen Regierung waren bis August 2015 nur noch 53 religiöse Organisationen auf der Krim aktiv. Die Anmeldung eines Religionsvereins wurde nur russischen Staatsbürgern gestattet.[466]
Staatsbürgerschaft
Am 1. April 2014 erklärte Russland alle Ukrainer und Staatenlose auf der Krim zu russischen Staatsbürgern, unabhängig davon, ob sie einen Wechsel der Staatsbürgerschaft wünschten und einen russischen Pass beantragten oder nicht.[467] Seitdem sind Krimbewohner zum Wehrdienst bei den russischen Streitkräften verpflichtet. Einwohner, die der Einbürgerung widersprachen, erhielten automatisch den Status „Ausländer“, sogar wenn sie auf der Krim geboren wurden und ihre Familien seit Generationen auf der Halbinsel beheimatet waren wie die Krimtataren. Sie mussten um eine Aufenthaltserlaubnis ersuchen, für deren Erteilung Russland Obergrenzen festlegte, verloren wichtige Rechte und ihren Anspruch auf Sozialleistungen wie die Altersrente. Krimbewohner ohne russischen Pass sind seit der Annexion erheblich in ihren Eigentumsrechten eingeschränkt und dürfen zum Beispiel keine landwirtschaftlichen Flächen besitzen oder private Immobilien und Fahrzeuge anmelden oder verkaufen. Sie dürfen nicht wählen oder gewählt werden, eine Religionsgemeinschaft anmelden, öffentliche Versammlungen beantragen und keine Positionen in der öffentlichen Verwaltung innehaben. Auch der Zugang zur staatlichen Gesundheitsversorgung sowie die Suche und der Erhalt des Arbeitsplatzes wurden vom Vorliegen des russischen Passes abhängig gemacht. Eine Ukrainerin, die seit zehn Jahren auf der Krim lebte, verstarb, nachdem ihr ein staatliches Krankenhaus die Behandlung verweigerte, weil sie nach der Annexion keine Aufenthaltserlaubnis auf der Krim beantragt hatte.[468] Krimbewohner ohne russische Staatsbürgerschaft haben seit der Annexion kein Recht mehr, öffentliche Schulen und Universitäten auf der Krim zu besuchen.[469][470][471] Insbesondere im öffentlichen Sektor mussten Angestellte entweder ihre ukrainische Staatsbürgerschaft oder ihren Arbeitsplatz aufgeben.[406][411][467] Krimbewohner, die der Einbürgerung zwar nicht explizit oder nicht rechtzeitig widersprachen, aber keinen russischen Pass beantragten, waren ebenfalls von Einschränkungen beim Bezug von Sozialleistungen und bei der Ausübung anderer Rechte betroffen.[411][467]
Zwangseingebürgert wurden auch Tausende von Kindern ohne elterliche Fürsorge, die keine eigene Willenserklärung abgeben konnten, sowie inhaftierte Personen. Die Krimbewohner Oleh Senzow und Oleksandr Koltschenko waren zwei bekannte politische Gefangene, die gegen ihren Willen zu russischen Staatsbürgern erklärt und denen der konsularische Beistand der Ukraine verweigert wurde, obwohl sie keine russischen Pässe beantragt hatten und auf der Beibehaltung ihrer ukrainischen Staatsangehörigkeit bestanden.[467] Beide wurden am 7. September 2019 im Rahmen eines Gefangenenaustausches freigelassen und nach Kiew gebracht.[472]
Die Auferlegung der russischen Staatsbürgerschaft steht im Widerspruch zum humanitären Völkerrecht und der IV. Genfer Konvention. Konkret ist es unzulässig, dass eine Besatzungsmacht die Einwohner des besetzten Gebiets dazu zwingt, ihr die Treue zu schwören, denn die Loyalität gegenüber dem Heimatstaat kann nicht unter Zwang gelöst werden.[406][473] Das Aufzwingen der russischen Staatsangehörigkeit führte im Fall der Krim zu besonderen Loyalitätskonflikten, die das Privatleben der Krimbewohner betreffen. Durch die Einbürgerung ukrainischer Bürger wurden diese mit einem Staat verbunden, der einen Akt der Aggression gegen ihre Heimat begangen hat. Sie wurden verpflichtet, diesen Staat mit Waffen zu verteidigen.[406][467] Krimbewohner wurden zudem unter Androhung von Haftstrafen genötigt, Loyalitätsbeziehungen zu anderen Staaten – etwa Aufenthaltsgenehmigungen in anderen Ländern oder andere Staatsangehörigkeiten – zu melden, was eine Verletzung des Rechts auf Privatleben darstellt.[467][473] Da weder Russland noch die Ukraine offizielle Dokumente des anderen in Bezug auf die Krim anerkennen, befinden sich die Bewohner zwischen zwei sich überschneidenden und widersprüchlichen Rechts- und Regulierungssystemen. Aus diesem Grund haben viele Einwohner sowohl ihre ukrainischen Pässe behalten als auch russische Pässe beantragt, obwohl beide Länder die doppelte Staatsbürgerschaft nicht anerkennen.[449]
Russland hatte schon 2008 damit begonnen, Pässe für Krimbewohner auszustellen, was in der Ukraine als eine mögliche Vorbereitung zu einer militärischen Intervention interpretiert wurde.[474][475] Die Situation auf der Krim unterscheidet sich von anderen Gebieten im postsowjetischen Raum, wo Russland Besatzungsmacht ist. Ähnlich wie auf der Krim teilt Russland auch in besetzten Teilen Georgiens und Moldawiens russische Pässe aus, um Einfluss über die betroffene Bevölkerung zu gewinnen – ein Prozess, der als Passportisierung bekannt ist.[476][477][478] Der wesentliche Unterschied zur Situation auf der Krim besteht darin, dass dort eine Absichtserklärung zum Erwerb der russischen Staatsangehörigkeit notwendig ist, wohingegen auf der Krim in kurzer Zeit eine kollektive Einbürgerung durchgeführt wurde, bei der ein expliziter Verzicht auf die russische Staatsangehörigkeit notwendig war und der nicht umfassend ermöglicht wurde.[467] Präzedenzfälle für die kollektive Einbürgerung von Bewohnern besetzter Gebiete existieren nur aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Der ständige Militärgerichtshof in Straßburg und der amerikanische Militärgerichtshof in Nürnberg verurteilten jeweils Robert Wagner und Gottlob Berger für Maßnahmen der Germanisierung der Einwohner besetzter Gebiete und deren Mobilisierung als deutsche Bürger.[467]
Vertreibung und Umsiedlung
Seit der russischen Okkupation der Krim verändert sich die Bevölkerungsstruktur hauptsächlich aufgrund der Vertreibung ukrainischer und krimtatarischer Krimbewohner und anderer Minderheiten sowie eines kontinuierlichen Zustroms von Menschen aus der Russischen Föderation. Die meisten russischen Zuwanderer sind Beamte und Soldaten mit ihren Familien sowie Rentner. Laut der ukrainischen Volkszählung aus dem Jahr 2001 lebten 2,4 Mio. Einwohner auf der Halbinsel. Nach russischen Angaben vom September 2014 war die Einwohnerzahl um 4,8 Prozent auf 2,285 Mio. zurückgegangen, wobei jedoch der Anteil russischer Staatsbürger gestiegen und die Zahl von Ukrainern und Minderheiten gesunken war. Die Verdrängung von Ukrainern und Minderheiten verlief in Wellen und hatte mehrere Ursachen. Vertriebene nannten als Grund die Weigerung, unter russischer Kontrolle zu leben, sowie die Vermeidung der Wehrpflicht in der russischen Armee, Angst vor Diskriminierung und Verfolgung, Drohungen und Angriffe und Studium auf dem ukrainischen Festland.[479][480] Wer sich weigerte, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, musste entweder unter diskriminierenden Bedingungen leben oder von der Krim fliehen.[470]
Im Januar 2018 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) eine Deklaration, in der sie die Veränderung der demographischen Zusammensetzung der Krim durch Vertreibung der pro-ukrainischen Bevölkerung und Krimtataren und Verstärkung der Migration aus Russland verurteilt.[481][482] Laut dem Genfer Abkommen IV „über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ (Art. 49) ist die Umsiedlung von Zivilisten, die Staatsangehörige einer Besatzungsmacht sind, in das Territorium eines besetzten Gebietes verboten, ebenso wie die Ausweisung von Zivilisten aus dem besetzten Gebiet.[481][479]
Laut dem ukrainischen Beauftragten für Angelegenheiten des krimtatarischen Volkes Mustafa Dschemiljew sind mehrere hunderttausend Menschen aus Russland auf die Krim eingewandert. Dschemiljew zufolge hielt Moskau die genaue Zahl der Russen geheim, die auf die Krim umgesiedelt wurden, weil die russische Regierung wisse, dass Umsiedlungen dieser Art nach der Genfer Konvention von 1949 Kriegsverbrechen darstellen.[483]
Wirtschaft
Unternehmen und Bankwesen
Ein Jahr nach der Annexion stellten über 60 % der lokalen Unternehmen ihren Betrieb ein und die Zahl der Einzelunternehmer verringerte sich um das Dreifache.[484] Internationale Unternehmen wie zum Beispiel Apple und Google und Einzelhandelsketten haben die Krim verlassen.[485][486] Unternehmen in privatem Besitz und ukrainische Staatsbetriebe wurden von Russland enteignet (vgl. Abschnitt „Enteignungen“).[435][438] Ins Visier genommen wurden Unternehmen, die vom Kreml als ukrainefreundlich, strategisch wichtig oder „unwirtschaftlich“ eingestuft wurden.[487] Das ukrainische Gas- und Ölunternehmen Chornomornaftoggaz, das zu 100 % in Besitz von Naftohas ist, wurde ebenfalls von Russland enteignet, also „verstaatlicht“ und unter Kontrolle von Gazprom gestellt.[434] Im Dezember 2015 schätzte Naftohas seine von Russland entwendeten Vermögenswerte auf 15,7 Mrd. US-Dollar.[488] Russland hat seit seiner Machtergreifung auf der Krim Zugang zu Offshore-Feldern mit 2,3 Billionen Kubikmeter Gas erhalten – genug, um die europäische Gasnachfrage für etwa 5 Jahre zu decken.[489] Der ukrainische Energieminister sagte im April 2014, dass die Ukraine wichtige Öl- und Gasfelder im ukrainischen Schwarzmeerschelf (darunter auch die Gasfelder Holitsynske und Odeske) und Einkommen aus dem Verkauf von Schiefergas verloren habe und schätzte den anfänglichen Schaden auf 40 Mrd. US-Dollar.[490]
Von den Schließungen und Enteignungen betroffen waren auch ukrainische Banken auf der Krim wie zum Beispiel die 339 Filialen der Privatbank, die bis dato mit mehr als 320.000 Kunden das größte Kreditinstitut der Krim war. Einwohner können seitdem nicht auf ihre ukrainischen Konten und Ersparnisse von der Krim aus zugreifen. Geldautomaten akzeptieren nur noch russische Karten.[491] Mastercard und Visa haben ihre Zahlungsdienste auf der Krim eingestellt.[492] Russische Politiker kritisierten das fehlende Interesse am Standort Krim. Trotz dessen meiden auch große russische Banken wie die Sberbank und die VTB die Krim aus Angst vor Sanktionen. Die Bankversorgung auf der Krim wird seit der Annexion größtenteils von der Russischen Staatlichen Commerzbank (RNKB) übernommen, die bis dahin nur in Moskau mit einer Filiale vertreten war.[493][494] 2017 erhielt die RNKB 265 Mio. US-Dollar aus dem russischen Staatsetat, um weiter auf der Krim arbeiten zu können.[495] Im August 2017 wurde die RNKB wegen der internationalen Sanktionen vom SWIFT-Netz abgetrennt.[496]
Preisentwicklung
Nach der Besetzung der Krim durch Russland kam es zu einem Anstieg der Preise von Gütern und Dienstleistungen. 2013 waren die Preise noch leicht rückläufig und es herrschte eine Deflation von 0,5 %. Nach der Annexion stieg die Inflation auf 42,5 % – die zweithöchste Inflationsrate auf der Welt nach Venezuela. Die Preise für Lebensmittel stiegen im Laufe des Jahres 2014 um 52,9 % und die Preise für Dienstleistungen um 27 %.[497][498] Bei einem Besuch auf der Krim im Mai 2016 sagte der russische Premierminister Dmitri Medwedew einer Rentnerin, die sich über steigende Preise und niedrige Renten beschwerte, dass Russland kein Geld habe und rief zum Durchhalten auf.[499][500]
Tourismus
Im Tourismussektor, der die Haupteinnahmequelle der Halbinsel darstellt, wurden Verluste verzeichnet. Die Zahl der ausländischen Besucher sank, nachdem der internationale Flug- und Schiffsverkehr auf der Krim eingestellt wurde.[485] Die Internationale Zivilluftfahrtorganisation meldete, dass die Ukraine nach wie vor das alleinige Recht hat, den Luftraum über der Krim zu kontrollieren.[501] Weil aber Russland für sich die Luftraumsicherung über der Krim beansprucht, rieten die Europäische Agentur für Flugsicherheit und die Europäische Organisation zur Sicherung der Luftfahrt ihren Mitgliedstaaten und internationalen Airlines von Flügen auf die Krim und über dem Fluginformationsgebiet Simferopol ab.[502] Seit der Annexion fliegen nur russische Airlines die Krim über Moskau und Sankt Petersburg an.[503] Vor der Annexion kamen über 70 % der Touristen vom ukrainischen Festland, aber die Zahl der ukrainischen Besucher ging zurück. Seit der russischen Besetzung kommt die Mehrheit der Touristen aus Russland hauptsächlich dank einer massiven staatlichen Kampagne, die „patriotische Ferien“ auf der Krim anpries und weil die Reisen von Beamten, Rentnern und Jugendlichen auf die Krim mit Subventionen unterstützt werden. Trotzdem brachen die Touristenzahlen nach der Besetzung ein.[499][500] Die Krim hatte vor der Annexion etwa 6 Millionen Besucher pro Jahr. Im Jahr 2014 sank die Zahl der Urlauber auf 3,8 Millionen, bevor sie im ersten Halbjahr 2015 um weitere 35 % sank.[484][504][505]
Export und Landwirtschaft
Handels- und Exportindustrien machen zusammen fast ein Drittel der Wirtschaft der Krim aus. Vor der Besetzung wanderten 60 % der Exporte in Länder außerhalb der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion und allein 25 % gingen in die Europäische Union.[506] Seit der Annexion ist die Einfuhr von Waren mit Ursprung auf der Krim in die EU verboten, es sei denn, die Waren werden von einem ukrainischen Ursprungszeugnis begleitet.[507]
Die Landwirtschaft, die eine der drei wichtigsten Wirtschaftsbranchen der Krim ist, leidet unter den Veränderungen im Zuge der Krim-Annexion.[508] Zur Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen fehlt das Wasser, weil die Ukraine die Wasserversorgung der Halbinsel nicht mehr vollständig übernimmt. Vor der Annexion gelangte ein Großteil des Wassers aus der Ukraine über den Nord-Krim-Kanal auf die Halbinsel (vgl. Punkt Wasserknappheit).[509] Der Wassermangel führte dazu, dass wasserabhängige Getreidesorten wie Reis und Mais nicht angebaut werden konnten. Hinzu kommt, dass auch internationale Getreidehandelsunternehmen wie Cargill und Dreyfus die Krim seitdem meiden.[508] Der Vorsitzende des Bauernverbandes schätzte die Situation als kritisch ein.[510] Anfang Juli 2018 forderte Sergei Aksjonow von der russischen Regierung dringende Beihilfen als Entschädigung für dürrebedingte Schäden und Ernteeinbußen.[511] Auch die Fischerei leidet unter der Abschottung vom ukrainischen Festland, weil die Ukraine der primäre Abnehmer für Fisch von der Krim war und Russland wegen der hohen Preise wenig Interesse am Import hat.[485]
Versorgung
Die Krim war bei der Strom-, Wasser- und Lebensmittelversorgung von der Ukraine abhängig.[512] Den Strombedarf konnte die Krim selbst nur zu etwa 10 % decken. Der Rest wurde vom ukrainischen Festland bezogen.[509] Die Ukraine stellte die Subventionierung des auf die Krim gelieferten Stroms im Juli 2014 ein und begann im September 2014 mit der Reduzierung der Stromlieferungen dorthin. Über ein Jahr nach der Annexion bezog die Krim weiterhin 70 bis 90 % der Energie vom ukrainischen Festland. Zum Beginn des Jahres 2016 stoppte die Ukraine die Stromlieferungen auf die Krim komplett.[513] Mitte 2015 gab Russland den Bau einer Unterwasser-Stromleitung für 47,3 Mrd. Rubel in Auftrag, um die Krim an die Stromversorgung der Region Krasnodar anzuschließen.[514] 2016 bestand diese aus vier Strängen mit einer Gesamtkapazität von 800 Megawatt. 2017 kamen zu diesen 800 MW noch 300 MW durch auf der Krim zur Abdeckung von Lastspitzen aufgebaute Gasturbinenkraftwerke sowie knapp 200 MW durch bereits vor der Annexion auf der Krim vorhandene Anlagen hinzu. Schon vor der Annexion vorhandene Windkraft- und Solaranlagen waren durch den Wegfall von Subventionen seit der russischen Besetzung nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben und fielen dadurch aus; Russland ist aber aufgrund der unzureichenden Stromversorgung an einem Ausbau dieser regenerativen Stromquellen interessiert. Ab 2015 errichtete Russland zwei Gaskraftwerke mit insgesamt 940 MW. Das Gas für diese und auch für andere Verbraucher auf der Halbinsel kommt nicht nur aus örtlicher Förderung, sondern auch durch eine im Dezember 2016 in Betrieb gegangene, 400 Kilometer lange Gasleitung von Krasnodar mit einer Kapazität von bis zu vier Milliarden Kubikmetern pro Jahr.[513] Kurz nach der Annexion wurden 90 % Lebensmittel und Industriegüter über die Landverbindung zwischen dem ukrainischen Festland und der Krim importiert.[509]
Schiffsverkehr
Seit der Besetzung der Krim blockiert Russland den ukrainischen und internationalen Schiffsverkehr im Asowschen Meer. Schiffe können das Asowsche Meer nur über die etwa 40 km lange Straße von Kertsch befahren, die das Gewässer mit dem Schwarzen Meer verbindet. Seit der Okkupation kontrolliert Russland beide Seiten der Straße von Kertsch.[210][211] Für die ukrainische Wirtschaft sind das Asowsche Meer und vor allem die dortigen Häfen Mariupol und Berdjansk von großer Bedeutung. Seit dem Bau der Krim-Brücke ist die Lage für den ukrainischen Schiffsverkehr noch schwieriger geworden. Die Brücke wurde so niedrig gebaut, dass nur Schiffe mit maximal 33 Metern Höhe sie passieren können. Das hat dazu geführt, dass sich der Schiffsverkehr und die Zahl der Schiffe halbiert haben, die früher Mariupol und Berdjansk anliefen.[210][211][515] Auch der Hafen in Henitschesk kann erhebliche Einnahmen einbüßen.[516] Seit der Blockade sind ukrainische Häfen vom Wasser aus zunehmend von der Welt abgeschnitten. Mariupol verzeichnete einen Rückgang der Einnahmen von 30 %.[211] Nach Schätzungen des ukrainischen Ministeriums für Infrastruktur belaufen sich die finanziellen Verluste aufgrund von Beschränkungen der Schifffahrt auf jährlich 20 bis 40 Millionen US-Dollar.[517] Zudem werden immer mehr ukrainische und ausländische Schiffe, die nach Mariupol und Berdjansk fahren, vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB festgehalten und kontrolliert, teilweise mehrmals, und die Schiffsbesatzungen werden verhört. Insgesamt hat die russische Marine ihre Präsenz erhöht, und Kriegsschiffe der Kaspischen Flottille wurden teilweise über den Wolga-Don-Kanal in das Asowsche Meer verlegt.[210] Russland rechtfertigt die steigende Zahl von Eingriffen in den ukrainischen Schiffsverkehr mit Sicherheitsbedenken. Die Ukraine und die Vereinigten Staaten sprechen hingegen von einer wirtschaftlichen Blockade und anhaltenden Versuchen Moskaus, die Ukraine noch weiter zu destabilisieren.[518][519]
Subventionen
Vor der Annexion bezog die Krim Subventionen. Gut zwei Drittel des Budgets kamen aus Kiew. Seitdem Russland die Halbinsel besetzt hat, muss Moskau die Kosten tragen und den Wegfall von Subventionen der ukrainischen Regierung kompensieren. Kurz nach der Annexion bezifferte Russlands Wirtschaftsminister das Haushaltsdefizit der Krim auf etwa eine Milliarde Euro.[520] Die Krim ist nach den georgischen Republiken Abchasien und Südossetien und der moldauischen Region Transnistrien das vierte Teilgebiet eines anderen Landes, das Russland besetzt hat und auf eigene Kosten unterhält. Da die Krim flächen- und bevölkerungsmäßig um ein Vielfaches größer ist als die drei anderen besetzten Gebiete, ist die wirtschaftliche Belastung für Russland vergleichsweise groß.[506] Im April 2015 schätzte der russische Premierminister Dmitri Medwedew die Gesamtkosten für die Annexion allein im Jahr 2014 auf 27 Mrd. Dollar, das sind 1,5 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts.[521]
Umwelt
Wasserknappheit
Seit der Annexion leidet die Krim unter akutem Wassermangel und Teile der Halbinsel versteppen. Vor der Annexion erhielt die Krim bis zu 85 Prozent der benötigten Wasserlieferungen über den Nord-Krim-Kanal im Süden der Ukraine. Der Großteil des Wassers diente der Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen und dem Betrieb von Industrieunternehmen. Seit der russischen Besetzung 2014 übernimmt die Ukraine die Wasserversorgung nicht mehr.[522] Gemäß der vierten Genfer Konvention (Artikel 55 und 56) ist es Aufgabe der Besatzungsmacht, die besetzten Gebiete mit lebensnotwendigen Gütern wie Wasser zu versorgen.[523] Auf der Halbinsel wurde nach Grundwasser gebohrt, das Wasser war allerdings zu salzig und hat die Böden weiter zerstört.[522][524][525] Wegen akuter Wasserknappheit riefen im Juni 2018 sechs Rajone im Norden der Krim den Notstand aus. Die sechs Rayone machen etwa 20 Prozent der gesamten Fläche der Halbinsel aus.[511] Im Juli 2018 veröffentlichte die Ukraine Satellitenbilder, die zeigten, dass große Teile der Vegetation im Norden der Krim vertrocknet sind.[526]
Im Zusammenhang mit der Wasserknappheit kam es im August 2018 in der Stadt Armjansk im Norden der Krim zu einem Chemieunglück, nachdem aus einer alten Chemiefabrik Schwefeldioxid entwichen war (vgl. Armjansk#Chemieunfall).[527][528]
Meerverhältnisse
Seit dem Bau der Krim-Brücke im Zuge der Annexion wird Treibeis auf dem Weg vom Asowschen Meer über die Straße von Kertsch blockiert. Das Treibeis bleibt sogar bei starkem Wind an den Brückenpfeilern hängen. Die Brücke wirkt demnach wie ein Damm. Das Eis staut sich und es entstehen Presseishügel.[516][529][530]
Die Brücke ist eine der Hauptverschmutzungsquellen im Schwarzen Meer. Seit dem Bau wurde eine erhöhte Konzentration von Schwebstoffen und verstärkte Algenblüte in den umgebenden Gewässern festgestellt.[516][531] Auf der Insel Tusla entstanden irreparable Umweltschäden. Auch der Wasseraustausch zwischen dem Asowschen und Schwarzen Meer wurde wesentlich beeinträchtigt, nachdem für die Brückenkonstruktion ein Damm aufgeschüttet wurde. Dies führte zu Veränderungen der Temperatur und der Eisverhältnisse in der Straße von Kertsch und im Asowschen Meer, die sich negativ auf viele Fischarten auswirken.[516]
Zeithistorische und politologische Forschung
Der Politologe und Publizist Ivan Krastev, Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, warnte mit Blick auf die Annexion der Krim 2014 bereits am 4. Juli 2014:
„‚München 1938‘ lehrt uns […], dass die Kapitulation vor den territorialen Forderungen einer aggressiven Diktatur keinen Frieden bringt. Obwohl eine Kapitulation kurzfristig Krieg vermeidet, macht sie einen größeren Krieg unter ungünstigeren Bedingungen später unausweichlich. Dieses Ereignis warnt uns nicht davor überzureagieren, sondern davor, untätig zu bleiben.“
Russischer Überfall auf die Ukraine seit 2022
Der russische Überfall auf die Ukraine ab Februar 2022 ist ein vom russischen Präsidenten Wladimir Putin befohlener Angriffskrieg, der zunächst auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine zielte und den seit 2014 schwelenden Russisch-Ukrainischen Krieg eskalieren ließ.
Am 21. Februar 2022 erkannte Russland die Unabhängigkeit der unter russischem Einfluss stehenden „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk an. Eine angebliche Bedrohung Russlands durch die Ukraine diente Putin als Vorwand für eine groß angelegte Invasion der Ukraine; diese begann am Morgen des 24. Februar 2022 gleichzeitig von Süden, Osten und Norden. Das ursprüngliche Kriegsziel Russlands, die rasche Eroberung Kiews und der Sturz der ukrainischen Regierung, musste jedoch Ende März 2022 aufgegeben werden. Russland hatte die Stadt Cherson bereits Anfang März im Handstreich und die Stadt Mariupol nach einer längeren Belagerung im Mai eingenommen und konzentrierte sich fortan auf eine Offensive im Osten des Landes, nachdem im Februar und März 2022 während russischer Angriffe abgehaltene Friedens- und Waffenstillstandsverhandlungen gescheitert waren.
Eine ukrainische Gegenoffensive im September 2022 drängte russische Kräfte weitgehend aus dem Großraum Charkiw zurück. Russland reagierte mit einer Teilmobilmachung sowie der völkerrechtswidrigen Annexion der Süd- und Ostukraine und begann, in den besetzten Gebieten die Russifizierung zu forcieren. Anfang November 2022 zogen sich die russischen Truppen auch von dem westlich des Dnepr liegenden Teil der Oblast Cherson zurück. Nach dem Abzug der russischen Truppen wurden in den befreiten Städten vielfach von Russland begangene Kriegsverbrechen bekannt. Die Kampfhandlungen dauerten in der Folgezeit mit unverminderter Heftigkeit an, wobei insbesondere die seit August 2022 tobende Schlacht um Bachmut auf beiden Seiten zu hohen Verlusten führte. Hatten die russischen Streitkräfte bereits mit Beginn des Überfalls begonnen, die ukrainische Zivilbevölkerung mit Luftangriffen auf Städte zu traktieren, greift Russland spätestens seit dem Winter 2022/2023 auch regelmäßig, mitunter täglich, die Energieinfrastruktur der Ukraine aus der Luft an. Die ukrainische Gegenoffensive im Sommer 2023 zur Befreiung der Süd- und Ostukraine scheiterte; Munitions- und Personalmangel bei den ukrainischen Streitkräften führte in den Jahren 2023 und 2024 stattdessen zu Niederlagen in der Schlacht um Bachmut und in der Schlacht um Awdijiwka. Auf ein weiteres Vorrücken russischer Truppen im Osten des Landes reagierte die Ukraine im August 2024 mit einem überraschenden Vorstoß in die Region Kursk, bei dem erstmals reguläre Truppen Kiews auf russischem Staatsgebiet operierten. Dennoch erzielten die russischen Streitkräften im Donbass weitere Geländegewinne, wenngleich unter hohen Verlusten.
Der Russland-Ukraine-Krieg ab 2022 ist der erste Konflikt, bei dem zwei gegnerische Kriegsparteien in ihrer Kriegsführung massiv auf Drohnen zurückgreifen. In keinem Krieg zuvor wurden so viele Drohnen eingesetzt wie in diesem.
Durch den Überfall starben allein bis Ende des Jahres 2022 zehntausende, wenn nicht über hunderttausend Menschen. Durch den Krieg wurden in der Ukraine ganze Ortschaften zerstört, insbesondere aufgrund von russischen Luftangriffen und Gefechten die Städte Mariupol, Bachmut und Awdijiwka. Zusätzlich kam es zu großflächigen Naturzerstörungen in der Ukraine. Der Krieg löste die drittgrößte Fluchtbewegung aller Zeiten in Europa (nach denen beider Weltkriege) aus. Der russische Angriff wurde im März 2022 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit großer Mehrheit verurteilt. Viele Staaten verhängten umfangreiche Wirtschaftssanktionen gegen Russland und leisteten der Ukraine humanitäre und militärische Hilfe. Durch den russischen Überfall und seine Folgen stiegen weltweit die Preise für Lebensmittel und Energie. Mehrere Staaten gerieten infolge des Krieges in eine Wirtschaftskrise. Proteste gegen den Krieg führten in Russland zu Festnahmen und einer verstärkten Zensur in russischen Medien. Dazu gehört auch das Verbot der Verwendung der Begriffe „Invasion“ und „Krieg“ im Zusammenhang mit dem Konflikt; staatliche russische Medien nutzen daher nahezu ausschließlich den Euphemismus „militärische Spezialoperation“ (russisch специальная военная операция spezialnaja wojennaja operazija; abgekürzt СВО SWO).
Vorgeschichte
Russischer Truppenaufmarsch
Anfang April 2021 stellte die ukrainische Seite einen Aufmarsch russischer Truppengruppierungen entlang der Grenze zur Ukraine fest. Der Chef des ukrainischen Grenzschutzes schätzte, dass sich bereits 85.000 russische Soldaten auf der Krim oder in einem Gebietsstreifen von 40 km Breite entlang der ukrainischen Grenze befanden;[45] einen derartigen Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze hatte es seit 2014 nicht mehr gegeben.[46] Die Außenminister der G7-Staaten bekräftigten ihre „Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen“.[47] Russland kündigte an, vom 24. April bis Ende Oktober 2021 ausländischen Militärschiffen nur noch eingeschränkt die Durchfahrt auf drei Wasserstraßen zum Asowschen Meer zu erlauben.[48] Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte am 20. April 2021, es seien mehr als 100.000 russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine und auf der Halbinsel Krim stationiert.[49][50][51]
Im Juli 2021 veröffentlichte Putin einen Aufsatz unter dem Titel Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern, in dem er die Existenz der Ukraine als eigene Nation bestritt und behauptete, die ukrainische Regierung wäre von westlichen Verschwörungen gesteuert.[52] Ende September endete die Überwachung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) an zwei Grenzübergängen der von Separatisten kontrollierten „Volksrepubliken“ nach Russland, nachdem Russland seine Zustimmung dazu zurückgezogen hatte.[53] Auch im Herbst 2021 wurde in der Ostukraine, trotz eines vereinbarten Waffenstillstands[54], weiter gekämpft. Bei Hranitne beschossen prorussische Separatisten per Artillerie Positionen der ukrainischen Armee; dabei wurde ein Soldat getötet. Daraufhin setzte die ukrainische Armee eine Drohne des Typs Bayraktar TB2 zur Zerstörung des verwendeten Artilleriegeschützes ein und brach damit ihrerseits die Abmachung der Konfliktparteien, keine Drohnen einzusetzen.[55][56] In den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten wurden fast täglich Mitarbeiter der OSZE in ihren Bewegungen behindert; im Oktober wurden erneut die Büros und Fahrzeuge, diesmal in Donezk und Horliwka, blockiert und den OSZE-Beobachtern Kontrollgänge gänzlich verwehrt.[57]
Spätestens ab Herbst 2021 wiesen westliche Dienste und offizielle Stellen auf „ungewöhnliche“ russische Truppenbewegungen in der Nähe der ukrainischen Grenze hin.[58] Laut Geheimdienstdokumenten standen im Dezember 2021 unterhalb von Jelnja (wo bereits 75.000 Soldaten versammelt seien) insgesamt 50 Bataillone mit je 1000 Soldaten unweit der russisch-ukrainischen Grenze und auf der Krim bereit. Dazu kämen 50.000 weitere Soldaten, die dorthin verlegt würden. Insgesamt nannte das US-Papier 175.000 russische Soldaten in der Nähe der Ukraine. Im Dezember 2021 erklärte US-Präsident Joe Biden, dass US-Geheimdienste Kenntnisse hätten, dass Russland eine Invasion in die Ukraine plane.[59] Bei einem Treffen von Ministern der G7-Staaten in Liverpool[60] schloss sich die japanische Regierung den Androhungen von Sanktionen an.[61] Als Reaktion auf den Truppenaufbau lieferten einige NATO-Staaten, vor allem die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich, mehr Waffen in die Ukraine.[62]
Russische Forderungen und westliche Bemühungen um Deeskalation
Im Herbst 2021 entsandte US-Präsident Biden William Burns in geheimer Mission nach Moskau, um Putin vor einem Angriff auf die Ukraine zu warnen.[63]
Trotz des massiven Militäraufmarschs russischer Streitkräfte bestritt Wladimir Putin Planungen für einen Überfall auf das Nachbarland und verlangte Sicherheitsgarantien seitens der NATO, wie den Verzicht auf eine Osterweiterung der NATO und den Abzug aller Truppen und schweren Waffen aus denjenigen Staaten, die zuvor dem Warschauer Pakt angehört hatten.[64] Die USA und die NATO nannten die russischen Forderungen inakzeptabel, auch mit Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Staaten.[64] Der russische Militärexperte Leonid Iwaschow schrieb, Außenminister Lawrow hätte dem Westen ein unerfüllbares Ultimatum gestellt.[65]
In Vorbereitung des Treffens des NATO-Russland-Rates hatten sich am 7. Januar 2022 die NATO-Außenminister über die dort zu vertretende Position der Mitgliedsländer des Bündnisses in der NATO-Ukraine-Krise abgestimmt. Nach dem Treffen bewertete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das Lagebild des russischen Aufmarschs an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine so: Russland ziehe Schritt für Schritt mehr Kräfte mit vielen verschiedenen militärischen Fähigkeiten an dieser Grenze zusammen. Man sehe dort gepanzerte Einheiten, Artillerie und Ausrüstung zur elektronischen Kriegsführung. In der NATO wurde die Zahl der in Grenznähe operierenden taktischen Bataillone auf ungefähr 60 geschätzt.[66] Als Mitte Januar 2022 Unterhändler der USA und Russlands verhandelten, waren laut der New York Times nach wie vor etwas mehr als 100.000 russische Soldaten nahe der ukrainisch-russischen Grenze stationiert; außerdem seien Kampfflugzeuge, Transporthubschrauber und andere Helikopter der russischen Streitkräfte in die im Südwesten Russlands gelegenen Militärbasen verlegt worden.[67]
Russland forderte bereits vor dem Treffen des NATO-Russland-Rates am 12. Januar von der NATO „Sicherheitsgarantien“; die NATO solle keine weiteren Mitglieder aufnehmen und ihre Truppen aus Osteuropa abziehen.[68] Bei dem Treffen selbst kam es zu keinen substantiellen Vereinbarungen. Der russische OSZE-Botschafter Alexander Lukaschewitsch behauptete, Russland sei ein friedliebendes Land, „aber wir brauchen keinen Frieden um jeden Preis“.[69] Nach Erkenntnissen der NATO setzte Russland seine Truppenbewegungen an der Grenze zur Ukraine unverändert fort.[70] Mit der Entsendung russischer Soldaten, Panzer, Artilleriegeschütze und Militärfahrzeuge nach Belarus ab 18. Januar – offiziell sollten im Februar gemeinsame Manöver stattfinden[71] – verschärfte Russland die Situation weiter.[71] Nach Angaben von US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beabsichtigte die Russische Föderation, bis Anfang Februar die Präsenz ihrer Truppen in Belarus auf mehr als 30.000 Soldaten auszuweiten.[72]
Die Vereinigten Staaten und die NATO übergaben am 26. Januar ihre Antworten auf die ultimativ von Russland geforderten Sicherheitsgarantien. Einen Verzicht auf eine künftige Aufnahme der Ukraine in die NATO wiesen die Vereinigten Staaten darin unter Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht zurück.[73] Die NATO schlug in ihrer Antwort vor, die Vertretungen in Moskau und Brüssel wieder zu öffnen, die seit einem Spionagestreit geschlossen waren. Außerdem wolle das Bündnis die bestehenden militärischen Kommunikationskanäle in vollem Umfang nutzen, um die Transparenz zu fördern und Risiken zu verringern. In einem ersten Schritt zur Deeskalation solle man sich gegenseitig über Manöver und Atompolitik im NATO-Russland-Rat verständigen.[74] Russland sagte, es wolle die Vorschläge prüfen.[73] Am 31. Januar 2022 trat in New York gegen den Willen Russlands der UN-Sicherheitsrat zusammen, um auf einer öffentlichen Sitzung über die von Russland herbeigeführte Krise zu beraten. Die Vereinigten Staaten hatten das Treffen beantragt, weil von einem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine ausgegangen wurde. Russland insistierte, dass keine Invasion geplant sei.[72]
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, warf zur gleichen Zeit ausländischen Journalisten „Panikmache“ vor. Die Lage sei zwar ernst, doch seiner Einschätzung zufolge gebe es keine größere Eskalation als noch ein Jahr zuvor. Die Unsicherheit vor einer militärischen Verschärfung des Konflikts mache allerdings der Wirtschaft der Ukraine mit dem Abzug von bereits mehr als elf Milliarden Euro Investitionen und dem gefallenen Kurs der Landeswährung Hrywnja schwer zu schaffen.[75] Laut Umfragen hielt die Hälfte der Bevölkerung einen russischen Einmarsch für möglich. Viele Menschen bereiteten sich auf einen möglichen Ernstfall vor und viele ließen sich als Reservisten eintragen.[76]
Vom 4. bis 20. Februar 2022 fanden die Olympischen Winterspiele in Peking statt, an deren Eröffnungsfeier Wladimir Putin teilnahm. Vertreter der Regierung Biden erklärten, China habe Russland gebeten, den Krieg nicht vor dem Ende der Spiele zu beginnen.[77]
Eskalation der russischen Aggression 2022
Ende Januar 2022 trafen sich Unterhändler der Ukraine und Russlands im Normandie-Format. Sie tauschten Positionen und Forderungen aus und bekannten sich zu einer 2020 vereinbarten Waffenruhe.[78] Ebenfalls Ende Januar veröffentlichte der Vorsitzende der Allrussischen Offiziersversammlung, Generaloberst a. D. Leonid Iwaschow, einen offenen Brief mit einem Appell an Putin, keinen Krieg zu beginnen: Es könne niemand mit Drohungen und Gewalt dazu gezwungen werden, Russland und die russische Regierung zu lieben. Iwaschow warnte, dass sich Russland durch eine Invasion zum Pariastaat machen würde. Die Anwendung von Gewalt gegen die Ukraine würde „die Existenz Russlands selbst als Staat in Frage stellen“.[79]
Ein weiteres Treffen am 10. Februar 2022 im Normandie-Format endete ergebnislos.[80] Ebenfalls am 10. Februar startete ein gemeinsames Manöver Russlands und Belarus’ im Grenzgebiet zur Ukraine;[81] es sollte planmäßig am 20. Februar enden.[82] Am 11. Februar warf das ukrainische Außenministerium Russland vor, eine Seeblockade im Schwarzen Meer errichtet zu haben.[83]
Am 13. Februar 2022 kündigte Russland einen teilweisen Truppenrückzug an, verstärkte jedoch im Gegenteil seine militärische Präsenz.[81] In der ersten Februarhälfte riefen die Regierungen mehrerer Staaten (Japan,[84] Niederlande,[84] Vereinigtes Königreich,[84] USA,[85] Deutschland,[86] Australien, Neuseeland, Italien und Spanien) ihre Bürger zum Verlassen der Ukraine auf.[87] Gleichzeitig erhöhten die NATO-Mitgliedsstaaten – insbesondere die USA – ihre Truppenstärke in Osteuropa. Nach Polen entsandten die USA zusätzlich zu dem bereits stationierten Kontingent der amerikanischen Armee 4700 weitere Soldaten. In den baltischen Staaten wurde die Zahl ausländischer NATO-Soldaten bis zum 11. Februar auf knapp 4000 erhöht. In Rumänien wurden bis dahin 2000 Soldaten aus anderen NATO-Staaten stationiert.[88]
Am 11. Februar teilten der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA und das US-Militär der deutschen Bundesregierung und anderen NATO-Verbündeten mit, sie befürchteten einen Angriff Russlands auf die Ukraine bereits in den kommenden Tagen. Daraufhin erklärte der ukrainische Präsident den für den russischen Einmarsch vorausgesagten 16. Februar 2022 per Dekret zum Nationalfeiertag „Tag der Einheit“.[89][90] Bei dieser Veröffentlichung von Geheimdiensterkenntnissen mit dem Ziel, die russische Invasion wenn möglich noch abzuwenden, handelte es sich nach der Einschätzung des Direktors des schweizerischen Nachrichtendienstes NDB, Christian Dussey, um einen „Paradigmenwechsel“.[91]
Am 14. Februar 2022 gab US-Außenminister Blinken bekannt, dass die USA als Vorsichtsmaßnahme ihre Botschaft von Kiew nach Lwiw verlegt hätten.[92] Am 17. Februar kam es zu den meisten Waffenstillstandsverletzungen seit 2020, jedoch weniger als in den Jahren davor.[93] Am Tag darauf begannen prorussische Separatisten laut eigenen Angaben mit einer Massenevakuierung ziviler Einwohner aus dem Separatistengebiet Volksrepublik Donezk in Richtung Russland.[94] Laut den Metadaten eines Videos, in dem die Separatistenführer aufgrund angeblich „überraschender“ Ereignisse zur Ausreise aufriefen, wurde jenes bereits zwei Tage zuvor aufgenommen. Die vorgefertigten Videos stützten die Darstellungen, wonach sowohl Evakuierungen als auch Warnungen aus den besetzten Donbas-Gebieten als Vorwand orchestriert waren, um einen Krieg vorzubereiten.[95] Am 18. Februar weiteten sich die Waffenstillstandsverletzungen in der Ostukraine massiv aus. So zählte die OSZE allein an jenem Tag in der Oblast Luhansk 975 Verstöße (davon 860 Explosionen) gegen das Waffenstillstandsabkommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verlangte am selben Tag einen sofortigen Waffenstillstand und erklärte sich zu Friedensgesprächen unter Aufsicht der OSZE („trilaterale Kontaktgruppe“) bereit.[96] Am 19. Februar rief der prorussische Separatistenführer Denis Puschilin zur Generalmobilmachung aller Männer in der von prorussischen Separatisten ausgerufenen „Volksrepublik Donezk“ auf. Auch in der ebenfalls von prorussischen Separatisten kontrollierten „Volksrepublik Lugansk“ wurde allen Männern im Alter von 18 bis 55 Jahren verboten, das Gebiet zu verlassen. Am selben Tag führten die russischen Streitkräfte ein Manöver und Waffentests von ballistischen Raketen und nuklear bestückbaren Marschflugkörpern durch.[97][98]
Vom 18. bis 20. Februar fand die 58. Münchner Sicherheitskonferenz statt. Von russischer Seite nahm erstmals kein Regierungsvertreter an der Konferenz teil.[99][100] Teilnehmer der Konferenz forderten Russland auf, vom Einmarsch in die Ukraine abzusehen; anderenfalls würden schwere Wirtschaftssanktionen die Folge sein. Der amerikanische Außenminister Antony Blinken erneuerte aber zugleich auch sein Verhandlungsangebot. Er werde sich mit dem russischen Außenminister Sergei Lawrow am Mittwoch, dem 23. Februar in Europa treffen, sofern Russland nicht vorher mit dem Krieg beginne.[101] Der chinesische Außenminister Wang Yi betonte die Souveränität der Ukraine, sprach sich gleichzeitig aber gegen eine Osterweiterung der NATO aus.[102]
Der ukrainische Präsident Selenskyj warf dem Westen Sprach- und Tatenlosigkeit sowie Indifferenz vor; er erwarte sich mehr echte Unterstützung statt „leerer Worte“.[103][104] Insbesondere forderte er von den NATO-Staaten, die Ukraine entweder zeitnah in das Bündnis aufzunehmen oder aber eine klare Ablehnung auszusprechen. Außerdem stellte er am 19. Februar 2022 einen Ausstieg seines Landes aus dem Budapester Memorandum in den Raum.[105] Ein solcher Schritt würde bedeuten, dass die Ukraine wieder Atomwaffen besitzen könnte.
Am 19. Februar wurden bei Gefechten zwei ukrainische Soldaten getötet und vier verletzt. Die ukrainische Armee warf den Separatisten rund 70 Verstöße gegen den Waffenstillstand seit Mitternacht vor.[106] Am selben Tag begann die Generalmobilmachung in den selbsternannten Volksrepubliken. Männer jeden Alters auch ohne jegliche militärische Ausbildung wurden nach wenigen Tagen an die Front gebracht.[107]
Am Morgen des 21. Februar wurde, so die russische Darstellung, ein Grenzposten in der Region Rostow durch ukrainischen Mörserbeschuss zerstört – eine Behauptung, die von einem Militärsprecher dementiert wurde.[108] Am selben Tag starben während der eskalierenden Spannungen erneut zwei ukrainische Soldaten in Sajzewe nördlich von Donezk sowie ein Zivilist durch russischen Beschuss.[109]
Anführer der prorussischen Separatisten und das russische Parlament (Duma) forderten am 21. Februar die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk.[110] Dieser Aufforderung kam der russische Präsident Wladimir Putin durch Unterzeichnung eines entsprechenden Dekrets (Ukas) noch am selben Tag nach. In einer einstündigen Fernsehansprache[111] sprach Putin der Ukraine die Staatlichkeit ab und bezeichnete die Ostukraine als „historisch russisches Gebiet“; die Existenz der Ukraine sei ein „Betrug an Russland“.[112] Unmittelbar danach gab Putin, unter Berufung auf am selben Tag abgeschlossene „Freundschafts- und Hilfsabkommen“ mit den Separatistenregionen, der russischen Armee den Befehl, nach Donezk und Lugansk – und damit auf ukrainisches Territorium – vorzurücken.[113][114] Am Abend des 21. Februar hielt Putin eine aggressive, von russischem Nationalismus geprägte 56-minütige Ansprache im Fernsehen voller „Opfermythen“ und „Pseudohistorismus“, so eine journalistische Einschätzung. Putin beschrieb darin die Staatlichkeit der Ukraine als Werk Lenins, der ukrainischen Nationalisten entgegengekommen sei. Das Land sei nicht lebensfähig, sondern eine Kolonie mit korruptem Marionetten-Regime. Die NATO habe Russland umzingelt, während die Ukraine Atomwaffen entwickeln wolle. Als Rechtfertigung für seinen wenig später folgenden Marschbefehl behauptete er einen von der Ukraine verübten Völkermord an Russen im ukrainischen Donbas.[115][116]
Spitzenpolitiker der EU und ihrer Mitgliedsstaaten sowie die Regierung der USA verurteilten das Vorgehen Russlands als eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht, gegen das Abkommen von Minsk und gegen die territoriale Integrität der Ukraine und kündigten in Reaktion darauf die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland an.[117][118]
Am 22. Februar votierte die Duma einstimmig für die tags zuvor geforderte und beschlossene Anerkennung der beiden Separatistenregionen als unabhängige „Volksrepubliken“. Die „Freundschafts- und Hilfsabkommen“ erlangten noch am selben Tag durch Putins Unterzeichnung Gesetzeskraft. Der russische Föderationsrat votierte ebenfalls am selben Tag einstimmig für den Einsatz von russischem Militär in den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk.[119]
Vor dem Krieg wurden die ukrainischen Streitkräfte und Munitionsbestände dezentralisiert und die Flugzeuge von großen Militärflughäfen, den offensichtlichen Primärzielen eines Aggressors, abgezogen.[120] Die Zahl der Waffenstillstandsverletzungen nahm am 23. Februar wie schon am Tag zuvor erneut zu.[121] Am 23. Februar beschloss das ukrainische Parlament, ab 24. Februar einen landesweiten 30-tägigen Ausnahmezustand zu verhängen.[122][123]
Kriegsziele Russlands
Ideologische Grundlage der „putinistischen“ Politik Russlands ist das Ziel einer „Wiederherstellung“ der Russischen Welt.[124]
Als Gegner werden dabei die USA betrachtet, die die NATO und die EU vollständig kontrollieren und als Herrschaftsinstrument benutzen würden. Putin hat bereits den Russisch-Ukrainischen Krieg – den er 2014 begonnen hatte – damit begründet, die NATO-Osterweiterung seit 1997 habe „russische Sicherheitsinteressen“ missachtet.[125] Am 1. Dezember 2021 forderte er die NATO erneut auf, sich nicht mehr nach Osten zu erweitern.[126] In konkreten, verbindlichen Vereinbarungen müsse sie auch für die Zukunft „die Stationierung von bedrohlichen Waffensystemen in unmittelbarer Nähe des Gebiets der Russischen Föderation ausschließen“. Seiner Meinung nach habe die NATO sich nicht an frühere, mündliche Versprechen gehalten, dass die NATO sich nach 1990 nicht weiter in Richtung Russland ausdehnen werde.[127] Mittelfristig müsse die NATO-Erweiterung östlich der Oder rückgängig gemacht werden, da sie eine Bedrohung für Russland darstelle.
Putin hatte schon 2021 ein Existenzrecht der Ukraine bestritten, vielmehr seien Ukrainer und Russen ein einziges Volk. Gemäß der russischen Propaganda sollen neben der Krim und dem Donbas weite Teile der Ostukraine künftig in der russischen Einflusssphäre bleiben, die „Westukraine könne in Teilen an Polen, Ungarn und Rumänien abgetreten werden.“[128]
Am 22. Februar 2022 forderte Putin in einer Pressekonferenz von der Ukraine, sie müsse die Krim als russisches Staatsgebiet anerkennen, dürfe niemals der NATO beitreten und die Waffen, die ihr der Westen geliefert habe, nicht einsetzen. Dabei gehe es um eine „Demilitarisierung“ der Ukraine, deren Regierung von Faschisten geführt werde. Das Minsker Abkommen sei hinfällig. Umstrittene Fragen müsse die Ukraine vielmehr mit der Führung der „Volksrepubliken“ lösen. Putin behauptete nochmals, er werde russische Truppen „im Moment nicht“ in die Ukraine entsenden. Kurz zuvor hatte Russland die Unabhängigkeit der Separatisten-Regionen anerkannt; die Ukraine lehnte Verhandlungen mit ihnen ab. Denis Puschilin, der Chef der „Volksrepublik Donezk“, erklärte, er wolle die genauen Grenzen erst später klären.[129]
In einer Fernsehansprache am Morgen des 24. Februar, während einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates,[130] verkündete Putin, nachdem er noch tags zuvor alle Angriffspläne geleugnet hatte, den Beginn einer „militärischen Spezialoperation“ und bezog sich zur Rechtfertigung der Invasion unter anderem auf die NATO-Osterweiterung seit 1997, den Angriffskrieg gegen den Irak (2003) sowie auf den Überfall auf die Sowjetunion durch Nazideutschland im Jahr 1941:[131]
„Die USA sind immer noch ein großes Land, eine systembildende Macht. Ihre Trabanten fügen sich nicht nur demütig und gehorsam, singen bei jeder Gelegenheit mit, sondern sie kopieren auch ihr Verhalten und akzeptieren begeistert die von ihnen vorgeschlagenen Regeln. […] Der weitere Ausbau der Infrastruktur des Nordatlantischen Bündnisses, die begonnene militärische Erschließung des ukrainischen Territoriums, ist für uns inakzeptabel. Das Problem liegt natürlich nicht bei der NATO-Organisation selbst – sie ist nur ein Instrument der amerikanischen Außenpolitik.“
„Uns wurde einfach keine andere Möglichkeit als die, zu der wir heute gezwungen sind, gelassen. Wir müssen Russland und unser Volk verteidigen. Die Umstände verlangen von uns, dass wir entschlossen und sofort handeln. Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten. In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Teil 7 Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen mit Zustimmung des russischen Föderationsrates und in Umsetzung der von der Föderalen Versammlung am 22. Februar dieses Jahres ratifizierten Verträge über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk den Beschluss gefasst, eine besondere militärische Operation durchzuführen. […] Gleichzeitig sehen unsere Pläne nicht vor, ukrainische Gebiete zu besetzen. Wir haben nicht die Absicht, jemandem etwas mit Gewalt aufzuzwingen. […]“
Zentrales anfängliches Kriegsziel Russlands war die Einnahme Kiews innerhalb weniger Tage zum Sturz der dortigen Regierung; als Vorbild diente vermutlich der Einmarsch in der Tschechoslowakei 1968. Man rechnete offenbar nicht mit ernsthaftem Widerstand der Ukraine; westliche Medien meldeten, russischen Soldaten sei gesagt worden, sie seien bald wieder zuhause.[132] Bei russischen Truppen sichergestellte Dokumente deuteten darauf hin, dass Russland innerhalb von zehn bis zwölf Tagen seine militärischen Ziele erreicht haben wollte.[133][134]
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj behauptete in einem Interview mit russischen Journalisten, dass in den ersten besiegten russischen Militärkonvois Paradeuniformen gefunden wurden, was laut Selenskyj darauf hindeute, dass die russische Armee glaubte, dass die ersten bzw. vordersten russischen Einheiten ein Ende des Krieges erleben würden und eine Parade in der ukrainischen Hauptstadt Kiew abhalten könnten.[135]
Der russische Generalmajor Rustam Minnekajew erklärte am 22. April, dass Russland in der zweiten Phase des Krieges den Donbas im Osten sowie den kompletten Süden der Ukraine bis nach Transnistrien in der Republik Moldau einnehmen wolle. Damit wäre die Ukraine komplett vom Schwarzen Meer getrennt worden.[136] Minnekajew erklärte zudem, dass nicht nur in der Ukraine, sondern auch in der Republik Moldau die russischsprachige Bevölkerung unterdrückt werde.[137]
Nachdem in Transnistrien zwei Radiomasten gesprengt worden waren, die russische Radiosender übertragen hatten,[138] warnte das russische Außenministerium am 26. April 2022 vor einem Szenario, in dem Russland intervenieren müsse.
Im Juli 2022 bekräftigte der russische Außenminister Lawrow, dass die gewählte ukrainische Regierung gestürzt werden und weitere Gebiete außerhalb des Donbas erobert werden sollten.[139]
Wirtschaftliche Interessen Russlands
Dem deutschen Schriftsteller und Essayisten Christoph Brumme zufolge waren auch wirtschaftliche Interessen ein Motiv für Russlands Überfall auf die Ukraine. Er verwies auf Lithium-Vorkommen im Donbas und den Getreidereichtum der Ukraine, was für Russland bei einer Einnahme der Ukraine eine „Monopolstellung auf dem Weltmarkt“ bedeuten würde.[140] Im Jahr 2022 bestätigte der russische General Wladimir Owtschinski, dass die „russische Spezialoperation“ das Ziel habe, sich die ukrainischen Lithium-Lager anzueignen. Er behauptete, Russland würde damit den Vereinigten Staaten zuvorzukommen. Tatsächlich war es das australische Unternehmen European Lithium, das Ende 2021 die Schürfrechte für Lithium-Vorkommen in der Oblast Donezk und in der Oblast Kirowohrad erhielt. Fast zeitgleich hatte auch das chinesische Unternehmen Chengxin Lithium dafür einen Antrag gestellt, war jedoch abgewiesen worden.[141][142]
Zwar betragen Russlands wirtschaftliche Verluste durch den Krieg und die Sanktionen des Westens nach Einschätzung der US-Regierung bis 2025 voraussichtlich rund 1,3 Billionen Dollar, und die direkten finanziellen Aufwendungen für die Durchführung der Krieges werden (Stand Herbst 2024) auf etwa 250 Milliarden US-Dollar geschätzt – Kosten, die für Russland nicht absehbar waren. Doch kontrollierte Russland in den besetzten Gebieten im Donbas laut einer im Sommer 2022 veröffentlichten Studie des kanadischen Thinktanks SecDev Energievorkommen, Metalle und Mineralien im Wert von mindestens 12,4 Billionen Dollar, darunter 41 Kohlefelder (63 Prozent der ukrainischen Kohlevorkommen), 27 Erdgasfelder, 9 Ölfelder, 6 Eisenerzlagerstätten, 2 Titanerzlagerstätten, 1 Strontium- und 1 Uranlagerstätte, 1 Goldlagerstätte und 1 großen Kalksteinbruch. Der Gesamtwert der nationalen Rohstoffbestände in der Ukraine wird auf über 26 Billionen US-Dollar geschätzt.[141] Der Wert von Lithium und seltenen Erden wird in der Ukraine auf rund 11,5 Billionen Dollar geschätzt.[142] Im Januar 2024 erteilte die russische Besatzerverwaltung in der Oblast Donezk dem russischen Ministerium für Ökologie und natürliche Ressourcen die „Genehmigung“ zum Abbau von Lithium in der bei Kurachowe verorteten Shevchenko-Lagerstätte, wo das Lithium-Vorkommen auf einen Wert von hunderten Milliarden US-Dollar geschätzt wird.[141]
Durch die grüne Transformation bzw. Energiewende in Europa ist Russlands gewohntes Geschäfts- und Existenzmodell, der Handel mit fossilen Energieträgern, bedroht. Zwar schafft die Energiewende neue Abhängigkeiten; denn Technologien wie Windräder, Photovoltaik und E-Auto-Batterien sind auf Lithium und seltene Erden angewiesen. Sie in Europa zu fördern, käme wegen hoher Umweltauflagen, niedriger Akzeptanz bei der Bevölkerung und beträchtlicher Arbeitskosten zu teuer (weswegen sie aus China und Ländern des globalen Südens importiert wurden); jedoch nimmt die Ukraine mit 800 Lagerstätten von 94 unterschiedlichen Bodenschätzen den vierten Platz in der Welt ein und würde Russland damit als Handelspartner verdrängen. Wenige Monate vor dem Beginn der russischen Invasion hatten die EU und die Ukraine einen Green Deal bzw. ein Transformationsprogramm für die Ukraine unterzeichnet; denn die ukrainische Volkswirtschaft war zu dem Zeitpunkt die energieintensivste der Welt mit der zugleich ineffektivsten und teuersten thermischen Stromerzeugung. Das Programm sah eine weitere wirtschaftliche Verflechtung beider Vertragsparteien sowie die Klimaneutralität der Ukraine bis zum Jahr 2060 vor. Neben Flächen für den Ausbau der Wind- und Solarenergie verfügt die Ukraine außerdem über Infrastruktur, um grünen Wasserstoff in die EU zu transportieren. Außerdem sind 22 von 30 Rohstoffen, die die EU als strategisch wichtig einstufte, in großen Mengen in der Ukraine vorhanden. Russland könnte nur dann von der Energiewende in Europa profitieren, wenn es in den Besitz der Ressourcen und Infrastrukturen auf ukrainischem Boden kommt. Europa wäre dann noch abhängiger von Russland. Falls Russland seine Kriegsziele erreichen sollte, kann Russland mehr rauben und gewinnen, als es im Frieden durch einen verringerten Export nach Europa verlieren würde.[141][142]
Laut Christoph Brumme hatte die russische Elite, insbesondere auch russische Generäle, ihr Vermögen und Eigentum in der Ukraine zur Geldwäsche angelegt.[140]
Meinungsbeiträge in russischen Staatsmedien
„Der Angriff Russlands und der neuen Welt“
Am 27. Februar 2022 veröffentlichten die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti und das Propaganda-Portal Sputnik versehentlich einen Kommentar, der offensichtlich von einem Erfolg der Pläne Wladimir Putins als Szenario ausging und eigentlich erst nach dem erwarteten raschen „Sieg über die Ukraine“ veröffentlicht werden sollte. Der Kommentar war mit „Наступление России и нового мира“ betitelt, was sowohl mit „Der Aufbruch Russlands und der neuen Welt“ als auch mit „Der Angriff Russlands und der neuen Welt“ übersetzt werden kann. Demnach sollten nach dem „endgültigen und schnellen Sieg“ Russlands die drei Staaten Russland, Belarus und die Ukraine geopolitisch fortan als Union handeln. Durch den „Sieg“ habe Russland seine historischen Grenzen in Europa zurückerlangt, und der hilflose Westen könne sich nur lautstark darüber ärgern. Russland sei dabei, seine Einheit wiederherzustellen, und die „Tragödie von 1991“ (der Zerfall der Sowjetunion) sei überwunden.[143]
„Was Russland mit der Ukraine tun sollte“
Am 3. April 2022 erklärte der Autor Timofei Sergeizew in einem Beitrag für RIA Novosti die „Vernichtung der Ukraine als Staat“ als Kriegsziel. Er fordert dazu auf, zum Zweck der „Entnazifizierung“ der Ukraine „solche zehntausenden Menschen zu bestrafen und zu töten, die sich an der Verteidigung der Ukraine während des Kriegs beteiligen“. Sergeizew schreibt weiter: „Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – höchstwahrscheinlich die Mehrheit – von der nationalsozialistischen Politik beherrscht und in sie hineingezogen wurde. Das heißt, wenn die Hypothese ‚das Volk ist gut – die Regierung ist schlecht‘ nicht funktioniert. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik, aller ihrer Maßnahmen, und die Tatsache selbst ist ihr Gegenstand.“ Die „Entnazifizierung“ der Überlebenden „besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repression (Unterdrückung) der nationalsozialistischen Gesinnung und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Erziehung“.[144]
In dem Text wird der ukrainischen Regierung und der Mehrheit der Menschen in der Ukraine unterstellt, vom Gedankengut des ukrainischen Ultranationalisten Stepan Bandera stark beeinflusst zu sein.[145]
Der Philosoph Moritz Rudolph setzt sich kritisch mit der Idee auseinander, die Ukrainer seien „der kleine Bruder“ Russlands, und der „große Bruder“ sei verpflichtet, „im Interesse der Familie“ (der „ganzen Rus“, vgl. den Titel des orthodoxen „Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus“) den „kleinen Bruder“ auf den „Pfad der Tugend“ zurückzuführen, ihn umzuerziehen, notfalls sogar zu töten. Seit der Französischen Revolution habe das Ideal der „Brüderlichkeit“ immer wieder zu Versuchen geführt, Menschen mit Gewalt zum Teil einer homogenen, autoritär regierten Masse zu machen.[146]
Faktenchecks
Das als Ziel des Krieges formulierte Argument des „Schutzes der seit acht Jahren im Donbas getöteten Menschen“ war insofern irreführend, als sich 90 Prozent aller Todesfälle in den Jahren 2014/2015 ereigneten, als Russland Söldner und eigene Militärverbände in die Region entsandt hatte.[147][148]
Obwohl das Völkerrecht offenkundig keine Relevanz im Handeln der russischen Regierung hat, werde die Sprache des Völkerrechts genutzt, um sich zu rechtfertigen: So müssten in Putins Argumentation russische Landsleute im Donbas vor Gräuel und Völkermord geschützt werden. Das Konzept sei Bestandteil der russischen Militärdoktrin und basiere daher nicht auf Responsibility to Protect, sondern der russischen Verfassung. Der militärische Einsatz basiere auf Kooperationsvereinbarungen mit den zuvor durch Russland anerkannten Volksrepubliken, erfolge also im Einklang mit den dortigen Behörden. Weiter sei kollektive Selbstverteidigung der Volksrepubliken gegen einen Angriff durch die Ukraine erforderlich. Zudem werde Russland durch den Westen angeblich existentiell bedroht, vor allem durch die NATO-Osterweiterung. Daher gebe es ein Recht zur Selbstverteidigung. Diese Argumentation ist nach Ansicht von Christian Schaller (Stiftung Wissenschaft und Politik) sachlich falsch und interpretiere ein Selbstverteidigungsrecht viel weitreichender als das Völkerrecht.[149]
Während Putins Kritik an unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben für völkerrechtsverletzende Handlungen der UNO-Vetomächte grundsätzlich berechtigt erscheine, könne dies keinesfalls als Verharmlosung oder gar Legitimation des Angriffs dienen.[150] Die von ihm als „grundlos“ bezeichneten NATO-Interventionen während der Jugoslawienkriege verwendet Putin als angebliche Rechtfertigung für den russischen Überfall auf die Ukraine: Dies sei eine Manipulation der Geschichte, so der Tages-Anzeiger.[151] Auch russische Truppen waren während der Jugoslawienkriege auf dem Balkan präsent.[152] Putins Aussage zur „Ausdehnung des NATO-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands“ wurde (wie weitere) von der Deutschen Welle einem Faktencheck unterzogen, mit dem Ergebnis, sie sei „irreführend“. Zwar habe die NATO seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 14 osteuropäische Staaten aufgenommen und als Reaktion auf die Annexion der Krim 2014 logistische Vorbereitungen für eine Truppenverstärkung vorgenommen. Die zusätzlich in die Region entsandten NATO-Truppen (5000 Soldaten) seien aber viel zu schwach, um Russland (850.000 Soldaten) zu bedrohen.[153]
Ferner sei die Behauptung Putins falsch, der Überfall sei ein Verteidigungsfall im Sinne der Charta der Vereinten Nationen (Kapitel VII, Artikel 51). Es sei kein Angriff durch die Ukraine zu erkennen. Im Gegenteil habe die Ukraine in den Wochen vor dem 24. Februar 2022 alles getan, um Russland keinen Vorwand für eine Selbstverteidigung zu liefern, so Pia Fuhrhop (Stiftung Wissenschaft und Politik). Auch gebe es keinerlei Hinweise für einen Genozid in der Ukraine, den Putin behauptet hatte.[150][154] Es sei nur ein „Propaganda-Narrativ“ Putins, dass er die Ukraine „entnazifizieren“ müsse. Bei den Präsidentschaftswahlen habe ein jüdischer Kandidat gewonnen, und bei den letzten Parlamentswahlen 2019 habe die Einheitsfront der rechtsradikalen Parteien nur 2,15 Prozent erhalten. Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands, nannte Putins Aussage „eine perfide Unterstellung“.[153]
Anerkennung der Staatlichkeit der Ukraine
Im Budapester Memorandum vom Dezember 1994 verpflichtete sich Russland (von 1991 bis 1999 war Boris Jelzin Präsident), „die Unabhängigkeit und Souveränität sowie die bestehenden Grenzen der Ukraine zu respektieren“ sowie „auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit der Ukraine zu verzichten und keine ihrer Waffen jemals gegen die Ukraine einzusetzen“. Im Gegenzug gab die Ukraine ihre aus Sowjetzeiten stammenden Nuklearwaffen ab. Im Mai 1997 unterzeichneten Jelzin und der ukrainische Präsident Leonid Kutschma einen Freundschaftsvertrag, in dem Russland die territoriale Integrität der Ukraine anerkannte. Eine ergänzende Vereinbarung löste den jahrelangen Konflikt über die Zukunft der russischen Schwarzmeerflotte und ihres Marinehafens Sewastopol.[155][156]
Im Jahr 2003 bestätigten die Präsidenten Putin und Kutschma die Anerkennung der territorialen Integrität erneut mit dem russisch-ukrainischen Grenzvertrag.[157] Alle diese Vereinbarungen wurden von Russland gebrochen.[158]
Später kritisierte Putin die Grenzziehung der Gebiete im Süden und Südosten der Ukraine, die im Zarenreich zeitweise Neurussland genannt worden waren. Putin sagte am 17. April 2014 (einen Monat nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim): „Ich erinnere daran – das ist Neurussland. Charkiw, Donezk, Luhansk, Cherson, Mykolajiw, Odessa – sie gehörten in zarischer Zeit nicht zur Ukraine, sondern wurden ihr von der Sowjetregierung übergeben. Weshalb sie dies tat, das weiß allein Gott.“
Die Grenzen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) fielen mit den in Volkszählungen ermittelten ethnischen Grenzen zusammen. Die USSR umfasste also die Gebiete mit einer ukrainischen Bevölkerungsmehrheit.[159]
In seinem im Juli 2021 veröffentlichten Essay Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern behauptete Putin, Russen und Ukrainer seien ein einziges Volk.[160] Dies wurde als Hinweis darauf gedeutet, dass Putin die Staatlichkeit der Ukraine nicht (mehr) anerkenne. In diese Richtung ging auch Putins Behauptung, das ukrainische Staatsgebiet bestünde großteils aus „Schenkungen“ Russlands. Im russischen Staatsfernsehen RT erschien dazu eine Landkarte, auf der Schenkungen einzelner russischer Herrscher eingezeichnet waren. Nur ein kleines Gebiet in der Mitte sähen Putin und der Kreml als Ukraine an.[161]
Putins Behauptung, die Ukraine hätte „im Grunde nie eine gefestigte Tradition einer eigenen authentischen Staatlichkeit“ gehabt,[162] nennt die Deutsche Welle „irreführend“. Dass der eigenständige ukrainische Nationalstaat von 1917 nicht lange existierte, lag am Einmarsch Sowjetrusslands. Laut dem Historiker Guido Hausmann ist es richtig, dass das Gebiet der heutigen Ukraine früher oft zu anderen Staaten gehört habe. Dies war aber auch bei anderen Staaten so. Im Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine am 1. Dezember 1991 stimmten 90,3 Prozent der abstimmenden Ukrainer für die Unabhängigkeit.[163]
Der Historiker Joachim von Puttkamer wies 2022 auf die „lange ukrainische Nationalbewegung“ hin und nannte die Behauptung, die Ukraine wäre ein „Kunstprodukt der Bolschewiki“, „absurd“.[163]
Reaktionen auf den Propaganda-Begriff der „Entnazifizierung“
Organisationen
Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee äußerte kurz nach Beginn des russischen Überfalls:
- „Der putinsche Überfall auf die Ukraine löst bei Überlebenden des Holocaust Abscheu und Entsetzen aus.“ „Mit besonderer Empörung stellen die Überlebenden des Holocaust fest, dass Wladimir Putin zur Begründung seines Krieges immer wieder die Begriffe ‚Völkermord‘ und ‚Entnazifizierung‘ heranzieht. Sie empfinden dies als eine zynische und tückische Lüge, die nicht nur die Überlebenden des Holocaust sondern auch all die Menschen mißbraucht, die als sowjetische Kriegsgefangene in deutschen Konzentrationslagern gelitten oder als Soldaten der Roten Armee Auschwitz und andere Lager befreit haben.“[164][165]
David Harris, Geschäftsführer des American Jewish Committee, äußerte seine Zuversicht, dass Putins Nazi-Narrativ „nicht funktionieren wird“.[166] Der Rabbiner Yaakov Dov Bleich, der als Oberrabbiner der Ukraine gilt, kommentierte Putins Behauptung, Russland werde mit der Militäraktion die Ukraine „entnazifizieren“, mit den Worten: „Der Nazi, der entnazifiziert werden müsste, trägt den Namen Wladimir Putin.“[167]
Das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) verurteilte Putins Versuch, den Überfall mit einer angeblich erforderlichen „Entnazifizierung“ zu legitimieren.[168] Der USHMM-Vorsitzende Stuart E. Eizenstat sagte: „Das Museum steht an der Seite des ukrainischen Volkes, einschließlich der Tausenden von Holocaust-Überlebenden, die noch im Lande leben“.[166]
Rezeption
Leider, so Philipp Ther, Professor für Geschichte Ostmitteleuropas, habe das seit 2013 von Russland gepflanzte Narrativ damals einen erstaunlichen, für ihn gar „bestürzende[n] Erfolg“ gehabt.[169] Es sei zwar richtig, dass in der ukrainischen Nationalgarde das in früheren Jahren von Rechtsextremen dominierte Regiment Asow integriert ist, es gebe aber keine Beweise für eine weitreichende Unterstützung neonazistischer Ideen in der ukrainischen Regierung oder Bevölkerung;[166] der ukrainische Präsident Selenskyj ist selbst Jude und hat drei Großonkel im Holocaust verloren.[170] Bei der Parlamentswahl 2019 konnte das Wahlbündnis rechtsextremistischer Parteien mit 2,4 Prozent der Stimmen nicht einmal die Hälfte der notwendigen Zustimmung für die Fünf-Prozent-Hürde erreichen und nur in einem von 186 Wahlkreisen ein Direktmandat erringen; es stellt damit nur einen von 450 Abgeordneten des ukrainischen Parlaments.[171] Von den Präsidentschaftskandidaten der Ultranationalisten habe seit 2010 keiner mehr als 2 Prozent der Wählerstimmen erhalten.[172] Das österreichische Momentum Institut bestreitet nicht, dass es in der Ukraine Ultranationalisten gibt. Es sei aber unsinnig, zu unterstellen, alle Institutionen des Staates seien nationalsozialistisch durchsetzt. Zudem gebe es in Russland mindestens genauso viele Ultranationalisten wie in der Ukraine. Gegen diese habe Putin bisher nichts unternommen. Indem er selbst Nazimethoden anwende, verkehre er das Täter-Opfer-Verhältnis.[173] Auch der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Umland vertrat schon 2020 die Ansicht, dass zwar trotz notorisch schlechter Wahlergebnisse der Einfluss Rechtsextremer auf die ukrainische Gesellschaft nicht unterschätzt werden solle, es aber dennoch im Vergleich zu anderen postkommunistischen Staaten im Osten Europas überraschend wenige Antidemokraten gebe.[172] Yohanan Petrovksy-Shtern, ein gebürtiger Ukrainer und Professor für jüdische Geschichte an der Northwestern University, sagte, Putins Behauptung über die „Entnazifizierung widerspricht der elementaren Wahrheit“.[166] Auf prorussischer Seite kämpfen gleichfalls organisierte Rechtsextreme, ihre militärische Bedeutung für den Konflikt im Donbas im Jahr 2014 wurde als deutlich stärker als die analoge Verwendung auf ukrainischer Seite eingeschätzt.[174]
Von Putin behauptete Parallelen zum Zweiten Weltkrieg
Das Präsidialamt des französischen Staatspräsidenten Macron teilte am 3. März 2022 mit, dass Putin in einem Telefonat mit diesem sein Kriegsziel formuliert habe: die totale Unterwerfung der Ukraine. Es gebe keinerlei Anlass zur Hoffnung mehr, dass er etwas anderes als die vollständige Eroberung des ukrainischen Staatsgebietes zum Ziel habe. Putin sei in einem paranoiden Narrativ der „Entnazifizierung“ der Ukraine gefangen. Er habe geleugnet, dass die russische Armee zivile Ziele angreife. Er werde sich in jedem Fall holen, was er sich vorgenommen habe. Macron habe ihn offen mit seinen „Lügen“ konfrontiert und mit dem „hohen Preis“ gedroht, den Putin für den Angriffskrieg zahlen werde. Darauf habe Putin nicht reagiert.[175]
Die Bezeichnung „Entnazifizierung“ ist mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und insbesondere mit Deutschland in den Nachkriegsjahren verknüpft.[176][177] Der Begriff „Entnazifizierung“, der weltweit für die Wiederherstellung von Gerechtigkeit steht, diene Putin als Vorwand, um den ukrainischen Staat und das ukrainische Nationalbewusstsein zu zerstören.[178] Im Narrativ von der Verteidigung „gegen blutige Verbrechen an Zivilisten, einschließlich Bürger der Russischen Föderation“ werden die vom Westen unterstützte Ukraine und die angeblich vertragsbrüchige NATO mit NS-Deutschland verglichen.[179]
Kriegsverlauf
Chronik
Militärisch
Um die Regierung der Ukraine zu stürzen, versuchten die russischen Streitkräfte am 24. Februar 2022 eine Luftlandeoperation auf dem Flughafen Kiew-Hostomel – die aber scheiterte. Bodentruppen rückten aus mehreren Stoßrichtungen rasch von Belarus aus nach, doch geriet der Vormarsch schon nach wenigen Tagen ca. 30 km vor Kiew ins Stocken. Nach wochenlanger Umklammerung der Stadt von Norden, Westen und Osten musste Russland den Versuch der Eroberung Kiews Ende März aufgeben und fing an, sich auf den Donbas zu fokussieren. Beim Abzug der russischen Truppen aus allen zuvor eroberten Gebieten nördlich von Kiew und Charkiw offenbarten sich Plünderungen und andere Kriegsverbrechen. Der Ort Butscha erlangte weltweite Bekanntheit durch die Gräueltaten, die russische Truppen dort begangen hatten.
Im Osten der Ukraine konnten die ukrainischen Truppen ihre Stellungen vor Donezk entlang der seit 2014 bestehenden Kontaktlinie den ganzen März und April durchgehend halten, ebenso die nahe der russischen Grenze liegende Großstadt Charkiw, die in der um sie geführten Schlacht erheblich zerstört wurde, bis eine ukrainische Gegenoffensive Anfang Mai die Angreifer hier zurückdrängen konnte. Zwischen Donezk/Luhansk und Charkiw liegende Gebiete wurden von Russland besetzt. Russische Truppen erzielten im April und Mai 2022 kleinere Geländegewinne, aber keinen Durchbruch. Noch weitaus stärker als Charkiw wurde die am Asowschen Meer liegende Hafenstadt Mariupol zerstört, wo sich die Verteidiger Mitte Mai nach langer Belagerung ergaben. Bis auf den Südwesten (Oblast Odessa und Oblast Mykolajiw) wurden alle Gebiete im Süden der Ukraine, wo seit 2014 die Einnahme einer Landbrücke von Russland zur Krim befürchtet worden war, besetzt. Dazu gehörte auch die Stadt Cherson, die bereits Anfang März eingenommen wurde.
Der russische Vorstoß von Cherson in Richtung Odessa war Anfang März 2022 bei Mykolajiw gescheitert. Eine amphibische Landung wurde nach der Versenkung des Flaggschiffs Moskwa Mitte April unwahrscheinlicher und mit dem Rückzug von der Schlangeninsel vor Odessa ausgeschlossen. Gleichwohl wurde weiterhin von Landverbindungen nach Transnistrien gesprochen. Das russische Militär war mit den politischen Beschränkungen der Ziele auf den Donbas unzufrieden; es forderte ehrgeizigere Ziele und eine Generalmobilmachung in Russland.[180][181] Eine Bürgerplattform in Belarus hatte für die ersten 70 Tage des Krieges 631 Raketenstarts in die Ukraine von Belarus aus ermittelt.[182]
Dazu sollen auch Cruise-Missiles von Flugzeugen im Luftraum von Belarus gestartet worden sein.[183] Anfang Juli 2022 eroberten russische Truppen Lyssytschansk, die letzte größere Bastion der Ukraine im Gebiet Luhansk.[184]
Den ganzen Juli und August 2022 hindurch bewegten sich die Frontlinien danach nur geringfügig.[185]
Ende August 2022 begannen die ukrainischen Streitkräfte, zunächst in der Region Cherson und dann ab Anfang September überraschend auch in Charkiw, mit Gegenoffensiven. Ab dem 8. September 2022 brach die russische Front in der Oblast Charkiw zusammen, nachdem bei Balaklija ein Durchbruch gelungen war; ukrainische Kräfte konnten anschließend in zwei Tagen über 60 km hinter die Front bis zu dem Eisenbahnknotenpunkt Kupjansk vorstoßen und bedrohten damit auch die weiter südlich gelegenen russischen Truppenkonzentrationen bei Isjum mit Einkesselung. Russische Truppen flohen daraufhin unter großem Materialverlust aus ihren Stellungen, um der Einkesselung zu entgehen. Insgesamt wurden bis zum Abend des 10. September 2022 über 3000 km² durch die Ukraine zurückgewonnen,[186] bis zum 14. September 2022 konnte der Umfang der ukrainischen Geländegewinne ungefähr verdoppelt werden. Damit verlor das russische Militär nach Einschätzung des Royal United Services Institute innerhalb einer Woche mehr Gelände als es in den vorhergehenden vier Monaten eingenommen hatte.[187] Die russische Seite wollte entlang des Oskil eine Verteidigungslinie aufbauen,[188] die aber von ukrainischen Truppen schon am 19. September 2022 überschritten wurde. Am 28. September 2022 bildeten die ukrainischen Streitkräfte fünf Brückenköpfe am Ostufer des Oskil, und Einheiten stießen entlang des Oskil auf Gebiete nördlich des Eisenbahnknotenpunktes Lyman vor. Am 1. Oktober meldete das russische Verteidigungsministerium, dass die russischen Streitkräfte Lyman wegen drohender Einkesselung geräumt hätten.[189]
Das russische Verteidigungsministerium räumte am 3. Oktober 2022 im Süden der Ukraine einen Durchbruch überlegener ukrainischer Panzertruppen bei Solota Balka ein.[190] Mitte Oktober wurde entlang der Frontlinie schwer gekämpft, insbesondere am westlichen Ende, wo russische Truppen den Flankenschutz durch den Fluss Inhulez verloren hatten.[191]
Russische Truppen begannen am 10. November 2022, sich vom westlich des Dnepr liegenden Teil der Oblast Cherson (darunter aus der namensgebenden Oblasthauptstadt) auf das östlich des Dnepr liegende Gebiet zurückzuziehen.[192] Am 11. November 2022 zogen erste ukrainische Einheiten in die Stadt Cherson ein; wenig später wurde bestätigt, dass das gesamte rechte Ufer des Dnepr von den Russen geräumt worden war und dass alle Brücken über den Fluss zerstört waren. Beide Kriegsparteien verlegten anschließend zahlreiche Soldaten in den Osten der Ukraine.
Seit Ende Oktober 2022 versuchte Russland, den Konflikt einzufrieren.[193] Vor allem im Raum Bachmut kommt es weiterhin zu schweren Stellungskämpfen. In der für beide Kriegsparteien verlustreichen Schlacht um Bachmut setz(t)en die Ukraine und Russland auch Truppen ein, die zuvor bereits, westlich des Dnepr, gegeneinander gekämpft hatten.
Am frühen Morgen des 6. Juni 2023 wurde der Damm des Kachowka-Stausees mit Sprengladungen zerstört. Russische Besatzungstruppen und die ukrainische Regierung machten sich zunächst gegenseitig für die Sprengung verantwortlich.[194]
Am 23. Juni 2023 kam es zu einem Aufstand der Gruppe Wagner in Russland.
Im Sommer 2023 startete die Ukraine eine Gegenoffensive mit dem Ziel, das Asowsche Meer zu erreichen und den Landkorridor zur Krim zu durchbrechen.
Anfang November 2023 schrieb der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj, die Ukraine habe die Ziele ihrer Offensive seit dem Sommer weit verfehlt und sie habe derzeit nicht die Mittel, die russischen Angreifer zu besiegen. Offenbar sei ein Patt eingetreten, aus dem sich ein langwieriger Stellungskrieg entwickeln könne.[195][196]
Seit dem 6. August 2024 unternehmen ukrainische Truppen die Kursk-Offensive, einen Vorstoß in die russische Grenzregion Kursk.
Annexionen
Die russische Regierung hatte zu Beginn der Invasion beteuert, keine Eroberung ukrainischen Territoriums zu beabsichtigen. Am 20. September 2022 – vor dem Hintergrund des militärischen Misserfolgs Russlands – wurden in den selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk und in den russisch besetzten Gebieten der Oblaste Cherson und Saporischschja jedoch „Referenden“ über den Beitritt zur Russischen Föderation angekündigt, nachdem solche nur Tage zuvor ein weiteres Mal in die Zukunft verschoben worden waren,[197][198] Im direkten Zusammenhang mit den vortags angekündigten Pseudoreferenden erklärte der russische Präsident Wladimir Putin am 21. September die Mobilmachung Russlands.[199] Die „Referenden“ fanden vom 23. bis 27. September statt[200] und am 28. September wurden die längst zuvor erwarteten „Ergebnisse“ veröffentlicht.[201] Am 29. September unterzeichnete Präsident Putin Dekrete, nach denen die Russische Föderation die ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja als „unabhängige Territorien“ anerkennt,[202] und noch am selben Tag kündigte die russische Regierung für den Folgetag (30. September) den „Anschluss“ der ukrainischen Regionen an das russische Staatsgebiet an.[203] Die russische Annexion der Süd- und Ostukraine wurde am selben Tag erklärt, an dem ukrainische Streitkräfte die Stadt Lyman einkesselten.[204] Am 3. Oktober 2022 stimmte die Duma für die Annexion von Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja.[205] Am Folgetag beschloss auch der Föderationsrat als russisches Oberhaus einstimmig die Gebiete zu annektieren.[206] Am Mittwoch, dem 5. Oktober 2022 fertigte Präsident Putin die Annexionsbeschlüsse aus.[207]
Am 19. Oktober rief Putin in den annektierten Gebieten das Kriegsrecht aus. Unter dem Kriegsrecht können die Bewohner zum Rüstungsdienst gezwungen und an Reisen gehindert werden.[208]
Verhandlungen
Kriegsführung
Russische Kriegsführung
Cyberkrieg
Schon vor dem militärischen Einmarsch begann Russland 2021 mit Cyberangriffen, welche auch nach dem 24. Februar 2022 als Teil des Hybridkriegs fortgeführt wurden. Auch die Kriegsführung der Ukraine beinhaltet das Führen eines Cyberkriegs.
Drohnenkrieg
Der Russland-Ukraine-Krieg ab 2022 ist der erste Konflikt, in dem massiv auf Drohnen zurückgegriffen wird. In keinem Krieg zuvor wurden so viele Drohnen eingesetzt wie im Russisch-Ukrainischen Krieg ab 2022.
Ukrainische Kriegsführung
Kriegsverbrechen
Im Russisch-Ukrainischen Krieg ab 2014 wurden vielfach, teils systematisch, Kriegsverbrechen begangen, insbesondere von russischer Seite nach dem Stocken des Überfalls vom 24. Februar 2022.
Genozid- und Ethnozid-Vorwürfe gegenüber Russland
Im Juli 2022 erhob der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba gegenüber Russland den Vorwurf, einen „Genozid gegen das ukrainische Volk“ zu verüben.[209]
Der emeritierte Hamburger Professor für Öffentliches Recht Otto Luchterhandt kam in einer Untersuchung der russischen Kriegsführung in Mariupol zum Schluss, dass die russischen Angriffe „den objektiven und auch den subjektiven Tatbestand des Völkermordes“ erfüllen.[210] Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel schrieb, Russlands Krieg habe „die Vernichtung des ukrainischen Staates, die Unterjochung der Ukraine und die Vernichtung ihrer Kultur zum Ziel“.[211] Der Historiker Ulrich Herbert sieht hingegen die Einordnung eines kulturellen Völkermords als Genozid problematisch.[212] Dem widerspricht Martin Schulze Wessel. Die Völkerrechtskonvention der UNO definiere Völkermord als „Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Russland nehme gezielt zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Kindergärten und Einkaufszentren unter Beschuss. Eine Million Ukrainer, darunter etwa zweihunderttausend Kinder, wurden durch sogenannte Filtrationslager nach Russland verbracht und so würde der Krieg auch Merkmale ethnischer Säuberungen aufweisen.[213] Nicolas Tenzer geht von zwei Millionen deportierten Ukrainern aus.[214] In dem Artikel Was Russland mit der Ukraine tun sollte, der von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti veröffentlicht wurde und in dem offen von der „Endlösung der Ukrainefrage“ die Rede sei, so der in der Ukraine geborene und an der Johns Hopkins University tätige Historiker und Politologe Eugene Finkel, sei „eine der explizitesten Absichtserklärungen zur Vernichtung einer nationalen Gruppe“, die ihm je untergekommen sei. Timothy Snyder sieht in dem Text eine „Anleitung zum Völkermord“.[215] Auch weitere Historiker und Politikwissenschaftler sehen Indizien für einen Völkermord in der Ukraine.[216]
Eine im Juli 2023 veröffentlichte Studie geht davon aus, dass Russland nicht nur zum Genozid aufruft, sondern dass es auch ein Muster von Taten gebe, aus dem auf die Absicht der russischen Führung geschlossen werden könne, die Ukrainer als nationale Gruppe teilweise zu vernichten. Die Studie sieht erhebliche Anhaltspunkte für sämtliche in der UN-Völkermordkonvention geregelten Tatbestandsvarianten des Völkermords.[217] Dass in den von Russland annektierten ukrainischen Gebieten eine Russifizierung (d. h. ein Ethnozid[218]) eingeleitet wurde, gilt wegen der Vernichtung ukrainischer Bücher,[219][220] der Deportation ukrainischer Waisen nach Russland, der Umstellung auf den russischen Lehrplan zum Zwecke der Umerziehung sowie wegen des Aufbaus von Junarmija-Verbänden als bestätigt.[221]
Eugene Finkel schrieb 2024, der Gedanke, dass Russland die Ukraine als Nation zerstören wolle, sei mittlerweile bei Genozid-Forschern Konsens.[222]
Beistandsmaßnahmen
Land | Hilfe in Milliarden EUR | Hilfe in % des BIP |
---|---|---|
Vereinigte Staaten | 75,1 | 0,3 % |
Europäische Union | 39,3 | |
Deutschland | 14,6 | 0,4 % |
Vereinigtes Königreich | 13,0 | 0,5 % |
Japan | 9,0 | 0,2 % |
Kanada | 7,2 | 0,4 % |
Dänemark | 6,4 | 1,8 % |
Niederlande | 5,7 | 0,6 % |
Frankreich | 4,4 | 0,2 % |
Polen | 4,3 | 0,7 % |
Schweden | 4,2 | 0,8 % |
Österreich | 0,7 | 0,2 % |
Schweiz | 0,7 | 0,1 % |
Militärisch
Die Mitgliedstaaten der NATO schlossen von Beginn des Krieges an ein militärisches Engagement in der Ukraine auf dem Boden oder in der Luft (z. B. eine Flugverbotszone) aus.[224]
Im Juni 2024 beschloss die NATO – vor dem Hintergrund eines möglichen Kurswechsels der USA, falls Donald Trump die Präsidentenwahl Ende 2024 gewinnen sollte –, die bis dahin von den USA wahrgenommene Koordinierung von Waffenlieferungen und Ausbildungsaktivitäten für die Ukraine als eigene Aufgabe der NATO zu übernehmen. Das Hauptquartier der NATO für diesen Einsatz soll seinen Standort in Wiesbaden haben.[225]
Waffenlieferungen
In den ersten Monaten des russischen Überfalls erhielt die Ukraine überwiegend Handwaffen, wie Panzerabwehrwaffen. Danach erhielt sie erste Luftabwehrsysteme und Kurzstreckenwaffen, gefolgt von Kampf- und Schützenpanzern sowjetischer Bauart. Im Sommer erfolgten erste Lieferungen von Artilleriesystemen und HIMARS-Mehrfachraketen. Im Herbst 2022, als Russland vermehrt die Energieinfrastruktur anzugreifen begann, bekam die Ukraine weitere Flugabwehrsysteme, wie IRIS-T und Patriots. In den ersten Monaten des Jahres 2023 wurden der Ukraine Kampfpanzer westlicher Bauart zugesagt.[226] Im Mai 2023 starteten nach der dafür notwendigen Zusage von Joe Biden die Vorbereitungen einiger Staaten zur zukünftigen Lieferung von US-amerikanischen Kampfjets (Modell F-16).[227]
Versorgung mit Geheimdienstinformationen
Die Ukraine erhält von der NATO bzw. deren Mitgliedstaaten Geheimdienstinformationen zum Kriegsgeschehen.[228][229][230]
Aus- und Fortbildung ukrainischer Soldaten
Die US-Army setzte die Schulungen ukrainischer Soldaten, die sie vor Beginn der Invasion in der Ukraine vorgenommen hatte,[231] außerhalb der Ukraine in mehreren Staaten fort.[232] Auch die deutsche Bundeswehr begann im Mai 2022 mit der Weiterbildung ukrainischer Soldaten.[233] Im Juli 2022 begann Großbritannien auf vier eigenen Militärstützpunkten mit einer dreimonatigen Ausbildung von ukrainischen Soldaten. Das Programm hat das Ziel, vierteljährlich 10.000 Ukrainer an der Waffe auszubilden.[234][235][236] Im November 2022 startete die Europäische Union mit der European Union Military Assistance Mission Ukraine die Ausbildung ukrainischer Soldaten. Nach Angaben der Regierung des Vereinigten Königreichs bildeten die britischen Streitkräfte im Rahmen der Operation Interflex bis November 2024 insgesamt 50.000 Soldaten aus der Ukraine aus.[237]
Präsenz von westlichen „Kräften“ in der Ukraine
Die britische Regierung von Rishi Sunak bestätigte im Januar 2024, dass sich eine „geringe Anzahl“ von britischen „Kräften“ zur Unterstützung in der Ukraine aufhält. Nach Angaben des britischen Parlaments handelt es sich zum einen um Militärausbilder, die das Vereinigte Königreich bereits seit der im Jahr 2015 begonnenen britischen Mission Orbital in die Ukraine entsendet, und um Sicherheitskräfte der britischen Botschaft.[238] Durch den Taurus-Abhörfall wurde bekannt, dass sich nach Erkenntnissen des Inspekteurs der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, britisches Personal zur Qualitätsprüfung von Waffen und Ausrüstung, die die Ukraine durch Auslandshilfe erhält, in der Ukraine befindet.
Verstärkung der NATO-Ostflanke
An der NATO Enhanced Forward Presence Battlegroup teilnehmende Staaten verstärkten im Februar 2022 ihre Kontingente.[240][241][242]
US-Präsident Biden kündigte am 24. Februar an, dass weitere Luft- und Bodentruppen zur Ostflanke der NATO geschickt werden. Er wiederholte, dass US-Truppen sich nicht direkt am Konflikt in der Ukraine beteiligen werden. Sie seien in Osteuropa, um die NATO-Verbündeten zu verteidigen.[243]
Am selben Tag wurden von der NATO aus Sorge vor einer Ausbreitung des Konflikts auf Bündnispartner vorhandene Verteidigungspläne für Osteuropa aktiviert und demgemäß Truppenteile in Bereitschaft versetzt.[244][245] Am 25. Februar wurde die NATO Response Force durch den Supreme Allied Commander Europe Tod D. Wolters zum ersten Mal in ihrer Geschichte aktiviert. Die aus Land-, Luft- und Seeeinheiten bestehende Truppe soll die Ostflanke des NATO-Bündnisgebiets schützen und verstärken. Den Beschluss dazu hatten die Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten am Morgen gefasst.[246]
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verlegten die USA bis zum 7. März ca. 7000 weitere Soldaten nach Europa und verstärkten damit die US-Truppen in Europa auf rund 100.000 Soldaten.[247] In der zweiten Märzwoche verlegten die USA auf Bitten Polens zwei Patriot-Flugabwehrraketensysteme nach Polen.[242] Am 10. März 2022 begann in Norwegen die lange vor Kriegsbeginn geplante NATO-Übung Cold Response, an der 30.000 Soldaten teilnehmen. Das Angebot der NATO an Russland, einen Beobachter zu der Übung zu schicken, lehnte Russland dankend ab.[248] Mitte März verlegte Deutschland mindestens ein Patriot-Raketenabwehrsystem in die Slowakei,[249] während das Vereinigte Königreich sich zur Verlegung eines Luftverteidigungssystems des Typs Sky Sabre nach Polen entschloss.[250] Auf einem NATO-Gipfel am 24. März verständigten sich die NATO-Mitglieder auf die Entsendung und Stationierung vier zusätzlicher „Battlegroups“ in die Slowakei, nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien.[251] Aus Sorge vor dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch Russland wurden zudem ABC-Abwehrmaßnahmen aktiviert.[252] Am 19. Mai waren unter dem Kommando der NATO in Europa 42.000 Soldaten, 120 Kampfflugzeuge und mehr als 20 Schiffe in ständiger Alarmbereitschaft.[253]
Verwundetenversorgung
Krankenhäuser in der EU nahmen im Rahmen des EU-Katastrophenschutzverfahrens ukrainische Verwundete auf. Bis März 2023 wurden mehr als 2000 verletzte ukrainische Soldaten in Krankenhäusern der EU versorgt.[254]
Sanktionen
Am 22. Februar 2022 beschloss die Europäische Union erste Sanktionen.[255][256][257] Die EU-Außenminister beschlossen außerdem umgehende Sanktionen für russische Personen, Organisationen und Banken sowie gegen alle 351 Mitglieder der Duma, die dem Antrag zur völkerrechtlichen Anerkennung der abtrünnigen Gebiete zugestimmt hatten. Nach den angeordneten Einreiseverboten, Kontensperrungen und Zugangsbeschränkungen zu europäischen Handels- und Finanzmärkten[258][259] verhängte die EU-Kommission auch Handelsverbote mit russischen Staatsanleihen, mit denen Russland sonst den Konflikt finanzieren könnte.
Die Europäische Union kündigte am 24. Februar ein „scharfes Sanktionspaket“ gegen Russland an. Man werde russische Vermögen in der EU einfrieren. Russische Banken sollten keinen Zugang mehr zu den Finanzmärkten haben.[260] Flugzeugteile, Halbleiter und Güter für die Energiewirtschaft werden nicht mehr nach Russland verkauft.[261] In der Folge wurden mehrere russische Banken aus dem Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen.[262] Russische Energielieferungen sind davon aus Gründen der Energiesicherheit und befürchteter wirtschaftlich-gesellschaftlicher Auswirkungen zunächst nicht betroffen,[263] werden aber zumindest perspektivisch gefordert.[264] Außerdem gaben die USA die Gründung einer transatlantischen Arbeitsgruppe, die die Vermögenswerte der sanktionierten russischen Unternehmen und Oligarchen aufspüren und einfrieren soll, bekannt.[265] Des Weiteren sollen zusätzlich Sanktionen gegen die russische Zentralbank erfolgen.[266] Am 25. und 26. Februar sperrten mehrere europäische Staaten, darunter das Vereinigte Königreich, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Rumänien und Bulgarien, ihren Luftraum für russische Flugzeuge.[267] Ab der Nacht zum 28. Februar war der Luftraum EU-weit für russische Luftfahrzeuge gesperrt. Die Sanktionen treffen nicht nur die in den Sanktionen genannten Warengruppen. Weltweit nahmen mehrere Transporteure keine Buchungen mehr nach Russland an und stornierten bestehende Buchungen.[268] Bei Maersk werden nur noch Lebensmittel, medizinische und humanitäre Lieferungen transportiert.[269]
Nach den Sanktionen vom 25. bis 28. Februar 2022 wurden in der Folge eine Reihe weiterer Sanktionspakete verkündet. Mehr als zwei Drittel der EU-Bürger befürworten einer im September 2022 veröffentlichten Umfrage der EU-Kommission zufolge sowohl die gegen Russland verhängten Sanktionen als auch die Waffen- und humanitären Hilfslieferungen an die Ukraine.[270][271]
Weitere
Die Washington Post berichtete, dass ukrainische Beamte mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware des US-Technologieunternehmens Clearview AI über 8600 getötete russische Soldaten per Gesichtserkennung untersucht haben. Die Scans dienten teilweise der Identifizierung von Leichen und der Kontaktaufnahme mit Familienangehörigen in Russland. Bis Mitte April 2022 konnten die Familien von 582 Russen informiert werden. Ziele der Maßnahme sind, innerhalb Russlands aufzuklären, Soldaten zu entmutigen und ein Ende des Kriegs zu beschleunigen.[272]
Politische Reaktionen
Ehemalige Sowjetrepubliken
Ukraine
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gilt als ein „Hauptziel für russische Aggressionen“.[273] Ein Angebot der USA, den Präsidenten aus Kiew in Sicherheit zu bringen, lehnte dieser ab.[274] Für seinen Satz „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“ erhielt er im März den Axel Springer Award.[275] Nach Angaben aus seinem Umfeld hat Selenskyj diesen Satz so jedoch nie gesagt.[276][277]
Am 28. Februar unterzeichnete Selenskyj einen Beitrittsantrag seines Landes zur Europäischen Union.[278] Am 1. März hielten Selenskyj und der Präsident der Werchowna Rada, Ruslan Stefantschuk, eine per Video übertragene Rede von Kiew aus an das Europäische Parlament, in der sie weitere Unterstützung forderten.[279]
In der ersten Kriegswoche bat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba seinen chinesischen Amtskollegen Wang Yi um diplomatische Vermittlung im Konflikt. Die Volksrepublik China signalisierte daraufhin eine grundsätzliche Bereitschaft.[280]
Belarus
Kasachstan
Kasachstan hatte schon vor dem Beginn des Überfalls am 24. Februar 2022 die Anerkennung der Souveränität der Volksrepubliken Lugansk und Donezk abgelehnt. Die kasachische Regierung verweigerte am 25. Februar Russland die Entsendung eigener Soldaten in die Ukraine, obwohl russische Truppen im Rahmen der OVKS im Januar dabei geholfen hatten, Proteste in Kasachstan zu bekämpfen.[281]
Der kasachische Staatspräsident Qassym-Schomart Toqajew verweigerte jegliche verbale Unterstützung für Moskau, vielmehr bekräftigte er wiederholt: „Die territoriale Integrität eines Staates muss unveräußerlich sein.“ Auch sprach er entgegen der russischen Sprachregelung von einem „großen Krieg“. Nach der von Putin im September 2022 verkündeten Teilmobilmachung sicherte Toqajew allen nach Kasachstan geflohenen russischen Staatsbürgern Schutz zu.[282]
Vor dem Hintergrund vieler Geflüchteter aus Russland meldete die staatliche kasachische Nachrichtenagentur Kazinform am 17. Januar 2023 unter Berufung auf ein Gesetz, das am 27. Januar 2023 in Kraft treten soll, die Verschärfung der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen für Ausländer aus der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion. Diese dürften sich ohne Visum künftig nur noch maximal 90 Tage pro Halbjahr in Kasachstan aufhalten.[283]
Kirgisistan
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine blieb Kirgisistan politisch weitgehend neutral. In einem Telefonat mit Wladimir Putin soll der Präsident Sadyr Dschaparow seine Unterstützung für die Invasion bekundet haben.[284] Russische Propaganda ist weitverbreitet, Kanäle wie Rossija 1 oder Perwy kanal laufen im Fernsehen und erzielen hohe Einschaltquoten.[285] Das Land ist ein beliebtes Ziel bei Russen, die der Rekrutierung entkommen wollen, allerdings sind Länder wie Kasachstan oder Georgien beliebter.[286] Die kirgisische Polizei soll Druck auf Russen ausüben, wenn diese sich kritisch über den Krieg äußerten.[287] Vor dem Krieg arbeiteten viele Kirgisen im Ausland, vorwiegend in Russland. Einige von ihnen wurden rekrutiert, es sollen schon mehrere im Krieg gestorben sein. Deshalb wurde davor gewarnt, nach Russland auszuwandern.[288][289]
Georgien
Vor der Invasion galt Georgien, das 2008 in einen Krieg mit Russland verwickelt war und dessen Territorien Südossetien und Abchasien seitdem von Russland als unabhängig anerkannt werden, als enger außenpolitischer Partner der Ukraine.[290] Die Regierung um Premierminister Irakli Gharibaschwili verurteilte den Angriff, verhängte aber keine Sanktionen gegen Russland,[291] woraufhin tausende Georgier für ihren Rücktritt demonstrierten.[292][293] Der Parteivorsitzende der georgischen Regierungspartei Georgischer Traum, Irakli Kobachidse, warf der Ukraine im Oktober 2022 vor, Georgien zum Öffnen einer „zweiten Front“ gegen Russland zu drängen.[290]
Westliche Staaten
Deutschland
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock äußerte am 23. Februar 2022 (dem Tag vor dem Beginn des Überfalls), Putin habe das Gegenteil von dem gesagt, was er eine Woche zuvor behauptet hatte. Er habe das Minsker Abkommen einseitig „zertrümmert“. Russland solle seine Eskalationsschritte zurücknehmen.[294] Nach dem Beginn des Einmarschs warf sie Putin „vollkommen entgrenztes Agieren“ vor. Nach den Treffen mit Putin und Außenminister Lawrow in Moskau müsse nun gesagt werden: „Wir wurden eiskalt belogen. Der Kanzler wurde belogen, ich vom russischen Außenminister, die gesamte internationale Gemeinschaft.“[295] In seiner Zeitenwende-Rede auf einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 27. Februar 2022 erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“[296]
Bis zum Beginn des russischen Überfalls hatte Deutschland eine nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführte Politik verfolgt, an kriegführende Staaten keine todbringende Militärtechnik zu liefern. Als Reaktion auf den Überfall beendete Deutschland diese Politik – es liefert seitdem Waffen an die Ukraine und erlaubt Drittstaaten, in Deutschland hergestellte Waffen dorthin zu liefern (siehe Deutscher Rüstungsexport). Der russische Überfall auf die Ukraine führte zu weiteren bedeutenden Positionswechseln, die andere Staaten schon lange gefordert hatten, worauf Deutschland aber nicht eingegangen war: So stoppte Deutschland das Projekt Nord Stream 2 und gab bekannt, seinen Verteidigungshaushalt auf über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Mit der Erhöhung des Verteidigungshaushalts kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz die Schaffung eines Sondervermögens für die Bundeswehr in Höhe von etwa 100 Milliarden Euro an.[297][298]
Der bisherige außenpolitische Ansatz der Wirtschaftskooperation, zivilgesellschaftlicher Beziehungen sowie des politischen Dialogs mit Russland gilt als gescheitert; Außenpolitik und Sicherheitspolitik wurden neu ausgerichtet.[299]
Am 11. Juni 2024 hielt Selenskyj eine Rede im Deutschen Bundestag, in der er erneut für die Unterstützung der Ukraine und die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge dankte. Er richtete sich auch an den Westen und bestärkte eine baldige Beendigung des Krieges.[300]
Weitere westliche Staaten
Die G7 zeigten sich geschlossen und verurteilten die russische Invasion als „eine schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts und einen schweren Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen“. Alle Mitglieder erklärten, Wirtschafts- und Finanzsanktionen zu verhängen.[301]
US-Präsident Biden nannte Russlands Vorgehen einen „unprovozierten und ungerechtfertigten Angriff durch die russischen Streitkräfte […] Die Welt wird Russland zur Rechenschaft ziehen.“ Er versprach der Ukraine Unterstützung. In der Folge des Geschehens in der Ukraine wiesen die USA am 28. Februar zwölf Diplomaten der russischen Botschaft aus. Die als Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten bezeichneten Botschaftsmitarbeiter mussten das Land binnen einer Woche verlassen.[302]
Auch NATO-Staaten, die engere Beziehungen mit Russland pflegten, verurteilten die russische Anerkennung der ostukrainischen „Volksrepubliken“ und den russischen Überfall, darunter die Türkei und Ungarn.[303][304] Der für seine Russlandnähe bekannte tschechische Präsident Miloš Zeman verurteilte die „unprovozierte Aggression“ Russlands gegen die Ukraine, sprach sich für Sanktionen anstatt nur Worte aus und fügte mit Blick auf Wladimir Putin an: „Der Verrückte muss isoliert werden“.[305]
Eine Reihe westeuropäischer Spitzenpolitiker fuhren zu Solidaritätsbesuchen nach Kiew. Wegen der russischen Luftüberlegenheit in der Ukraine nutzten sie dazu in der Regel die Ukrainische Eisenbahn, die dafür einen Sonderzug mit Salon- und Schlafwagen zur Verfügung stellte. Den Beginn machten am 15. März 2022 die Ministerpräsidenten von Polen (Mateusz Morawiecki), Slowenien (Janez Janša) und Tschechien (Petr Fiala), die von Przemyśl aus in die Ukraine fuhren.[306] Es folgten am 7. April die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusammen mit dem Ministerpräsidenten der Slowakei, Eduard Heger, und am 9. April 2022 der britische Premierminister Boris Johnson.[307]
Laut dem Wall Street Journal glaubt innerhalb der NATO (Stand Februar 2023) „niemand“ daran, dass die Ukraine die verlorenen Gebiete vollständig zurückerobern kann.[308][309]
- Finnland
Finnland stellte als Reaktion auf den Überfall einen Antrag auf Aufnahme in die NATO und wurde im April 2023 offiziell aufgenommen.[310]
Auf Weisung des finnischen Verkehrsministers hat die finnische Eisenbahn (VR) den Personenverkehr nach Russland am 28. März 2022 komplett eingestellt. Der Güterverkehr soll stufenweise heruntergefahren werden. Bereits ab dem 27. März 2022 hat die VR Güterzüge aus Russland einige Tage lang nicht mehr angenommen.[307]
- Schweden
Unter dem Eindruck einer veränderten Bedrohungslage beantragte Schweden neben Finnland 2022 seine Aufnahme in die NATO.[311] Schweden trat im März 2024 der NATO bei.[312]
Aufgrund der Kontakte von Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche (RUK) in Schweden zu Mitarbeitern russischer Nachrichten- und Sicherheitsdienste sowie des Vorwurfs, die RUK würde Gelder aus Russland erhalten und die russische Position im Ukrainekrieg unterstützen, erhält die Kirche im Jahr 2024 keine Gelder vom schwedischen Staat.[313]
- Schweiz
Die Schweiz verurteilte die russische Aggression nicht nur diplomatisch, sondern zusätzlich mit einer Erklärung beider Parlamentskammern.[314] In einem in diesem Umfang einmaligen Schritt schloss sie sich den EU-Sanktionen an, der Bundespräsident erklärte: «Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral.»[315] Die Aufnahme von Verletzten aus der Ukraine wurde, wegen der mit der Neutralität der Schweiz verbundenen anschließenden Internierungspflicht der kombattanten Patienten bis Kriegsende, abgelehnt.[316] Im September 2022 suspendierte der Schweizer Bundesrat, wie kurz zuvor die Europäische Union, das Visumerleichterungsabkommen mit Russland.[317]
Türkei
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nannte die Anerkennung der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk „inakzeptabel“. Das Außenministerium wertete sie als „klare Verletzung der politischen Einheit und territorialen Integrität der Ukraine“.[318]
Nach einem Treffen mit Putin am Rande einer Konferenz im usbekischen Samarkand sagte Erdoğan im September 2022 dem US-Fernsehsender PBS, Voraussetzung für einen Frieden in der Ukraine sei, dass Russland alle eroberten Gebiete räume, einschließlich der seit 2014 besetzten Krim. Er fügte hinzu: „Das wird erwartet. Das wird gewünscht.“[319]
VR China
Die Volksrepublik China erklärte zunächst Verständnis für Russland und dessen „Sicherheitsbedenken“. Laut Tagesschau befürchtet China, dass Sanktionen gegen Russland zu steigenden Rohstoffpreisen führen. Außerdem sei die Ukraine ein Transitland für Chinas neue Seidenstraße, ein System von Landwegen in Richtung Westen.[320] Am 26. Februar sagte der chinesische UNO-Botschafter Zhang im Sicherheitsrat, der Konflikt sei an einem Punkt angelangt, den man nicht sehen wolle. Die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten müssten respektiert werden.[321] Diese allgemeine Formulierung geht allerdings – laut Angela Stanzel absichtlich – nicht auf den Einzelfall der Ukraine ein.[322] Am 7. März erklärte der chinesische Außenminister Wang Yi, dass China und Russland „ihre strategische Entschlossenheit aufrechterhalten und die umfassende kooperative Partnerschaft in der neuen Ära vorantreiben“.[323] China bezeichnete seine Position auch als „neutral“ und unterstützte Friedensaufrufe.[324][325] Außerdem verwahrte sich China gegenüber Druck von außen und bewertete die eigene Position als eigenständig, objektiv und fair.[326] Nach Angela Stanzel orientierte sich die chinesische Rhetorik allerdings an russischen Narrativen; eine Verurteilung des Krieges erfolgte nur äußerst zurückhaltend.[322] Zudem werden in den sozialen Medien Kommentare, die sich mit den ukrainischen Positionen solidarisieren, zensiert, während russlandfreundliche Kommentare von den Zensoren unbehelligt bleiben.[327]
Russlands Ukraine-Krieg hat mit zunehmender Dauer immer stärkere globale Folgen – darunter Hunger und Destabilisierung in Weltteilen, in denen China wirtschaftliche Expansion sucht oder geopolitische Projekte verfolgt.[328]
Die chinesische Wirtschaft hielt sich in ihren Grundlinien an einige der westlichen Sanktionen; der russische Markt ist für sie wirtschaftlich unvergleichlich weniger wichtig als der Westen.[329]
Präsident Xi Jinping sagte bei einem Treffen mit Putin am 17. September 2022, dass Peking „Besorgnisse“ im Zusammenhang mit dem Krieg habe.[330]
Die VR China veröffentlichte am 24. Februar 2023 zwölf Punkte zur friedlichen Beilegung der Ukrainekrise: 1) Respekt vor der Souveränität aller Länder gemäß der UN-Charta; 2) Abwendung von der Mentalität des Kalten Krieges; 3) Beruhigung der Feindseligkeiten; 4) Förderung friedlicher Gespräche; 5) Lösungen für die humanitäre Krise; 6) Schutz für Zivilisten und Kriegsgefangene; 7) Sicherung von Atomkraftwerken; 8) Reduktion nuklearer Risiken durch Langstreckenwaffen; 9) Erleichterung von Getreideausfuhren; 10) Beendigung einseitiger Sanktionen; 11) Aufrechterhaltung der Lieferketten für industrielle und Unterstützungsprodukte; 12) Förderung des Wiederaufbaus nach Beendigung des Konflikts.[331] Diplomatisch spielt China an der Seite Russlands eine wichtige Rolle im Umgang mit dem Ukraine-Krieg.[332] Einige Beobachter sehen Potenzial für eine Verhandlungslösung in dem Zwölf-Punkte-Plan, andere lesen darin eher Pekings Absicht, sein Image aufzupolieren.[333] Im Mai 2023 entsandte die VR China mit dem Ex-Botschafter und ehemaligen Vize-Außenminister Li Hui einen Sondergesandten in die Ukraine, nach Deutschland, Frankreich, Polen und Russland[334][335] wo er Gespräche über eine politische Lösung des Krieges führte.[336]
Im Juli 2023 wurde durch Recherchen der japanischen Zeitung Nikkei Asia bekannt, dass China zwischen Dezember 2022 und April 2023 mehr als 37 Drohnen im Wert von etwa 100.000 Euro nach Russland geliefert hatte. In den Zollunterlagen zu diesen Lieferungen wurde unter anderem vermerkt: „zur Verwendung im Rahmen der Sonder-Militäroperation“. Dem Bericht zufolge hat China bis Mai 2023 insgesamt mehr als 30.000 Drohnen an Russland geliefert.[337] Laut New York Times belief sich der Gesamtwert der Drohnenlieferungen bis März 2023 auf 12 Millionen US-Dollar.[338]
Indien
Indiens Regierung hielt sich bedeckt. Premierminister Narendra Modi erklärte direkt nach Kriegsbeginn nur: „Die Welt erlebt derzeit eine Zeit des Aufruhrs, und Indien muss in solchen Zeiten nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Menschheit stärker sein.“ Indien bezieht einen Großteil seiner Waffen aus Russland.[339]
Laut einer Meldung von Reuters vom 18. Juni 2022 hat Indien in der Zeit vom 27. Mai bis zum 16. Juni 2022 seine Einfuhr von Kohle und Öl aus Russland gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum beträchtlich gesteigert: Kohle um mehr als das 6-Fache auf 331,17 Millionen US-Dollar und Öl um mehr als das 31-Fache auf 2,22 Milliarden US-Dollar. Russische Lieferanten gewähren indischen Abnehmern einen Rabatt von bis zu 30 Prozent. Berichten zufolge seien die russischen Händler bei den Zahlungsmodalitäten sehr großzügig und akzeptierten Zahlungen in indischen Rupien oder Dirham (Vereinigte Arabische Emirate).[340] Diese Volumina sind im Vergleich zu den Gesamtausfuhren Russlands unbedeutend.
Indiens Premierminister Narendra Modi sagte dem russischen Präsidenten am 17. September 2022: „Die heutige Zeit ist keine Zeit für Krieg.“[341]
Iran
Der Iran werde Russland, wie der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Biden, Jake Sullivan, am 11. Juli 2022 mitteilte, „Hunderte“ Drohnen für den Angriffskrieg gegen die Ukraine liefern, darunter auch waffenfähige Drohnen. Es sei im Juli 2022 unklar gewesen, ob schon Lieferungen erfolgt seien.[342] Irans Außenminister Hussein Amirabdollahian dementierte dies wenige Tage später,[343] bestätigte es dennoch im November 2022 mit der Behauptung, Drohnen seien „vor dem Krieg“ geliefert worden.
Im Oktober 2022 waren iranische Drohnenspezialisten auf der Krim tätig.[344][345] Nach Angaben der US-Regierung waren die ersten iranischen Drohnen im August in Russland eingetroffen.[346] Die britische Regierung verhängte daraufhin am 20. Oktober Sanktionen gegen den Iran.[347] Auch die USA und die Europäische Union sowie die Schweiz bereiteten wegen der Drohnenangriffe auf die Ukraine zusätzliche Sanktionen gegen den Iran vor. Nach einem Bericht der Washington Post steht die Lieferung iranischer Raketen mit einer Reichweite von bis zu 700 km an Russland bevor,[346] laut Reuters wurde die Vereinbarung dazu am 6. Oktober abgeschlossen.[348]
Israel
Israel hatte im Vorfeld gute Beziehungen sowohl zur Ukraine als auch zu Russland; Israels Regierungschef Bennett versuchte zunächst zu vermitteln.[349] Beim Werben um stärkere Parteinahme und zur Lieferung von Raketenabwehr vor dem israelischen Parlament verglich Selenskyj Israels Bedrohung durch seine Nachbarn mit der Lage der Ukraine.[350] Eine Anlehnung des ukrainischen Präsidenten an den Zweiten Weltkrieg[351] – er hatte auf das erklärte Ziel Russlands der Vernichtung der Ukraine hingewiesen und darauf, dass in Russland dieselben Formulierungen zur Auslöschung gebraucht würden, wie sie von den Nationalsozialisten verwendet worden waren – stieß teils auf Kritik.[352][353] Israel beteiligt sich bislang nicht an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland.[354] Im Februar 2023 äußerte sich der nunmehr ehemalige Regierungschef Bennett in einem knapp fünfstündigen Interview über seinen Vermittlungsversuch in den ersten Kriegsmonaten. Er habe damals eine 50:50-Chance auf einen Waffenstillstand gesehen. Auf eine Nachfrage, ob der Westen einen möglichen Waffenstillstand verhindert habe, antwortete Bennett: „Grundsätzlich ja“. Er sei sich allerdings unsicher, ob ein Waffenstillstand auf der damals gefundenen Basis aus heutiger Sicht wünschenswert gewesen wäre.[355]
Serbien
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić erklärte, dass Serbien die territoriale Integrität der Ukraine unterstütze, sich westlichen Sanktionen gegen Russland aber nicht anschließen werde.[356][357][358]
Nordkorea
Nordkorea bot Russland im Jahr 2022 an, 10.000 nordkoreanische „Freiwillige“ zur Beteiligung an dem Angriffskrieg gegen die Ukraine zu entsenden.[359] Im Jahr 2023 wurden nach US-amerikanischen Regierungsangaben mehr als 1000 Container mit Militärausrüstung aus Nordkorea nach Russland verschifft.[360] Ab 2023 hat Nordkorea nach Informationen westlicher Geheimdienste etwa 3 Millionen Artilleriegranaten pro Jahr an Russland geliefert.[361] Nach US-amerikanischen Geheimdiensterkenntnissen setzte Russland auch ballistische Raketen aus Nordkorea gegen die Ukraine ein.[362]
Laut N-tv und dem österreichischen Militäroffizier Markus Reisner erhielten die russischen Streitkräfte im Jahr 2024 in zwei Lieferungen jeweils drei Millionen Artilleriegranaten aus Nordkorea.[363][364]
Im Juni 2024 wurde eine strategische Partnerschaft mit militärischem Beistand im Angriffsfall entworfen.[365] Die Duma ratifizierte den Vertrag im Oktober desselben Jahres.[366]
Im Oktober 2024 entsandte Nordkorea nach Informationen von Geheimdiensten aus Südkorea, den USA und der Ukraine zwischen 1.500 und 12.000 Soldaten nach Russland oder entschied dies zu tun, um Russland im Kampf gegen die Ukraine zu unterstützen.[367] Dem südkoreanischen Geheimdienst NIS zufolge wurden die nordkoreanischen Soldaten in Russland mit gefälschten russischen Pässen bzw. Identitäten und Uniformen ausgestattet.[368][369] Südkorea sieht in der Ankunft nordkoreanischer Soldaten im Krieg einen Bruch zahlreicher Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegen Nordkorea durch Russland.[370] Die ukrainische Regierung berichtete dem UN-Sicherheitsrat Ende Oktober, dass nach ihren Erkenntnissen etwa 500 Offiziere (darunter mindestens drei Generäle) unter den nordkoreanischen Soldaten seien. Dem UN-Sicherheitsrat wurde außerdem seitens der Ukraine mitgeteilt, dass mindestens fünf nordkoreanische Brigaden (jeweils etwa 2000 bis 3000 Soldaten) den russischen Streitkräften unterstellt bzw. in diese eingegliedert werden sollen. Nach Erkenntnissen des US-Verteidigungsministeriums waren Ende Oktober 10.000 nordkoreanische Soldaten in der umkämpften Grenzregion Kursk angekommen.[371] Laut Einschätzung von Simon Gauseweg (Jurist mit Spezialisierung auf Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht) ist es – Stand Oktober 2024 – fraglich, ob es sich bei Nordkoreas Unterstützung Russlands um eine direkte Kriegs- oder Konfliktbeteiligung handelt bzw. ob Nordkorea zur Kriegspartei im Russisch-Ukrainischen Krieg wurde, wenn die nordkoreanischen Soldaten unter russischem Kommando und in russischen Uniformen in den Krieg zogen.[1]
Laut einer an der Hankuk University of Foreign Studies durchgeführten Studie hat Nordkorea im Verlauf des Russland-Ukraine-Kriegs bis Oktober 2024 Waffen im Wert von bis zu 5,5 Milliarden US-Dollar an Russland geliefert.[372] Im November 2024 weitete Nordkorea seine Unterstützung für Russland aus – so erhielt Russland knapp 50 schwere Artilleriegeschütze des Typs M-1978 Koksan, eine Selbstfahrlafette der nordkoreanischen Armee sowie knapp 20 Mehrfachraketenwerfer.[373]
Weitere Staaten
Kuba warb für eine diplomatische Lösung des Konflikts. Es behauptete, an der Invasion seien eindeutig der Westen und die NATO schuld; sie würden Russlands Sicherheit gefährden. Bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung zur Verurteilung der Invasion enthielt Kuba sich der Stimme.[374] Tage zuvor hatte Russland die Stundung von Kubas Auslandsschulden angekündigt.[375]
Japan – als G7-Mitglied – setzte wie angekündigt Sanktionen um. Für Halbleiter wurde eine Ausfuhrbeschränkung eingeführt, russische Vermögen wurden eingefroren und bestimmte russische Bürger erhalten kein Visum mehr.
Südkorea schloss sich den Sanktionen an.[376]
Pakistans Premierminister Imran Khan drückte bei seinem Treffen mit Putin am 24. Februar 2022 sein „Bedauern“ darüber aus, dass ein militärischer Konflikt nicht abgewendet werden konnte.[377][378]
Indonesien und Singapur verurteilten die russische Gewalt,[379] ebenso Brasilien,[380] Kenia, Ghana und Gabun.[381]
Afrika droht durch den Konflikt eine Steigerung der Treibstoff- und Getreidepreise. Kenia fürchtet um seine Tee-Exporte nach Russland.[381] Die Regierung Nigerias erklärte, dass ihre Bürger in der Ukraine selbst für ihre Sicherheit verantwortlich seien. Über 4000 Nigerianer studieren derzeit in der Ukraine und bilden damit die fünftgrößte Gruppe von Ausländern in dem Staat. Der nigerianische Botschafter in der Ukraine war zu dem Zeitpunkt bereits aus dem Land geflohen.[382] In der Ukraine leben außerdem 8000 Studenten aus Marokko, 3500 aus Ägypten und über 1000 aus Ghana.[381]
Südafrika hielt zum ersten Jahrestag des Einmarschs gemeinsam mit Russland Flottenübungen ab. Die größte Oppositionspartei Democratic Alliance kritisierte die Politik der südafrikanischen Regierung und erklärte: „Es wird immer deutlicher, dass sich die südafrikanische Regierung offen auf die Seite Russlands stellt.“[383]
Supranationale Organisationen
Vereinte Nationen
Im UNO-Sicherheitsrat scheiterte am 25. Februar 2022 die Resolution 2623, in der der russische Einmarsch in die Ukraine kritisiert wurde, am Veto Russlands. China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate enthielten sich, während die anderen elf Mitglieder dafür stimmten.[384] Die Resolution war zuvor abgeschwächt worden, um noch mehr Gegenstimmen vorzubeugen. So wurde beispielsweise das Wort „verurteilen“ durch „bedauern“ ersetzt.[385][386]
Dafür | Dagegen | Enthaltung |
---|---|---|
Albanien Brasilien Frankreich Gabun Ghana Irland Kenia Mexiko Norwegen Vereinigtes Königreich Vereinigte Staaten |
Russland (Vorsitz) | Volksrepublik China Indien Vereinigte Arabische Emirate |
Am Sonntag, den 27. Februar 2022, trat der UNO-Sicherheitsrat erneut zusammen, um über eine Verweisung des Themas an die UN-Vollversammlung abzustimmen. In der Abstimmung votierten elf Staaten mit „Ja“, drei (Indien, VR China, Vereinigte Arabische Emirate) enthielten sich und Russland votierte dagegen. Nötig war eine Mehrheit von neun Stimmen. Es wurde erwartet, dass die am 28. Februar 2022 beginnende Dringlichkeitssitzung der Generalversammlung, erst die elfte seit Bestehen der UNO, mehrere Tage lang beraten wird.[387] Am 28. Februar 2022 brachten mehr als 90 Staaten, darunter Deutschland, Österreich und die Schweiz, einen Entwurf zur Beschlussfassung in die Vollversammlung der Vereinten Nationen ein. In dem Entwurf wurde die russische Invasion der Ukraine verurteilt und festgestellt, dass eventuelle territoriale Änderungen infolge der Invasion nicht anerkannt würden. Ebenso wurden die Angriffe der russischen Streitkräfte auf zivile Ziele in der Ukraine und die erhöhte Einsatzbereitschaft der russischen Nuklearstreitkräfte verurteilt.[388] In der Abstimmung am 2. März 2022 stimmten 141 Mitglieder der UNO für den Resolutionsentwurf ES-11/1. 35 Staaten enthielten sich, 5 stimmten gegen die Resolution: Russland, Belarus, Syrien, Eritrea und Nordkorea. 12 Staaten, die meisten davon aus Afrika, nahmen nicht an der Abstimmung teil.[389] Die nicht völkerrechtlich bindende Resolution, für deren Annahme eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen notwendig war, „fordert, dass die Russische Föderation unverzüglich ihre Gewaltanwendung gegen die Ukraine einstellt und von jeder weiteren rechtswidrigen Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen einen Mitgliedstaat absieht“.[390][391]
Weil Russlands Außenminister Lawrow aufgrund der EU-Luftraumsperren für russische Flugzeuge am 1. März 2022 nicht persönlich vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf sprechen konnte, wurde seine Ansprache per Video übertragen. Mehr als 140 Diplomaten boykottierten diese Rede durch das Verlassen des Sitzungssaals.[392] Nur Vertreter einiger weniger Staaten, darunter Jemen, Syrien, Venezuela und Tunesien, blieben im Saal.[393]
Russland wurde damit wie nie zuvor in der UNO global isoliert.[150] Gleichwohl wurde Deutschland bei diplomatischen Vorbereitungen der Generalversammlung mitunter Doppelmoral beispielsweise im Hinblick auf andere Militärinterventionen vorgehalten.[394]
Am 7. April 2022 entschieden die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (Generalversammlung), Russlands Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat zu suspendieren. 93 Mitglieder stimmten dafür, 24 dagegen, 58 enthielten sich.[395]
Am 12. Oktober 2022 verurteilten 143/195 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (Vollversammlung) die Annexion der ukrainischen Oblaste Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk durch die Russische Föderation. Es gab fünf Gegenstimmen aus Belarus, Nicaragua, Nordkorea, Russland und Syrien. Unter 35 Enthaltungen waren auch die Voten aus Brasilien, China, Indien und mehreren Staaten Afrikas und des Mittleren Ostens.[396] In der Aussprache wurde nicht nur die besondere Verantwortung der Russischen Föderation – als ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats und Atommacht – für den Frieden in der Welt, sondern auch die Verbindlichkeit der Charta der Vereinten Nationen hervorgehoben. Neben der nach Möglichkeit umfassenden Abrüstung im Nuklearbereich wurde die vollständige Ächtung und Vernichtung biologischer und chemischer Waffen sowie aller Landminen, Streumunition und unbemannter Waffensysteme gefordert. Eine strukturelle Veränderung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und multilaterales Handeln gelten in vielen Ländern als friedensfördernd. Die Integrität des eigenen Territoriums und die Unverletzlichkeit der Grenzen wurden durchgängig betont, die Förderung von Bildung, Gesundheit und nachhaltiger Entwicklung praktisch einvernehmlich gefordert, das Veto Russlands bei der 10. Überprüfungskonferenz für den Atomwaffensperrvertrag im August 2022 fast von allen verurteilt. Als latente Konfliktherde wurden in der Aussprache Israel, Palästina und der Iran, Nord- und Südkorea, China und Taiwan, Ruanda und Kongo, Indien und Pakistan sowie weitere Staaten und Gegenden, deren Bevölkerung aus verschiedenen Ethnien besteht, deutlich.[397]
Am 23. Februar 2023 forderten 141 von 195 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (Vollversammlung) die Russische Föderation auf, den Krieg in der Ukraine zu beenden und alle bewaffneten Kräfte gemäß der UN-Charta vom Territorium der Ukraine zurückzuziehen. Dagegen stimmten sieben Länder (Belarus, Nordkorea, Eritrea, Mali, Nicaragua, Russland, Syrien), 32 enthielten sich, darunter China, Indien und Pakistan. Dabei berief sich die UNO-Vollversammlung auf die Resolution 377A(V) von 1950,[398] die wegen der Handlungsunfähigkeit des UNO-Sicherheitsrats anzuwenden sei. Es gab zwei Eingaben zur Abänderung des Wortlauts der Resolution durch Belarus.[399]
Vom 21. Februar bis 1. März 2023 traf sich, diesmal im Auftrag der 77. Vollversammlung der UNO, der Unterausschuss des Sicherheitsrats zur Bekräftigung der Durchsetzung der UN-Charta zu seiner alljährlichen Aussprache. Mit großer Mehrheit wurde der Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine verurteilt. Besonders die humanitären und wirtschaftlichen Folgen von Sanktionen für Dritte wurden immer wieder hervorgehoben. Die Eingangsstatements vom 21. Februar 2023, darunter die der Europäischen Union und ihrer Beitrittskandidaten sowie des Irans als Sprecher der bündnisfreien Staaten, unterschieden für den Reformprozess der UNO und die Bekräftigung der UN-Charta, insbesondere angesichts des Ukrainekriegs, unterschiedliche Schwerpunkte. Viele Länder befürworteten eine Stärkung regionaler Befriedungen von regionalen Konflikten, andere wünschten eine Beibehaltung oder sogar Stärkung der Sanktionsgewalt des Sicherheitsrats zu Lasten von Sanktionen durch einzelne Länder oder Bündnisse. Auch die Zusammensetzung des Sicherheitsrates und sein mögliches Eingreifen in die Kompetenzen anderer UN-Organe wurden kritisiert.[400] Belarus und die Russische Föderation schlugen am 24. Februar 2023 vor, den Einmarsch in der Ukraine durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag dahingehend begutachten zu lassen, ob er mit der UN-Charta vereinbar ist.[401]
Europarat
Der Europarat – in dem Russland seit 1996 Mitglied war – setzte die russische Vertretung im Ministerrat und in der Parlamentarischen Versammlung am 25. Februar 2022 aus. Der von Russland entsandte Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bleibt hingegen im Amt.[402][403] Am 15. März erklärte Russland seinen Austritt aus dem Europarat, am Folgetag schloss das Ministerkomitee des Europarats Russland endgültig aus.[404]
Auf einem Gipfeltreffen im Mai 2023 beschloss der Europarat die Errichtung eines sog. Schadensregisters mit Sitz in Den Haag.[405] Darin sollen Informationen und Beweise über Schäden, Verluste und Verletzungen dokumentiert werden, die Personen, Einrichtungen oder der ukrainische Staat seit dem 24. Februar 2022 durch russische Angriffe erlitten haben.[406][407] Ziel ist ein Entschädigungsmechanismus, der beispielsweise durch Inanspruchnahme russischen Auslandsvermögens die volle Wiedergutmachung für die Opfer der russischen Aggression gewährleistet.[408]
Europäische Union
Bereits am 16. Dezember 2021 hatte das EU-Parlament u. a. den großangelegten Aufmarsch russischer Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine verurteilt und sämtliche diesbezüglichen Rechtfertigungen Russlands zurückgewiesen.[409]
In seiner Entschließung vom 1. März 2022 zu Russlands Aggression gegen die Ukraine[410] verurteilte das Europäische Parlament den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine auf das Schärfste und forderte die Organe der EU auf, darauf hinzuwirken, dass die Ukraine den Status eines EU-Bewerberlandes erhält. Weiterhin begrüßten die Abgeordneten, dass die EU rasch Sanktionen ergriffen hatte, und befanden darüber hinaus, dass einige davon auch für Belarus gelten sollten. Befürwortet wurden u. a. auch eine schnellere Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine und eine engere nachrichtendienstliche Zusammenarbeit der EU mit der Ukraine.[411] Für die Entschließung stimmten 637 und dagegen 13 Abgeordnete, darunter die aus der Republik Lettland entsandte Tatjana Ždanoka (Die Grünen/Europäische Freie Allianz).[412]
Auf eine Staatenbeschwerde der Ukraine forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 1. März 2022 die russische Regierung auf, militärische Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte wie Schulen und Krankenhäuser sowie medizinisches Hilfspersonal zu unterlassen.[413][414]
Am 3. März 2022 beschloss der Rat für Justiz und Inneres den „Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen“ nach Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG (Massenzustrom-Richtlinie) vom 20. Juli 2001,[415] die nun erstmals zur Anwendung kommt.[416][417] Die ukrainischen Flüchtlinge genießen danach vorübergehenden Schutz in den Mitgliedstaaten durch Gewährung eines entsprechenden Aufenthaltstitels.[418] Am 28. Februar 2022 hatte das Europäische Parlament in einem Entschließungsantrag die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, diesen Vorschlag zu billigen.[419]
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
Nach Beginn des Angriffskrieges schloss die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich die Zentralbank der Russischen Föderation am 10. März 2022 von allen Treffen und Dienstleistungen aus.[420]
Gesellschaftliche Reaktionen
Proteste in der Zivilbevölkerung
Im Mai 2022 trat Boris Bondarew, ein Diplomat bei der russischen UNO-Vertretung in Genf, von seinem Posten zurück. Er erhielt Asyl in der Schweiz.[421][422]
Ab dem Tag des Überfalls gab es in zahlreichen Städten Russlands Protestkundgebungen, bei denen allein am ersten Tag mehr als 1700 Personen festgenommen wurden (davon 957 in Moskau).[423] Auch außerhalb Russlands fanden in zahlreichen Städten Großkundgebungen gegen die russische Invasion statt.
Der Protest in Russland wurde brutal unterdrückt und es wurden ab Anfang März willkürlich anwendbare und wohl verfassungswidrige[424] Gesetze erlassen. Am 8. Juli wurde dadurch ein lokaler Parlamentsabgeordneter Moskaus, Alexei Gorinow, wegen angeblicher Kritik an den russischen Streitkräften zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in einer Sitzung über Kinderfeste Zurückhaltung üben wollte und darauf hingewiesen hatte, dass in der Ukraine Kinder stürben.[425] Die Gesetze unterbinden so nicht nur Demonstrationen, sondern jegliche angeblich kritischen Äußerungen durch die Androhung von Höchststrafen. Neun Ermittler hätten einige wenige Sätze wie unter dem Mikroskop untersucht, um seine „geheimen Gedanken“ zu entschlüsseln, mokierte sich Gorinow in seinem Schlusswort vor Gericht. Die NZZ nannte es das glasklar politische Verdikt einer Diktatur. Der Journalist Michail Fischman nannte das Urteil „stalinistisch“.[426]
Der Protest in Russland wurde leise und subtil; „die Menschen protestierten im Flüsterton“, schrieb die Nowaja gaseta.[427]
Auswanderung aus Russland
Infolge des Angriffskriegs wanderten laut einem am 10. März 2022 veröffentlichten Bericht des US-amerikanischen Senders NPR zwischen 100.000 und 200.000 Russen aus, darunter Wissenschaftler, Gründer und IT-Fachkräfte.[428] Allein nach Georgien emigrierten bzw. flohen nach Angaben des dortigen Innenministers im März 30.000 Russen.[429] Nach Armenien wanderten nach einer Schätzung des armenischen Wirtschaftsministers etwa 43.000 Russen aus.[430] Der russische Digitalisierungsminister Maxut Schadajew räumte Ende 2022 ein, dass circa 100.000 russische IT-Spezialisten nach Beginn des Angriffskriegs das Land verlassen hatten.[431]
Um die Talentabwanderung zu stoppen, verfügte Russland höhere Löhne, und es wurde die Wehrpflicht für IT-Fachkräfte zeitweise ausgesetzt. Allgemein wollte Russland von April bis Juni 2022 134.500 Männer zwischen 18 und 27 Jahren einberufen.[432][433] Im März 2022 erhielten 553.000 Menschen in Russland einen Reisepass, das waren 36 % mehr als im Februar.[434]
Im Verlauf des Jahres 2022 verabschiedete die russische Regierung mehrere Gesetze, die faktisch jede aktive Tätigkeit russischer Bürger im Ausland kriminalisieren. Dies umfasst auch Kontakte zu lokalen und internationalen Organisationen, die bei einer Auswanderung unvermeidlich sind. Da Urteile auch in Abwesenheit der Angeklagten ausgesprochen werden, bedeutet dies unter Umständen eine sofortige Verhaftung bei der Rückkehr nach Russland.[435]
Nach Angaben der Internetzeitung Meduza, die sich auf Zahlen des russischen Geheimdienstes FSB beruft, reisten nach der am 21. September 2022 ausgerufenen Teilmobilmachung in Russland innerhalb von vier Tagen (bis zum 24. September) 261.000 Männer aus Russland aus.[436] Nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex reisten vom 21. bis zum 26. September 2022 fast 66.000 russische Staatsbürger in die Europäische Union ein.[437] Die kasachische Migrationsbehörde vermeldete am 27. September die Einreise von etwa 98.000 russischen Staatsbürgern nach dem 20. September.[438] Bereits vor der Teilmobilmachung hatten Russlands Nachbarländer Estland, Lettland, Litauen und Polen (zum 19. September 2022) die Einreisebestimmungen für Russen verschärft: Einfache Schengen-Visa sollten nicht mehr für die Einreise ausreichen.[439] Auch Finnland kündigte Verschärfungen an.[440] Asylanträge wegen drohender Einberufung wurden in der EU restriktiv behandelt.
In Deutschland werden Visa-Anträge aus Russland sehr restriktiv gehandhabt; im Jahr 2022 stellten 2851 russische Staatsbürger dort einen Erstantrag auf Asyl.[441]
Nachdem Russland im September 2022 hohe Strafen für Fahnenflüchtige in Kraft gesetzt hatte, kündigte Selenskyj an, dass russische Soldaten, die sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben, zivilisiert behandelt würden und dass auch Wege gefunden würden, sie nicht gegen ihren Willen in einen Gefangenenaustausch einzubeziehen.[442] Bis Februar 2023 sind innerhalb eines Jahres zwischen 500.000 und ca. eine Million Menschen aus Russland ausgewandert.[443]
Unterstützung für Putin bzw. den russischen Einmarsch
Außerhalb Russlands
Anders als die weltweiten Proteste, die sich gegen den russischen Einmarsch richteten, bekundeten etwa zehntausend Menschen in Serbiens Hauptstadt Belgrad am 4. März ihre Unterstützung für den russischen Einmarsch in die Ukraine.[444] Auch aus der Querdenker-Szene und der Community der Russlanddeutschen gibt es teilweise Zustimmung.[445][446][447][448] Antiamerikanisch eingestellte Internetnutzer aus dem chinesischen und auch arabischen Raum verlautbarten ebenfalls prorussische Statements.[449][450]
In Deutschland ist die Unterstützung des russischen Einmarsches als Billigung eines Angriffskrieges nach § 140 Nr. 2 StGB i. V. mit § 138 Abs. 1 Nr. 5 StGB und § 13 VStGB strafbar. Die Strafbarkeit könnte schon dann vorliegen, wenn man ein „Z“ auf sein Auto klebt.[451]
Siehe auch: Prorussische Proteste zum russischen Überfall auf die Ukraine 2022
In Russland
Durch den russischen Überfall auf die Ukraine erlebte Russland einen „Denunziationsrekord“. Im ersten Halbjahr 2022 verzeichnete eine russische Behörde insgesamt 145.000 Denunziationen. Damit stieg die Zahl solcher Beschuldigungen in Russland um 25 Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum an.[452][453]
Umfragen ermittelten zu Beginn (Februar/März) eine mehrheitliche Zustimmung der russischen Bevölkerung zum Überfall (71 % laut Radio Liberty[454], 59 % laut Washington Post[455], 58 % laut Russian Field[456]). Unter jüngeren Menschen war die Zustimmung allgemein niedriger als unter älteren. Laut einer in Russland durchgeführten und im April 2022 veröffentlichten repräsentativen Umfrage des Lewada-Zentrums, des laut Spiegel „einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland“, sprachen sich 81 Prozent der Befragten „definitiv“ oder „eher“ für das „Vorgehen“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine aus. 14 Prozent lehnten eine Unterstützung ab, die übrigen 6 Prozent blieben unentschieden. Gaben 51 Prozent der Befragten „Stolz“ als dominierendes Gefühl in Bezug auf die „militärische Operation“ an, beschrieben es 12 Prozent für sich persönlich als „Schock“. In der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren lehnten 20 Prozent der Befragten das militärische Vorgehen Russlands ab, 71 Prozent stimmten ihm zu (Russian Field hatte hier nur 29 % ermittelt). In der höchsten Altersgruppe ab 55 Jahren befürworteten insgesamt 86 Prozent die „militärische Operation“. 42 Prozent aller Befragten glaubten, Russland habe seine „Spezialoperation“ gestartet, um die „russischsprachige Bevölkerung“ und „Zivilisten“ in der Ostukraine zu schützen. 25 Prozent der Befragten glaubten außerdem, so solle ein „Angriff auf Russland verhindert werden“.[457][458]
Unter anderem aufgrund der vielen Rückeroberungen durch die Ukraine und spätestens seit den Ereignissen rund um die Mobilmachung im September wurde in westlichen Medien vielfach von einem Rückgang der Unterstützung der Bevölkerung berichtet. Anfang Dezember 2022 lag sie laut dem britischen Militärgeheimdienst nur noch bei einem Viertel.[459] Laut Aussage des Leiters des Lewada-Zentrums Anfang März 2023 liegt die Unterstützung seit Kriegsbeginn allerdings durchgehend stabil bei 70–75 % – und das obwohl gleichzeitig über die Hälfte der Russen „eine Einstellung der Feindseligkeiten und die Aufnahme von Friedensverhandlungen“ wünscht.[460]
Patriarch Kyrill I. der Russisch-Orthodoxen Kirche stellte sich nach dem Einmarsch auf die Seite des russischen Staats und legitimierte mit seiner geistlichen Autorität die „militärische Spezialoperation“ als Verteidigungskampf gegen die „Kräfte des Bösen“. In einer Predigt garantierte er jedem, der „in Ausübung seiner militärischen Pflicht“ stirbt, den Eintritt ins Himmelreich. Kyrills Predigten enthalten Thesen zur Rechtfertigung des Krieges, die auch von Putin verwendet werden: Die These von der historischen Einheit der Russen und der Ukrainer, es gehe um die Verteidigung „traditioneller Werte“ und um die Verteidigung der Souveränität Russlands.[461]
In der Ukraine
Nachdem sich in einem digitalen Abstimmungsprozess eine Mehrheit von 6,5 Millionen Ukrainern für die Umbenennung von Straßen, deren Namen an russische und sowjetische Persönlichkeiten sowie an kommunistische Vordenker erinnern, ausgesprochen hatte, gab der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, die Umbenennung von 95 solcher Kiewer Straßen und Plätze bekannt. Unter den entfernten Straßennamen sind auch solche mit Bezügen zu russischen Städten.[462]
Positionen von Religionsgemeinschaften
Einordnungen
Völkerrecht
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verpflichtete die Russische Föderation, militärische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen zu unterlassen.[463] Der Internationale Gerichtshof sprach auf Antrag der Ukraine gegen Russland die einstweilige Anordnung aus, die militärischen Operationen gegen die Ukraine sofort zu beenden.[464] Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eröffnete auf Antrag von 39 Mitgliedsländern des Römischen Statuts ein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit möglichen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord auf dem Gebiet der Ukraine, betreffend den Zeitraum ab dem 21. November 2013.[465] Am 2. März 2022 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der überwältigenden Mehrheit von 141 Stimmen[466] (73 % der stimmberechtigten Nationen, 78 % der abgegebenen Stimmen) die Resolution ES-11/1, die den Einmarsch in die Ukraine als Aggression auf das Schärfste missbilligt[467] und Russland unter anderem zum sofortigen Rückzug seiner Truppen auffordert.
- Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta): Bereits die Annexion der Krim 2014 und ihre Aufnahme in die Russische Föderation verstießen gegen das Völkerrecht. Das wurde in der Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung vom 27. März 2014 bestätigt. Weder das gegen demokratische Prinzipien verstoßende Aufnahme-Referendum noch die anschließende Unabhängigkeitserklärung waren völkerrechtlich legitimiert.[468] Die Anerkennung der separatistischen „Volksrepubliken“ in Donezk und Lugansk durch Russland hat die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine verletzt.[469] Der russische Einmarsch in die Ukraine verletzt die Souveränität der Ukraine und das Gewaltverbot nach Art. 2, Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen.[470] Die Ukraine hat das Recht zur Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta. Andere Staaten dürfen ihr gegen den Angriff auch ohne UN-Mandat Beistand leisten.[471]
- Internationaler Gerichtshof (IGH): Am 26. Februar 2022 reichte die Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen Russland ein. Die Klagepunkte beziehen sich auf die Auslegung, Anwendung und Erfüllung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes.[472][473] Russland betreibe Völkermord in der Ukraine und rechtfertige seine Invasion der Ukraine missbräuchlich mit einem Vorwurf des Völkermords.[474] Am 16. März 2022 ordnete der IGH vorläufig, aber völkerrechtlich bindend, an, dass Russland die militärische Gewalt sofort beenden müsse. Er hat allerdings keine Mittel, Russland dazu zu zwingen.[475] Die Entscheidung erging mit 13 zu 2 Stimmen; dagegen stimmten nur der russische Richter und die chinesische Richterin.[476] Das Urteil stellt im Punkt 2 klar, dass dies neben den regulären russischen Truppen explizit auch für andere Streitkräfte „unter seiner Kontrolle oder unterstützt von Moskau“ gilt, deren Einstellung der Feindseligkeiten Russland ebenfalls sicherzustellen habe.[477]
- Internationaler Strafgerichtshof (IStGH): Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Ahmad Khan, kündigte am 28. Februar 2022 die Einleitung von Ermittlungen gegen alle Kriegsparteien wegen möglicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Territorium der Ukraine an.[478] Am 2. März 2022 wurden diese offiziell aufgenommen und mit der Erhebung von Beweismitteln begonnen. Russland erkennt das Gericht nicht an, sodass ein richterlicher Beschluss zu Ermittlungen gegen Russland notwendig ist. Die Ukraine akzeptiert die Zuständigkeit des Gerichts für Ermittlungen auf seinem Territorium für Verbrechen ab dem 21. November 2013.[478][479][480][481][482] Carla Del Ponte, eine Leiterin der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, forderte Anfang April 2022 vom Internationalen Strafgerichtshof die Ausstellung eines internationalen Haftbefehls gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin.[483] Im März 2023 erließ der IStGH zwei internationale Haftbefehle gegen Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa (siehe Haftbefehl gegen Wladimir Putin).[484]
- Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA): Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat am 8. März 2022 von Amts wegen ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren eingeleitet, um mögliche Kriegsverbrechen in der Ukraine aufzuklären.[485] Unter anderem geht es dabei um verbotene Methoden der Kriegsführung, wie etwa den Einsatz von Streubomben.[486] Zur Verfolgung von bestimmten Tatbeständen des Völkerstrafrechts sind nach dem Weltrechtsprinzip deutsche Gerichte befugt, auch wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist (§ 1, § 12 VStGB).[487]
Sicherheitspolitik
UN-Generalsekretär António Guterres nannte den Krieg „eine der größten Herausforderungen für die internationale Ordnung und die globale Friedensarchitektur“ seit dem Zweiten Weltkrieg.[488] Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sah ein Scheitern im bisherigen „Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden“.[489] Insbesondere europäische Länder revidierten teils jahrzehntelange sicherheitspolitische Überzeugungen. Die Europäische Union griff das Konzept der EU-Eingreiftruppe wieder auf, Deutschland priorisierte im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft Rüstungsausgaben[490] und neutrale Staaten stellten ihren Status infrage.[491] Die Schweizer Armee kämpft derweil mit großen Finanzierungsengpässen.[492] Auch Länder außerhalb Europas wie Japan oder Australien forderten gemeinsame Anstrengungen und zeigten Bereitschaft, sich daran zu beteiligen.[493] Johannes Plagemann vom German Institute for Global and Area Studies weist allerdings darauf hin, dass „die große Mehrzahl der Staaten […] in Asien, Afrika und Lateinamerika“ den Konflikt als „europäisches Problem“ einschätzen, in den sie vor allem nicht involviert werden wollen.[494]
Historiker und Politikwissenschaftler
Kurzfristige Reaktionen nach dem Überfall
Der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler stellte fest, der Westen habe die Wirkung von Sanktionsdrohungen überschätzt. Wirtschaftliche Macht entfalte ihre Wirkung langsam, während militärische Macht in kürzester Zeit zerstören könne, was über Jahre aufgebaut wurde. Putins Kalkül sei offensichtlich gewesen, in einem raschen militärischen Schlag Fakten zu schaffen, um danach die Sanktionen des Westens auszusitzen; „nach einer kurzen Zeit missmutigen Grollens“ würde der Westen die geschaffenen Fakten akzeptieren. Die ukrainische Bevölkerung habe die russischen Truppen jedoch nicht als Befreier begrüßt.[495] Auch der russische Journalist Alexei Wenediktow bestätigte die Erwartung der Verantwortlichen dieser Invasion, „mit Blumen begrüßt zu werden“.[496] Die russische Journalistin Julija Leonidowna Latynina beschrieb, genau aufgrund Putins Sicht auf die Welt sei die „Spezialoperation“ geplant worden, die laute: Es gibt in der Ukraine ein Russland brüderlich liebendes Volk und es gibt Nazis, die mit Hilfe der Amerikaner die Macht ergriffen haben. Aufgrund dieser „Fakten“ sei der Einmarsch geplant worden, in der Erwartung, dass die Brüder die Befreier mit Blumen erwarteten. Der ganze Plan sei an zwei „unvorhergesehenen Hindernissen“ gescheitert, von denen eines das ukrainische Volk und das andere die ukrainische Armee sei.[497] Der Schweizer Historiker und Politikwissenschaftler Jeronim Perović meinte, Putin habe sich während der COVID-19-Pandemie isoliert und „zusehends radikalisiert“,[498] was auch der deutsche Politikwissenschaftler Dieter Ruloff so einschätzte: „Während dieser Krise sass er einsam im Kreml, umgeben einzig von ein paar Jasagern.“[499] Es sei tatsächlich „Putins Krieg“, weil davon auszugehen sei, dass kaum jemand anderer auf diese Entscheidung einen Einfluss hatte, so der Politikwissenschaftler Michael Staack.[500] Gegenüber der BBC hatte Andrei Kortunow, Generaldirektor des „Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten“ (RIAC), der sich für Internationale Zusammenarbeit einsetzt, angegeben, dass der russische Plan offenbar von einer zweiwöchigen Operation ausgegangen sei.[501] Der Krieg sei als Blitzkrieg geplant gewesen und diese Strategie gescheitert, so der Historiker Jörg Baberowski am 6. März 2022. Putin habe aus Gründen seines eigenen Machterhalts gar keine Alternative, als so lange weiter zu eskalieren, bis er Bedingungen stellen könne.[502][503]
Philipp Ther nannte es besorgniserregend, dass der Krieg mit unrealistischen Zielen begonnen wurde; „wie kommt man dann aus diesem Krieg wieder raus?“[169] Laut dem Historiker Andreas Rödder zerstört Putin diese „regelbasierte internationale Ordnung, die auf der Herrschaft des Rechts statt auf dem Recht des Stärkeren beruht“.[504] Der Journalist und Politikwissenschaftler Nikolas Busse hatte schon Ende 2021 in FAZ.net daran gezweifelt, dass Putin selbst an den Erfolg seiner wenig realistischen Forderung glaubte. „Die NATO-Staaten würden ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, wenn sie einem Dritten, noch dazu einem potentiellen Gegner, ein Vetorecht über den Beitritt zur Allianz und ihr militärisches Dispositiv zugestehen würden.“[505] Einen Tag vor dem Angriff erklärte der russische Historiker Nikita Petrow, dass es Putin nur um Machterhalt und die Manipulation des (eigenen) Volkes gehe.[506] Putin sei durch die schwache Haltung des Westens schon im Kaukasuskrieg 2008 ermutigt worden. Der Unwille zum Krieg sei im Westen so tief verankert, dass man in dieselbe Falle wie 1938 getappt sei, als die europäischen Mächte Adolf Hitler die Sudetengebiete überließen.[507] Münkler nannte den Angriff eine Zeitenwende: Vertrauen in eine regelgebundene und wertegestützte Weltordnung könnte fast nur mit der sehr unwahrscheinlichen Aburteilung Putins vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen des Führens eines Angriffskrieges wiederhergestellt werden.[495] Olivier Roy erklärte, dass Putin durch den Angriff auf die Ukraine seine gesamte über 20 Jahre aufgebaute Soft Power verloren habe, die bis dahin für seine Rolle in der Weltpolitik entscheidend gewesen sei.[508]
Während der Folgemonate
Der rumänische Historiker Armand Gosu erklärte im Mai 2022 in einem Interview, dass Russland sich „schon seit langem im Kriegszustand mit dem Westen“ befinde, nur dass dieser mit dem Überfall auf die Ukraine die Form eines konventionellen Kriegs angenommen habe.[509]
Der Politologe Wladimir Pastuchow sah in einer der letzten Ausgaben der Nowaja gaseta, die am 23. März 2022 erschien,[510] in Russland eine „totalitäre Matrix“ am Werk. Das russische Volk lebe innerhalb dieser Matrix, die sich von Epoche zu Epoche reproduziere und von den in Russland kursierenden Ideen erzeugt werde. Ein „Gebräu […] aus Kommunismus, Orthodoxie, Nationalismus, Imperialismus, Mystizismus“ bilde die Grundlage von Putins Herrschaft. Pastuchow vermutet, „dass die erdrückende Mehrheit der Umgebung des Präsidenten tatsächlich“ mit dem „Virus“ des Hypernationalismus „infiziert ist und das, was wir beobachten, keine Verstellung, kein Zynismus ist, sondern eine Art kollektive Ekstase der Mitglieder eines semireligiösen Ordens“. Pastuchow sieht seine einzige Hoffnung darin, dass der entstandene „emotionale Flächenbrand“ des Kriegs in der Ukraine „nicht ewig andauern“ könne.[511] Das Risiko, dass der Überfall auf die Ukraine in einen Atomkrieg einmünden könnte, schätzte Pastuchow mit den Worten ein: „Könnte natürlich auch sein, dass da jemand kollektiven Selbstmord begehen will, dann kann man ihn schlecht davon abhalten, aber Selbstmörder bauen keine Paläste.“
Der Historiker und Spezialist für russische Geschichte Orlando Figes kennt kaum ein Land, „in dem Geschichte und Mythos so ineinander übergehen“. Im Spiegel-Gespräch zieht er Parallelen zwischen Putin und Zar Nikolaus I. Dieser habe zur Abwehr der seinerzeitigen revolutionären Freiheitsbewegungen in Russland wie im europäischen Ausland einen Dreiklang aus Autokratie, Orthodoxie und Nationalismus entwickelt, eine starke Zensur angeordnet und harte Strafen gegen die Dekabristen wie gegen alle Regimegegner verhängt. Die womöglich deutlichste Parallele: Dieser Zar zog im Krimkrieg „gegen fast ganz Europa in den Krieg, um russische Prinzipien zu verteidigen“. Als Nationalstaat im westlichen Sinne habe Russland nie bestanden, sei vielmehr immer ein Imperium gewesen, seit in der Mitte des 16. Jahrhunderts das Wort vom „Sammeln der russischen Erde“ aufkam. Für Figes handelt es sich beim russischen Krieg in der Ukraine vor allem um Landraub: „Russland will eine Landbrücke zur Krim.“ In der langen gemeinsamen Geschichte von Russen und Ukrainern seien die Ukrainer, wie Geschichtsbücher aus dem 19. Jahrhundert zeigten, als minderwertig angesehen worden, als die „kleinen Russen“ (für die es auch mancherlei Schimpfwörter gibt) im Gegensatz zu den „großen Russen“ Russlands. Putin habe in seinem Aufsatz Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern diesem Verhältnis noch einen „neuen Dreh“ gegeben, indem er ausführte, dass die „kleinen Russen“ jedes Mal, wenn sie sich aus der Umarmung der „großen Russen“ hätten lösen wollen, feindlichen Mächten in die Hände gefallen seien: den Polen und Schweden im 17. Jahrhundert, den Österreichern im 19. Jahrhundert, den Deutschen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, zuletzt eben der NATO. Dieser Lesart nach könne Putin die Ukraine nicht gehen lassen, weil der Westen sie gegen Russland instrumentalisieren werde.[512]
Agnieszka Graff und Elżbieta Korolczuk betonen die Rolle der traditionellen Geschlechter- und Sexualitätsnormen sowie die Angst vor westlichen Werten, wie einem liberalen Umgang mit Homosexualität und Transgender, die in der russischen Bevölkerung erfolgreich durch staatliche und kirchliche Anti-Gender-Rhetorik verbreitet worden sei. Die Invasion sei schließlich auch als Abwehr gegen eine angebliche „kulturelle Kolonisierung“ inszeniert worden, der der Osten durch die westlichen Werte ausgesetzt sei, was die Akzeptanz in der Bevölkerung für den Angriffskrieg erhöht habe.[513]
Nach einem Jahr Krieg
Ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs findet Herfried Münkler in einem Beitrag für den Spiegel, man habe es inzwischen mit einem „Erschöpfungskrieg“ zu tun, aus dem derzeit nur „Erschöpfungsverhandlungen“ resultieren könnten. „Keine Seite rückt von ihren Maximalforderungen ab, solange sie darauf setzen kann, im weiteren Fortgang ihre Position zu verbessern.“ Die Ermattungsstrategie ziele darauf, die Zeit zur strategischen Ressource zu machen. Bewegung komme in die festgefahrene Lage erst, wenn die Seite mit den weiterreichenden Zielen (per definitionem der Angreifer) „einsieht, dass sie diese Ziele nicht oder nur zu einem für sie unbezahlbaren Preis erreichen kann“. Als Aufgabe des Westens sieht es Münkler, die Ukraine im Erschöpfungskrieg mit Waffen und Munition durchhaltefähig zu machen. Die Ukraine könne westlicherseits zu Verhandlungen vermutlich nur bewogen werden durch Sicherheitsgarantien, „die sicherstellen, dass die russische Seite, sollte sie nach einiger Zeit den Krieg wieder eröffnen, es mit stärkeren Kräften als nur denen der Ukraine zu tun hätte“.[514]
Ebenfalls im Februar 2023 wies der US-Historiker Timothy Snyder im Spiegel-Gespräch darauf hin, was die Ukrainer mit ihrem Widerstand gegen den russischen Überfall bewirkt hätten. Wäre die Ukraine, wie von Putin wohl erwartet, binnen drei Tagen gefallen, „würden wir uns heute fragen, warum Diktaturen besser funktionieren als Demokratien, oder was wir tun würden, wenn Chinesen und Russen die Welt regieren sollten“. Hätten die Ukrainer der russischen Armee nicht widerstanden, wäre in Deutschland kein Jahr Zeit gewesen, über Zeitenwende und Panzerlieferungen zu diskutieren. „Der Zusammenhalt des Westens hängt davon ab, dass die Ukrainer gewinnen.“ Der ukrainische Widerstand habe die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs „für die nächsten Jahrzehnte minimiert“. Eine NATO-Russland-Konfrontation erscheint Snyder angesichts der sich unterdessen abzeichnenden Kräfteverhältnisse sehr unwahrscheinlich.[515]
Die Historikerin Marci Shore, die sich als amerikanische Jüdin bezeichnet, erwägt im Umfeld des Jahrestags der russischen Ukraine-Invasion Alternativen des Kriegsausgangs: „Die realpolitische Fantasie, Teile der ukrainischen Bevölkerung unter russischer Besatzung zu belassen, ist nicht tragbarer als die Vorstellung, man hätte Teile der jüdischen Bevölkerung unter Nazi-Besatzung lassen können.“ Politstrategen dächten an ein Opfern von Land. Dagegen zitiert Shore Oleksandra Matwijtschuk: „Wir Ukrainer kämpfen nicht um Gebiete, wir kämpfen für die Menschen, die in diesen Gebieten leben. Wir werden diese Menschen niemals der Folter und dem Tod preisgeben, dazu haben wir nicht das moralische Recht.“ Aus Shores Sicht sollte der Krieg mit einem ukrainischen Sieg enden und mit einem Wiederaufbau der Ukraine „in einer Weise, die anerkennt, dass die Ukrainer für uns alle gekämpft haben“.[516]
Sport
Ein Großteil der internationalen Sportverbände suspendierte russische Sportverbände und zum Teil auch Athleten von der Teilnahme an ihren Wettbewerben. In Deutschland wurde schon gut zwei Wochen nach dem Überfall als Reaktion von einer Reihe namhafter gegenwärtiger und ehemaliger Athleten sowie weiteren Vertretern der deutschen Zivilbevölkerung der Verein Athletes for Ukraine gegründet, der zum einen Hilfsgüter für die Ukraine sammelt und bis an die Grenze bringt, zum anderen geflüchtete Ukrainer in Deutschland unterstützt.[517][518]
Humanitäre Lage
Die Nichtbeachtung des humanitären Völkerrechts verursachte humanitäre Katastrophen und löste die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg aus.[519][150][520] Bis zum 20. März 2022 waren rund 10 Millionen Menschen vor dem Krieg geflohen, davon ein Drittel ins Ausland.[521] Im Oktober 2022 lebten mindestens 14,5 Millionen Menschen als Geflüchtete an einem anderen Ort, mehr als die Hälfte davon im Ausland.
Das komplexe System der Wasserversorgung des Donbas war früh im Krieg zerstört.[522]
In der Ukraine
Amnesty International beklagt, dass die russischen Truppen Streumunition gegen Zivilisten einsetzten. Am 25. Februar 2022 wurde die Stadt Ochtyrka mit Streumunition beschossen. Dabei wurden ein Krankenhaus und ein Kindergarten getroffen, wobei drei Zivilisten getötet wurden, darunter ein Kind.[523] Russland und die Ukraine sind dem Übereinkommen über Streumunition nicht beigetreten. Die USA warfen dem russischen Militär im März zudem vor, im Widerspruch zu seinen bisherigen Behauptungen ungelenkte Bomben einzusetzen.[524]
Am 2. März brach im belagerten Mariupol, nachdem die Stadt beschossen worden war, die Versorgung mit Wasser, Heizung und Strom zusammen.[525] Vier Tage später war die Lage laut Ärzte ohne Grenzen für die Zivilbevölkerung in Mariupol katastrophal.[526][527][528] Ärzte ohne Grenzen gab am 13. März an, dass erstmals Tote aufgrund Medikamentenmangels zu beklagen seien.[529] Nach Angaben des dortigen Stadtrats sind in Mariupol vom Beginn der russischen Invasion bis zum 13. März 2187 Einwohner ums Leben gekommen.[530]
Am 3. März einigten sich Russland und die Ukraine bei den Verhandlungen in Belarus nach Auskunft von Mychajlo Podoljak, dem Chef des ukrainischen Präsidialamts, auf die Schaffung humanitärer Korridore für eingeschlossene Städte.[531] Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nahm am 3. März Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine auf.[525] Die russischen Truppen griffen nach Angaben des britischen Militärgeheimdienstes besiedelte Gebiete in Charkiw, Tschernihiw und Mariupol an. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte, es habe mehrere Angriffe auf Gesundheitszentren in der Ukraine gegeben.[526][527] Nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministers Wiktor Ljaschko sind vom Beginn der russischen Invasion bis zum 13. März sieben Krankenhäuser zerstört und 100 weitere Gesundheitseinrichtungen beschädigt worden.[532] Am 13. Mai waren nach ukrainischen Angaben 570 Gesundheitseinrichtungen im Land durch russische Angriffe zerstört, darunter 101 Krankenhäuser.[533]
Ärzte berichteten, dass sie infolge des Krieges Verletzungen behandeln, auf die sie sowohl mental als auch handwerklich kaum vorbereitet sind.[534]
- Humanitäre Lage in den sogenannten „Volksrepubliken“
Kurz vor Beginn der russischen Invasion wurde ukrainischen Männern in den als russischen „Volksrepubliken“ proklamierten östlichen Gebieten der Ukraine, Donezk und Lugansk, die Ausreise untersagt; viele wurden zwangsrekrutiert und nach einer militärischen Kurzeinführung ohne Verpflegung an die Front gegen ihre eigenen Landsleute geschickt.[535][536][537]
In kleinen Dörfern im besetzten Süden der Ukraine wurden den Menschen die Mobiltelefone weggenommen, damit sie keine Fotos machen konnten; außerdem wurden sie für Zwangsarbeit eingesetzt.[538] Unter großem Aufwand versuchen Ukrainer ihre Landsleute aus den besetzten Gebieten herauszuholen.[539]
Es werden Deportationen aus den besetzten Gebieten durchgeführt, die Russland als Evakuierungen bezeichnet. Am 18. Juni 2022 teilte ein Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums mit, Russland habe 1,936 Millionen Menschen aus der Ukraine „evakuiert“, darunter 307.000 Kinder.[540]
Flucht vor der russischen Invasion
Der Überfall führte zu einer großen Fluchtbewegung innerhalb der Ukraine. Die Menschen flüchteten zu den Grenzen und ins Ausland; schon Tausende hätten bis zum 25. Februar das Land verlassen. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) waren bis dahin bereits mehr als 100.000 Menschen betroffen. Sollte sich die Situation im Land weiter verschlechtern, könnten bis zu vier Millionen Ukrainer betroffen sein. Verschiedene Nachbarstaaten und weitere Staaten kündigten an, Flüchtlinge aufzunehmen.[541] Aus den Separatistengebieten im Osten seien bereits 110.000 Personen nach Russland geflohen, gab Außenminister Lawrow am 25. Februar an.[542]
Das UNHCR sprach am 27. Februar 2022 davon, dass 368.000 Menschen auf der Flucht seien.[543] Bis zum 28. Februar war die Anzahl der externen Flüchtlinge laut UNHCR auf 500.000 Menschen angewachsen.[544] Am 3. März waren es nach Schätzungen der UNO über eine Million[545] und am 8. März wurde die Marke von zwei Millionen Menschen überschritten.[546] Drei Tage später, am 11. März 2022, waren es mehr als 2,5 Millionen.[547] Hatte das UNHRC noch am 15. März von 1,85 Millionen Binnenvertriebenen berichtet[548], gab es laut UNHCR am 18. März bereits 6,5 Millionen inländische Flüchtlinge in der Ukraine.[549]
UNICEF schätzte im April 2022, dass seit Beginn des Kriegs mehr als 4,5 Millionen Menschen ins Ausland geflohen sind, davon rund 90 Prozent Frauen und Kinder. Weitere rund sieben Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge. Fast zwei Drittel aller 7,5 Millionen Kinder bis 18 Jahren sind geflohen, davon rund zwei Millionen ins Ausland und rund 2,8 Millionen innerhalb der Ukraine.[550] Laut UNHCR-Schätzung vom November 2022 haben seit dem 24. Februar rund 7,9 Millionen Menschen aus der Ukraine im Ausland Schutz gesucht, davon mehr als 1,5 Millionen in Polen, rund 119.000 in Frankreich, rund 173.000 in Italien und rund 154.000 in Spanien. Laut Bundesinnenministerium sind 1.027.789 (13 %) dieser Menschen in Deutschland registriert.[551]
Auch zahlreiche Wehrpflichtige flohen ins Ausland. Laut Eurostat waren 2023 in den 27 EU-Staaten, Norwegen, Schweiz und Liechtenstein insgesamt 650.000 Ukrainer im Alter von 18 bis 64 Jahren als Flüchtlinge registriert.[552] Im April 2024 beschloss das ukrainische Parlament ein Wehrdienstgesetz, das ukrainische Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dazu verpflichtet, ihren Wehrpass bei sich zu führen und binnen zwei Monaten ihre persönlichen Daten in einem elektronischen Einberufungs-System auf den aktuellen Stand zu bringen. Bei Nichtbeachtung von Einberufungen oder Musterungsbescheiden sieht das Wehrdienstgesetz Geldstrafen sowie in der Regel den Entzug der Fahrerlaubnis vor.[553]
Spenden und Privataufnahme
In den Kriegstagen wurden in der Ukraine zehntausende Airbnb-Buchungen aus aller Welt registriert, durch die Geld an Ukrainer gespendet wurde.[554] Zielführende Hilfe ist auch im deutschsprachigen Raum[555][556] und insbesondere zu Gunsten von Frauen möglich.[557]
Die Deutsche Bahn richtete Annahmestellen für Großspenden zum Transport in die Ukraine ein.[558] Spenden aus Deutschland wurden dazu in zentralen Sammelstellen in Container verladen und dann per Schiene in die Ukraine transportiert. Ein erster Zug mit 15 Containern und 350 t Hilfsgütern verließ in der Nacht vom 11. auf den 12. März 2022 den Bahnhof Seddin in Richtung Kiew.[559] Eine ähnliche Aktion organisierte Gepard Express in Tschechien unter der Bezeichnung Železnice promáhá (Eisenbahn hilft): Über ein Netz von Sammelstellen wurden die Hilfsgüter zu Bahn-Verladestellen gebracht und dann ab dem 26. Februar mit Zügen über die Slowakei nach Tschop transportiert. Später verkehrten die Züge zum polnischen Grenzbahnhof Przemyśl und weiter nach Mostyska. Dafür wurde von der ukrainischen Eisenbahn (UZ) und Gepard Express eigens der normalspurige Streckenabschnitt zwischen den Bahnhöfen Mostys’ka 2 und Mostys’ka 1 wieder befahrbar hergestellt (die UZ fährt überwiegend auf russischer Breitspur) sowie eine provisorische Einstiegsstelle und Passkontrolle eingerichtet.[307] Aus der Schweiz wurde ein Zug aus 19 Güterwagen mit Hilfsgütern für die Ukraine zusammengestellt, der am 7. März 2022 in Dietikon nach Sławków in Polen abfuhr, wo er am 9. März ankam. Hier endet die Linia Hutnicza Szerokotorowa (LHS), eine aus der Ukraine kommende Bahnstrecke, die in russischer Breitspur gebaut ist. Hier wurden die Hilfsgüter auf Breitspur-Fahrzeuge umgeladen.[560] Im März 2022 wurde mit der Ukraine Air Rescue eine spendenfinanzierte Luftbrücke geschaffen, an der sich über 100 Piloten beteiligen.[561]
Staatliche Hilfslieferungen
Um über eine „Schienenbrücke“ eine permanente Logistik von Containerzügen mit Hilfsgütern (die von Produzenten und Großhändlern eingesammelt werden) für die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu gewährleisten, verständigten sich die Bahnverkehrsbetriebe mehrerer europäischer Staaten auf eine Zusammenarbeit.[558][527]
Nachrichtenversorgung
Um die Versorgung mit Rundfunkmeldungen sicherzustellen, betreibt die Ukraine mehrere über das Land verteilte, teils nach dem russischen Einmarsch reaktivierte Mittelwellensender.[562][563] Mehrere ukrainische Rundfunkveranstalter haben sich zu einem Gemeinschaftsprogramm zusammengeschlossen, in dem sie jeweils einige Stunden Sendestrecke beitragen; es bietet Nachrichten und Informationen zum Überleben unter Kriegsbedingungen. Neben dem Satelliten- und terrestrischen Rundfunk werden auch Internet-Verbreitungswege, insbesondere Telegram, genutzt. Der Chef des Ukrainischen Rundfunks appellierte an die westlichen Kollegen, das ukrainische Radiosignal auf AM-Frequenzen aus ihren Ländern in die Ukraine zu senden.[564] Die britische BBC sendet ein englischsprachiges Kurzwellenprogramm gezielt in die Ukraine.[563] Der Polnische Rundfunk sendet auf Ukrainisch über Langwelle 225 kHz.[565][566] Auch der österreichische Auslandsrundfunk hat sein Programm ergänzt und sendet dreimal täglich deutschsprachige Nachrichten mit einer speziellen Kurzwellen–Richtantenne aus der Nähe von Wien in die Ukraine.[567][565] Der Anbieter Starlink spendete Satelliten-Internet-Zugangsausrüstung in die Ukraine.[568]
Nachdem der ukrainische Staat am 15. März 2022 damit begonnen hatte, auch über den Instant-Messaging-Dienst Telegram vor russischen Luftangriffen zu warnen, verging bis Ende Januar 2023 kein Tag, an dem nicht auf diesem Wege Luftalarm ausgerufen wurde.[569]
Kulturrevisionismus
Russland wurde vorgeworfen, gezielt ukrainische Kultureinrichtungen zu zerstören.[570][571] In den russisch besetzten Gebieten wurden in den Schulen alle ukrainischen Lehrmittel entfernt und die geschichtsrevisionistischen Materialien Russlands eingeführt, Lehrer wurden „umgeschult“ oder aus der russischen Föderation dorthin zum Unterricht gebracht. In Cherson wurden Kindern, die in die „bewachten“ Schulen gingen, „Belohnungen“ von 10.000 Rubel versprochen. Eltern, die sich weigerten, die Kinder in solche Schulen zu schicken, wurde angedroht, dass das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen würde.[572] Im Herbst 2024 verurteilte der Europarat die Zerstörungen des kulturellen Erbes in der Ukraine durch den russischen Angriffskrieg als Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht.[573]
Ökonomische Auswirkungen
Durch den Überfall stiegen zunächst weltweit die Preise für Lebensmittel[574][575][576] und Energie[577][578]. Die hohen Energiepreise trieben die Lebensmittelpreise noch weiter in die Höhe.[579] Es kam daher zu Wirtschaftskrisen in verschiedenen Ländern weltweit, darunter Deutschland.[580][581][582] Die Wirtschaft der Ukraine wurde besonders hart getroffen, aber auch die Wirtschaft Russlands erleidet derzeit eine schwere Krise,[583] ihre schwerste seit der Russlandkrise 1998.[584][585] Bis August 2022 verlor die russische Wirtschaft das Wachstum der letzten 10 Jahre.[586]
Energie
Das für Europa maßgebliche Referenzöl Brent und das für den US-Markt relevante WTI erreichten eineinhalb Wochen nach Kriegsbeginn Preise wie zuletzt 2008.[587][588]
Der für europäische Erdgaspreise bedeutende Dutch TTF Natural Gas Futures stand nach über 200 Euro pro MWh in der Woche nach dem Überfall mit über 100 Euro/MWh Anfang April 2022 noch deutlich über den Preisen von 80 Euro/MWh zu Jahresbeginn 2022.[589]
In der Bilanz erzielten mehrere Energiekonzerne aufgrund der rasant gestiegenen Energiepreise im Jahr 2022 Spitzengewinne. Die Gewinne der sechs großen Mineralölkonzerne Equinor (23 Mrd. US$), BP (28 Mrd. US$), TotalEnergies (36 Mrd. US$), Chevron (37 Mrd. US$), Shell (40 Mrd. US$), ExxonMobil (59 Mrd. US$) beliefen sich auf zusammen 223 Milliarden US$, mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr 2021. Dies rief in der Öffentlichkeit viel Kritik und die Forderung nach Sondersteuern für exorbitante Unternehmensgewinne hervor.[590]
Laut dem in Finnland ansässigen Centre for Research on Energy and Clean Air überstiegen Russlands Einnahmen aus fossilen Energieexporten in den ersten sechs Monaten des Ukraine-Krieges die Kosten der Invasion deutlich.[591]
Weizen
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine führte aufgrund der Tatsache, dass die beiden Länder der acht- bzw. der drittgrößte Weizenproduzent (Stand 2020[592])[593] waren, zu einem Versorgungsrisiko nicht nur für die Ukraine selbst, sondern – da es um einen riesigen Agrarexporteur geht – auch für Drittstaaten.[594]
Die großen Importregionen der Welt im Mittleren Osten, Nordafrika und Südostasien fürchten bei einem Stillstand des Getreidehandels in der Schwarzmeerregion um ihre Versorgung.[593]
In den Tagen nach dem Angriff stiegen die Weltmarktpreise um über 50 Prozent, Anfang April 2022 bewegten sie sich auf einem um 20 Prozent (USA) bzw. 40 Prozent (Europa) höheren Niveau als vor dem Krieg.[595] Der Getreideexport aus der Ukraine und Russland kam weitgehend zum Erliegen.[596] Dadurch können viele afrikanische Länder nicht ausreichend importieren, was zu einer Verschärfung der globalen Hungerkrise führt.[597]
Angesichts der Blockade ihrer Seehäfen bemühte die Ukraine sich im Sommer 2022 darum, einen Teil ihres Getreides auf anderen Wegen auszuführen, so insbesondere über ihre Donauhäfen – zum Teil donauaufwärts zum weiter südlich gelegenen rumänischen Seehafen Constanța, der über den Donau-Schwarzmeer-Kanal mit der Donau verbunden ist, zum Teil auch donauabwärts zur Mündung des nördlichen Mündungsarms der Donau, der an die Ukraine grenzt, mit der Abkürzung durch den ganz auf ukrainischem Gebiet liegenden Bystre-Kanal zum Schwarzen Meer, das in diesem Gebiet seit der Befreiung der Schlangeninsel Ende Juni wieder unter ukrainischer Kontrolle steht.[598][599] Zudem wurde, vermittelt von der Türkei und den Vereinten Nationen, am 22. Juli 2022 die Initiative für den sicheren Transport von Getreide und Lebensmitteln aus ukrainischen Häfen geschlossen. Die auch als „Getreideabkommen“ bezeichnete Initiative soll den sicheren Export von Getreide und weiteren Lebensmitteln aus den ukrainischen Häfen Odessa, Tschornomorsk und Piwdenne gewährleisten.[600] Das Abkommen wurde am 17. November 2022 um weitere vier Monate verlängert.[601][602]
Bereits wenige Tage nachdem das Getreideabkommen am 17. Juli 2023 ausgelaufen war, wurde die ukrainische Hafenstadt Reni – insbesondere die Hafenanlagen – in der Nacht zum 24. Juli 2023 von 15 russischen Drohnen angegriffen; sechs Menschen wurden verletzt und drei Getreidesilos zerstört.[603] Vor dem weiter flussabwärts liegenden ukrainischen Hafen Ismail stoppten nach dem Angriff auf Reni rund 30 Frachter ihre Fahrt.[604] Am 23. August 2023 wurde bei einem russischen Luftangriff auf Odessa ein Getreidelager getroffen; nach ukrainischen Angaben wurden 13.000 Tonnen Getreide vernichtet.[605]
Unternehmen
Ein in Deutschland ansässiger Großhändler von essentiellen Bauelementen für Waffen, die Smart Impex GmbH, lieferte diese noch während des Krieges über die Türkei an Russland.[606][607]
Auswirkungen auf Umwelt und Klima
Greenpeace und die Umweltorganisation Ecoaction konstatierten bis Februar 2023 fast 900 durch den Krieg verursachte schwere Umweltschäden in der Ukraine.[608]
Mehr als 12.406,6 km² Naturschutzgebiet liegen (Stand 1. März 2022) im Kriegsgebiet. Viele Populationen endemischer Pflanzen- und Tierarten haben erhebliche Verluste erlitten, Wandervogelarten wurden ihrer gewohnten Routen und Nistplätze beraubt und die Erfolge langjähriger Renaturierungsprojekte wurden zerstört. Im Schwarzen Meer sterben durch den Lärm der Explosionen auf See sowie die Sonartechnik von Kriegsschiffen tausende Delfine, da die Schallwellen ihren Orientierungssinn zerstören. Die Menge der an die Küsten angeschwemmten toten Delfine hat sich im Vergleich zu den Vorjahren verhundertfacht, von etwa ein Dutzend auf weit über Tausend. Die meisten getöteten Delfine gehen aber im Meer unter; Ökologen schätzten Ende 2022 die Zahl der insgesamt verendeten Individuen der drei vorkommenden Arten Gemeiner Delfin, Großer Tümmler und Gewöhnlicher Schweinswal auf 50.000.[609] Das wäre die Hälfte aller Delfine im Schwarzen Meer.[610] Die Kriegshandlungen lösen auch Waldbrände aus und erschweren deren Bekämpfung. Beispielsweise brannten auf der Kinburn-Halbinsel während der russischen Besatzung im Juni 2022 300 Hektar Wald eines Schutzgebietes.[610] Neben dem Schaden für die natürliche Umwelt und ihre Biodiversität trägt der Überfall auch zur derzeitigen globalen Erwärmung bei. Die kriegsbedingten Emissionen von CO₂ betragen mehrere hundert Millionen Tonnen und gefährden so die Ziele des Klimaabkommens von Paris 2015.[611][612] Mehrere der wichtigsten planetaren Grenzen werden durch den russischen Überfall also weiter überschritten. Der Krieg erhöht auch das Risiko von Nuklearkatastrophen. Kämpfe in der Nähe von Atomkraftwerken und Atommülllagern können zu Katastrophen führen, die mit denen in Tschernobyl oder Fukushima vergleichbar sind.
Kampfbedingte Explosionen und Schüsse verursachen neben direktem physischem Schaden auch indirekten toxischen Schaden für den Menschen, da giftige Substanzen und Karzinogene wie Quecksilber, Blei oder abgereichertes Uran freigesetzt werden. Einmal im menschlichen Körper, führen Sprengstoffe wie TNT, DNT oder RDX so auch ohne Explosion zu ernsthaften Störungen aller Organe. Im Kampfgebiet gibt es eine hohe Dichte an Unternehmen der Schwerindustrie. Dies führt regelmäßig zu chemischen Unfällen durch Lecks. Giftmüll und Treibstoff können so weit austreiben und haben daher negative Auswirkungen auch auf weiter entfernt liegende Gebiete in Europa und Russland. Zerstörte Gebäude geben jahrzehntelang krebserregenden Staub ab. Schwermetalle und Chemikalien sickern ins Grundwasser und vergiften Trinkwasserquellen, wodurch Flüsse und Stauseen unbrauchbar werden. Aufgrund der Zerstörung der zivilen Infrastruktur wurde schon mehr als vier Millionen Menschen in der Ukraine der Zugang zu sauberem Trinkwasser verwehrt.[613] Böden in Kriegsgebieten werden für die Landwirtschaft ungeeignet, da sich Schadstoffe in Pflanzen anreichern und über diese in menschliche und tierische Organismen gelangen.[614]
Um den gesamten verursachten Schaden zu bewerten, ist eine vollständige Einstellung der Feindseligkeiten erforderlich. Ein Teil der angerichteten Schäden kann nur durch jahrelange Arbeit wiedergutgemacht werden, ein Teil ist irreversibel.
Propaganda und Desinformation
Russland
Bereits im März 2014 beschrieb Andreas Umland die minutenlangen Hass-Salven der russischen Propaganda;[616] das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (UNHCR) schrieb im April, die Propaganda im Fernsehen Russlands hätte auch völkerrechtlich verbotene Hasspropaganda umfasst:
“Media monitors indicated a significant raise of propaganda on the television of the Russian Federation, which was building up in parallel to developments in and around Crimea. Cases of hate propaganda were also reported.”
„Medienmonitore ließen einen bedeutenden Anstieg von Propaganda im Fernsehen der Russischen Föderation erkennen, was sich parallel zu Entwicklungen in der und um die Krim aufbaute. Auch über Fälle von Hasspropaganda wurde berichtet.“[617]
Im Juni 2014 wurde vom UNHCR nochmals und explizit auf das auch von Russland unterschriebene völkerrechtliche Verbot von Hass- und Kriegspropaganda hingewiesen.[618][619]
Die teils inszenierte[616] und Jahre anhaltende, vor dem Überfall der Ukraine nochmals intensivierte Kriegspropaganda diente auch zur Schürung von Hass innerhalb Russlands gegenüber oppositionell gesinnten Russen.[620] Stefan Meister sah darin auch eine „Rechtfertigungsgrundlage für militärische Gräueltaten“ auch gegen die Bevölkerung.[621] Desinformation wird von Russland auch eingesetzt, um Belege russischer Kriegsverbrechen zu untergraben.[622] In der Datenbank der EU über Fälle von Desinformation, die seit Januar 2015 gesammelt werden, beziehen sich rund 40 Prozent der Fälle auf die Ukraine (Stand 2023).[623]
Russland bezeichnete den Überfall vom Februar 2022 auf die Ukraine als „militärische Spezialoperation“, auch abgekürzt SWO (spezialnaja wojennaja operazija, wörtlich: spezielle Militäroperation).[624] Den russischen Medien wurde die Verwendung des Wortes „Krieg“ und ähnlicher Bezeichnungen schon vor dem umfassenden Zensurgesetz vom 4. März durch die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten. Die einzige verbliebene kritische Zeitschrift Russlands, die Nowaja gaseta (Ende März 2022 eingestellt),[625] untersuchte folglich den Begriff „militärische Spezialoperation“ und kam zum Schluss, dass der Begriff eine Aktion definiere, die nicht länger als zwei Wochen dauere.[626] Am 10. März beteuerte Lawrow in der russischen Propaganda, es habe keinen Angriff auf die Ukraine gegeben.[627] Im März 2024 verwendete Kreml-Sprecher Dmitri Peskow zum ersten Mal die Bezeichnung „Krieg“, als er in einem Interview mit Argumenty i Fakty erklärte, die Spezialoperation habe sich zu einem Krieg entwickelt.[628]
Russland versuchte das propagandistische Narrativ der Denazifizierung der Ukraine auch durch eine seiner Auslandsvertretungen im Internet zu verbreiten.[629] Für die Narrative der Propaganda wurde der Begriff des Raschismus verwendet, um die faschistischen Methoden des angeblichen russischen Antifaschismus zu erklären.[630] An russische Schulen wurden Unterrichtsmaterialien geliefert, die ab dem 1. März 2022 für spezielle „Sozialkunde-Lektionen“ zum Thema Krieg eingesetzt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt in den vorgegebenen Lehrertexten auch auf der Betonung der Verwerflichkeit von Antikriegs-Aktionen. Die Lehrer sollen den höheren Klassen die Argumente Putins vermitteln; es werden auch Antwortvorschläge für Schülerfragen gemacht: So soll die Frage, ob der Krieg nicht hätte vermieden werden können, dahingehend beantwortet werden, dass es kein Krieg sei, sondern eine Friedensmission zur Abschreckung von Unterdrückern.[631][632] Im Bildungssystem in Russland herrschen nach einer relativ liberalen Phase zu Beginn der nachsowjetischen Ära schon seit Mitte der 2010er-Jahre wieder politische Kontrolle und Einschüchterung. Für die auf Listen geführten nicht linientreuen Schul- oder Studienabgänger sind zumindest Anstellungen beim Staat kaum möglich.
Das russische Verteidigungsministerium behauptete Anfang März 2022 erstmals, die Ukraine betreibe, durch die USA finanziert, ein Netz von 30 Laboren, die „sehr gefährliche biologische Experimente“ mit dem Ziel durchführen würden, „virale Krankheitserreger“ von Fledermäusen auf den Menschen zu übertragen. Dabei gehe es unter anderem um Pest, Cholera und Milzbrand. Der russische Präsident Wladimir Putin übernahm das Narrativ und sprach von einem „Netzwerk westlicher Biowaffenlabore“. Der russische Staatsapparat trug die Biowaffen-Behauptungen schließlich im UNO-Sicherheitsrat vor und ließ sie über seinen Auslandssender RT verbreiten. Die Anschuldigungen wurden von westlichen Ländern als Desinformation und mögliche Vorbereitung einer Falsche-Flagge-Operation scharf verurteilt. Auch das Büro der Vereinten Nationen für Abrüstungsfragen berichtete, dass keine Hinweise auf Biowaffenprogramme in der Ukraine vorlägen.[633][634][635] Laut Foreign Policy handelte es sich bei diesem Vorwurf um eine Verschwörungstheorie, die wenige Stunden nach Beginn der Invasion von einem Twitter-Konto aus dem QAnon-Umfeld aus verbreitet wurde und von russischen und chinesischen Staatsmedien übernommen wurde.[636] China greife das Thema gerne als Ablenkung auf, um nicht über den Krieg selbst sprechen zu müssen.[637] Gesichert ist, dass die Weltgesundheitsorganisation der Ukraine empfahl, hochpathogene Krankheitserreger in ihren Laboren zu vernichten, um mögliche Ausbreitungen nach Angriffen zu verhindern,[638] und die USA eigener Aussage zufolge daran arbeiteten, zu verhindern, „dass diese Forschungsmaterialien in die Hände der russischen Streitkräfte fallen“.[639] Dennoch wurde in Russland faktenfrei berichtet, dass es sich um ethnische Waffen handle, die nur Russen töten würden. Meduza kommentierte, dass das russische Militär offensichtlich in Biologie in der Schule einen Fensterplatz gehabt habe, aber auch „leidenschaftlich an rassistischen Theorien interessiert“ sei.[640] Nachdem ein russischer General Dokumente präsentiert hatte, die eine vermeintliche Verwicklung des Friedrich-Loeffler-Instituts in ein angeblich geheimes Biowaffenprogramm belegen sollten, stellte jenes Institut für Tiergesundheit klar, dass es Grundlagenforschung an Zecken und Flöhen betrieb, die aus Fledermäusen in der Ukraine stammten. Dies sei weder geheim und gefährlich noch Teil eines Biowaffenprogramms.[635]
Der Buchstabe „Z“ des lateinischen Alphabets (dessen Entsprechung im kyrillischen Alphabet anders aussieht) ist eines von mehreren Zeichen auf Militärfahrzeugen der Streitkräfte Russlands, die an dem russischen Überfall auf die Ukraine beteiligt sind. Das ursprünglich militärische Zeichen wird als Symbol der Unterstützung und zur Staatspropaganda für den Angriffskrieg auf das Nachbarland verwendet. Das Zeichen ist in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens Russlands „allgegenwärtig geworden“.[641][642][643]
Die staatliche Propaganda Russlands verwendete Ausschnitte aus einem Spielfilm als angeblichen Beweis dafür, dass das Massaker von Butscha eine „Inszenierung“ gewesen sei.[644] Der russische Außenminister behauptete, dass die in den Straßen von Butscha liegenden Leichen eine Inszenierung der Ukraine gewesen seien.[645]
Von Februar bis September habe das russische Verteidigungsministerium mit voller Unterstützung staatstreuer Journalisten und den Freiwilligen der Informationskriegsführung verbreitet, dass Russland nur militärische Ziele treffen würde und keinesfalls die zivile Infrastruktur. Danach, so Meduza, berichtete es „unter dem Jubel der gleichen Akteure“ über zerstörte Kraftwerke.[646]
Im Verlauf des Jahres 2022 erhielt Meduza mehrfach Zugang zu „Handbüchern“ der Präsidialverwaltung, also „Empfehlungen“ an die Medien zur Berichterstattung. Laut Meduza soll es regelmäßig, „fast täglich“, solche Empfehlungen gegeben haben.[647][648] Im August berichtete der Bayerische Rundfunk über ein Handbuch, nach welchem Russland gegen „Gottlose“ kämpfe.[649] Zum Jahresende gab es laut Meduza ein Handbuch für Jahresrückblicke; laut diesem sollte als einer der Hauptpunkte nochmals heraus gestrichen werden, dass Putin, als er Truppen in die Ukraine entsandte, die „einzig richtige Entscheidung“ getroffen habe, „den bevorstehenden Angriff der Ukraine und der NATO auf russisches Territorium zu verhindern“ («Путин, отправив войска в Украину, ‹принял единственно верное решение, предотвратив готовящееся нападение Украины и НАТО на территорию России›»).[650]
Am 5. September 2023 begründete Putin den Krieg gegen die Ukraine mit der antisemitischen Behauptung, der „ethnische Jude“ Selenskyj sei installiert worden, um von „Nazismus“ in der Ukraine abzulenken.[651]
Die russische Kommunikationspolitik im Zusammenhang mit dem Angriff mit zwei Toten und 30 Verletzten[652] auf das Kinderkrankenhaus Ochmatdyt am 8. Juli 2024 ist nach einer Analyse der Tagesschau ein typisches Beispiel einer Desinformationsstrategie, bei der vorsätzlich falsche Fakten verbreitet werden, um Verunsicherung über den wahren Ablauf zu erzeugen oder die Öffentlichkeit von der selbstgeschaffenen russischen Realität zu überzeugen. Obwohl auf Aufnahmen von dem Einschlag des Flugkörpers eindeutig ein Ch-101-Tarnkappen-Marschflugkörper zu sehen ist,[653] wird etwa behauptet, dass es sich um eine ukrainische radargelenkte Luft-Luft-Lenkwaffe des US-amerikanischen Typs AIM-120 AMRAAM gehandelt habe. Ziel ist die maximale Dämonisierung der Ukraine, des Westens und der westlichen Medien in Verbindung mit einer möglichst großen Relativierung oder gar Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges.[654]
Russische Schauprozesse
Die Briten Sean Pinner und Aiden Aslin sowie der Marokkaner Saadoun Brahim wurden im Juni in Donezk in einem Schauprozess wegen angeblichen „Söldnertums“ zum Tode verurteilt. Alle drei hatten jedoch schon seit Jahren in der Ukraine gelebt und bereits vor dem russischen Überfall in den ukrainischen Streitkräften gedient. Nach ukrainischer Darstellung ist eine Vollstreckung der Todesurteile daher ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen.[655][656] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR wies Russland an, die Vollstreckung zu verhindern.[657]
Ukraine
Nach Ivo Mijnssen von der NZZ würden beide Seiten bei der Nutzung sozialer Netzwerke Propaganda betreiben. Auffällig sei jedoch, dass sich die ukrainischen Medien hierbei im Gegensatz zu den russischen an ein deutlich breiteres, ausländisches Publikum richten würden.[658]
Im April 2022 stellte die ukrainische Post eine neue Briefmarke vor. Darauf zu sehen ist ein ukrainischer Soldat, der auf gelbem Untergrund stehend auf das in der perspektivischen Abbildung darüber liegende blaue Meer blickt und dem dort befindlichen russischen Kriegsschiff Moskwa den „Stinkefinger“ zeigt.[659] Die Briefmarke zeigt damit einen Vorfall auf der Schlangeninsel, der sich zu Beginn des russischen Überfalls zugetragen hat.[660] Bereits in den Tagen nach dem Vorfall wurde dieser national und international, unter anderem in Form von Memes, auf Demonstrationsschildern, auf Werbeplakaten oder als Drohnenshow rezipiert. Die ukrainische Post gab im Kriegsverlauf weitere Briefmarken heraus, die die Verteidigung der Ukraine durch die Bevölkerung zum Thema haben und auf Schlüsselmomente des Krieges verweisen.[661][662] So stellte die ukrainische Post im Juni 2022 eine Briefmarke vor,[663] die daran erinnert, dass russische Panzerfahrzeuge – die in den ersten Kriegsmonaten aufgrund der Schlammzeit auf Feldwegen stecken blieben und weil manövrierunfähig von russischen Soldaten stehen gelassen wurden – von ukrainischen Bauern abgeschleppt bzw. erbeutet wurden.[664][665][666][667]
In der Ukraine werden die russischen Truppen bzw. Soldaten unter anderem als Orks sowie als (übersetzt) Raschisten (aus den Wörtern Russland und Faschist gebildeter Neologismus) bezeichnet.[668]
Sowohl Russland als auch die Ukraine stellten im Krieg erbeutete Militärfahrzeuge des Feindes in ihren Hauptstädten aus.[669]
Social-Media-Kampagnen
Die Europäische Kommission und die kanadische Regierung riefen am 26. März gemeinsam mit der NGO Global Citizen die breit angelegte Social-Media-Kampagne „Stand Up for Ukraine“ ins Leben. Die Kampagne geht auf den Hilfeaufruf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vom selben Tag zurück. Viele internationale Topstars aus den Bereichen Kultur, Unterhaltung oder Sport nahmen am 8. April, dem Vortag der internationalen Geberkonferenz für die Ukraine-Flüchtlinge in Warschau, an der globalen Social-Media-Kampagne teil.[670]
Im Internet bzw. auf sozialen Netzwerken werden mitunter NAFO–Memes als Ausdruck der Solidarität mit der Ukraine erstellt.
Information
Die Informationen zur Kriegslage können nicht immer unabhängig überprüft werden. Die meisten Informationen kommen aus dem Hauptquartier der ukrainischen Streitkräfte und gelten in der Regel als glaubwürdiger als jene, die das russische Militär herausgibt. Die amerikanische und die britische Regierung geben ebenfalls Informationen zur militärischen Lage heraus. Eine Reihe von Institutionen bereiten offen verfügbare Informationen vor allem aus den sozialen Medien auf. Zu nennen sind v. a. Bellingcat, Oryx, JominiWest (JominiW) sowie die sicherheitspolitischen Thinktanks Royal United Services Institute, International Institute for Strategic Studies, Atlantic Council und Institute for the Study of War (ISW). Beispielsweise bietet Oryx seit Kriegsbeginn eine ständig aktualisierte Verlustliste von schweren Ausrüstungsgegenständen der Kriegsparteien. Open Source Intelligence (OSINT) ist in diesem Krieg zu einer wichtigen Informationsquelle für die Lageanalyse geworden.[671]
Russische Internetnutzer bereiten sich auf eine eventuelle Sperrung der russischsprachigen Wikipedia vor, indem sie Offline-Kopien der Online-Enzyklopädie herunterladen. Die Download-Zahlen schnellten in die Höhe, nachdem eine behördliche Anordnung Anfang März von Wikipedia verlangt hatte, den Artikel „Invasion/Einmarsch Russlands in die Ukraine (2022)“ (Вторжение России на Украину (2022)) entsprechend den amtlichen Vorgaben zu ändern, und mit einer Sperrung drohte (s. o.).[672]
Eine interaktive Online-Karte der britischen Nichtregierungsorganisation Centre for Information Resilience (CIR oder Cen4infoRes) erfasst mit Hilfe investigativer Journalisten und der Netz-Community signifikante Vorfälle wie zivile Opfer, Bombardierungen, Truppenbewegungen, militärische Verluste sowie die Schäden an der Infrastruktur und an zivilen Einrichtungen.[673]
Die Internet-Kommunikation in der Ukraine durch Soldaten, Zivilisten und Influencer hilft nicht nur bei der Kampfmoral, sie ist auch die Basis für die Anwendung von Open Source Intelligence, durch die alle verfügbaren Informationen ausgewertet werden, um an kriegswichtige Erkenntnisse zu gelangen. Das ukrainische Digitalministerium richtete zudem einen Telegram-Chatbot namens eVororog oder eBopor ein (in etwa: e-Feind), mit dem Nutzer helfen können, die Bewegungen der russischen Truppen zu erfassen.[674] Umgekehrt ist es durch ein neues Gesetz untersagt, Informationen zu veröffentlichen, die die Standorte der ukrainischen Armee offenlegen könnten – nachdem möglicherweise ein Blogger auf TikTok einen russischen Angriff auf ein Shopping-Center mit acht getöteten Zivilisten, Tage nach der Anwesenheit von Militärfahrzeugen, ausgelöst hatte.[675]
Das ukrainische Militär stellte die Website russoldat.info auf, auf der es Bilder und Videos von gefallenen und gefangen genommenen russischen Soldaten und zerstörtem russischem Kriegsgerät veröffentlicht. Dort sind auch Hotlines angegeben, über die Verwandte und Angehörige von russischen Soldaten Auskunft erhalten, sofern den ukrainischen Streitkräften Informationen zu gesuchten Personen vorliegen. Auf der Website veröffentlicht das ukrainische Militär außerdem aktuelle Zahlen zu angeblichen Personen- und Materialverlusten der russischen Streitkräfte.[676]
Als Reaktion auf die Mobilmachung in Russland im September 2022 richtete die ukrainische Regierung eine 24-stündige Hotline namens (übersetzt) Ich will leben für zum Kriegsdienst herangezogene russische Soldaten, die sich in der Ukraine ergeben wollen, ein.[677][678]
Über den Telegram-Kanal Batman DNR werden unter anonymer Administration Informationen zu Missständen (darunter Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Zivilisten) in den proklamierten Volksrepubliken Donezk (DNR) und Lugansk (LNR) geteilt.[535]
Wolodymyr Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak postete am 3. April unzensierte Bilder aus Butscha auf Twitter, die in ihrer Eindringlichkeit darüber hinausgingen, was in anderen Medien wie z. B. in der englischsprachigen Internetzeitung The Kyiv Independent gezeigt wurde.[679]
Das US-amerikanische Unternehmen Cloudflare berichtete Anfang April, dass Nachrichtenseiten außerhalb Russlands mit dem Beginn des Ukrainekriegs zunächst ein „exponentielles Wachstum“ verzeichneten: „Dieser Anstieg wurde jedoch innerhalb weniger Tage durch Maßnahmen zur Blockierung des Datenverkehrs zu diesen Websites ausgeglichen.“ Mit Einführung dieser Maßnahmen wechselten jedoch viele russische Bürger auf andere Wege. Die in Russland im März am meisten heruntergeladene App sei jene für einen DNS-Dienst von Cloudflare gewesen, mit der sich eine VPN-Verbindung zu dem Cloudflare-Netzwerk aufbauen lässt, das nicht von Russland gefiltert wird.[680] Die Nutzung bestimmter VPN-Dienste ist in Russland seit dem November 2017 verboten, und bereits 2019 bis 2021 waren 15 VPN-Anbieter, die ihre Daten der russischen Regierung nicht zur Verfügung gestellt hatten, mit einem Verbot belegt worden.[681]
Desinformation
Das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) meldete am 2. März, dass die Kommentarseiten der SRF-Medien seit Anerkennung der selbsternannten Republiken eine starke Zunahme von Troll-Kommentaren aufwiesen; täglich würden von tausenden gesichteten Kommentaren solche gelöscht, richtiggestellt oder eingeordnet. In Deutschland sei das Problem noch viel größer.[682]
Mehrere Influencer in Russland machten über die App TikTok wortgleiche Statements, in denen sie den russischen Angriff auf die Ukraine als Befreiungsaktion bezeichneten und rechtfertigten. Eine Recherche ergab, dass dies eine orchestrierte Propaganda war, die über einen Telegram-Kanal organisiert wurde.[683]
Russischen Hackern gelang es am 16. März, die Website des ukrainischen Nachrichtensenders Ukraine 24 zu hacken und ein Deepfake anstatt der Startseite zu platzieren: Ein gefälschter Selenskyj rief zum Niederlegen der Waffen auf. Später wurde dieses Video wie auch ein Deepfake mit einer Siegesansprache Putins über soziale Medien verbreitet. Der Facebook-Konzern Meta Platforms hat das gefälschte Selenskyj-Video bereits am selben Tag identifiziert und entfernt.[684]
Der ukrainische Inlandsgeheimdienst Sluschba bespeky Ukrajiny hob Ende März mehrere Bot–Farmen aus. In Charkiw, Tscherkassy, Ternopil und der Region Oblast Transkarpatien entdeckte der SBU Bot-Farmen, die mit über 100.000 gefälschten Benutzerkonten in sozialen Medien russische Propaganda verbreiteten. Gezielte Falschinformationen sollten Teile der Ukraine in Panik versetzen und destabilisieren, um den Einmarsch russischer Truppen zu erleichtern. Es wurden über 10.000 SIM-Karten, diverse Laptops, Mobiltelefone und USB-Speicher sichergestellt. Die Daten auf den Laptops und Telefonen würden eine Beteiligung russischer Sicherheitsdienste beweisen.[685]
Auf Twitter sind russische Regierungskonten massiv an der Verbreitung prorussischer Desinformation beteiligt, unter anderem das russische Außenministerium und die russische Botschaft in den USA. Drei Viertel der Beiträge beschäftigten sich mit dem Ukraine-Krieg – und verbreiten Fake News, mit denen der Angriffskrieg gerechtfertigt werden soll. Unter anderem wird die Behauptung aufgestellt, dass die Ukraine kein souveräner Staat sei und die Regierung von Neonazis unterwandert worden sei. Die Postings werden aufgrund einer Twitter-Sonderregelung für Regierungskonten nicht gelöscht, die schon Donald Trump erlaubte, während seiner Amtszeit als US-Präsident über das offizielle Benutzerkonto zu twittern, während Beiträge auf seinem privaten Konto häufig als Desinformation markiert wurden.[686]
Laut dem Unternehmen NewsGuard, das Nachrichtenportale nach Desinformation und Vertrauenswürdigkeit bewertet, liefert das Videoportal TikTok den Benutzern „falsche und irreführende Inhalte über den Krieg in der Ukraine, unabhängig davon, ob sie eine Suche auf der Plattform durchführen“. Unter diesen Behauptungen seien „sowohl pro-russische als auch pro-ukrainische Unwahrheiten“.[687]
Am 9. April 2022 blockierte YouTube den Kanal der russischen Duma wegen eines Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen. Der Kanal hatte wiedergegeben, wie der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin und die Sprecherin des Außenministeriums Marija Sacharowa Vergeltungsmaßnahmen ankündigten. Der YouTube-Kanal hat nach eigenen Angaben mehr als 145.000 Abonnenten und sendet Ausschnitte aus Parlamentsdebatten und Interviews mit russischen Abgeordneten.[688]
Nach Angaben der East StratCom Task Force der EU ergab die Analyse des Inhalts von Zehntausenden von Überarbeitungen ausgesuchter Wikipedia-Artikel, dass russische Desinformationskanäle in zahlreichen Artikeln als Bezugspunkte verwendet wurden und werden. Die meisten solcher Artikel erscheinen in folgenden fünf Sprachversionen von Wikipedia: Russisch (136 Artikel), Arabisch (70), Spanisch (52), Portugiesisch (45) und Vietnamesisch (32).[689]
Am 25. April 2022 warf Russlands Präsident Putin dem Westen vor, sein Land „von innen heraus“ zerstören zu wollen, und behauptete, der russische Inlandsgeheimdienst FSB habe einen Mordversuch „einer terroristischen Gruppe“ auf den Fernsehjournalisten Wladimir Solowjow vereitelt.[690] Ein wenige Tage später durch RIA Novosti veröffentlichtes Video einer angeblichen Razzia bei der angeblichen neonazistischen Terrorgruppe lässt aufgrund von Ungereimtheiten vermuten, dass alles eine Inszenierung war.[691]
Einer Recherche von t-Online zufolge wurden im Sommer 2022 Websites aufgestellt, die sich als Nachrichtenseiten deutscher, englischer, französischer und italienischer Medien (darunter FAZ, Tagesspiegel, Neues Deutschland, Bild, t-online, Spiegel, Daily Mail, Ansa und 20 Minutes) ausgeben und dabei Falschinformationen verbreiten. Die Websites wurden von abertausenden Kommentaren unter anderem verbreitet auf Websites etablierter Medien (unter anderem betroffen: Tagesspiegel.de, taz.de, BR24.de), auf Parteiwebsites (u. a. betroffen: AfD Berlin), Unternehmens- und Markenwebsites (u. a. betroffen: Mercedes, Vodafone, Nordsee, Weight Watchers, Playboy), auf Webauftritten von staatlichen Organen (u. a. betroffen: Bundesregierung.de, us-embassy.gov) und Einrichtungen wie Krankenhäusern (u. a. betroffen: Charité), auf Websites von Vereinen (u. a. betroffen: Bund der Steuerzahler) und in sozialen Netzwerken (u. a. betroffen: Facebook und Twitter). Zum Inhalt haben die Fake-Nachrichtenseiten Meldungen zu Themen mit direktem oder indirektem Bezug zum Russisch-Ukrainischen Krieg (u. a. zu Sanktionen gegen Russland, zur Inflation infolge des Krieges, zu steigenden Energiepreisen). Die durch die Kommentare verlinkten Fake-Nachrichten sind auf Meinungsmache gegen die deutsche Bundesregierung, gegen die Ukraine und Ukrainer sowie gegen die Russland-Sanktionen ausgerichtet. Teilweise sind die Kommentare durch Werbung finanziert und vermitteln dadurch umso mehr den Eindruck, offizielle Nachrichtenmeldungen zu sein. Laut dem Institute for Strategic Dialogue (ISD) ist die Desinformationskampagne allein in Deutschland von einem beispiellosen Ausmaß. So wurde eine der tausenden Fake-Anzeigen zwischen 500.000- und 600.000-mal gesehen. T-Online zufolge ist offensichtlich, dass die Desinformationskampagne von einer Troll-Armee aus Russland stammt.[692]
Ab dem 23. Oktober 2022 begannen die russische Regierung und russische Diplomaten das Narrativ zu verbreiten, dass die ukrainische Regierung mit dem Bau einer „schmutzigen Bombe“ begonnen habe und dass die ukrainische Regierung diese auf eigenem Gebiet unter falscher Flagge einsetzen wolle und die Freisetzung von Radioaktivität Russland anzulasten. Die ukrainische Regierung verwies darauf, dass die Ukraine dem Atomwaffensperrvertrag angehöre und dass Russen „oft andere für etwas [beschuldigen], das sie selbst planen“. Eine gemeinsame Erklärung Frankreichs, Großbritanniens und der USA lautete, Russland wolle einen Vorwand für eine weitere Eskalation schaffen.[693][694] Wenige Tage später forderte der russische Präsident Wladimir Putin eine Mission der Internationalen Atomenergie-Organisation in der Ukraine, wegen der angeblichen – von ihm behaupteten – Vorbereitung einer schmutzigen Bombe durch die Ukraine.[695]
Lange wurde von Russland das Narrativ verbreitet, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe sich 2014 beim Euromaidan an die Macht geputscht, obwohl er damals noch kein Politiker war und erst 2019 Präsident wurde. Dahinter steht die russische Sichtweise, alle ukrainischen Regierungen seit dem Euromaidan seien illegal. Seit Mai 2024 wird auf prorussischen YouTube- und TikTok-Benutzerkonten die Behauptung gestreut, Selenskyj sei unrechtmäßig im Amt, da seine reguläre Amtszeit am 20. Mai ausgelaufen sei. In der Tat hätten – ohne den Angriff Russlands – Ende März 2024 in der Ukraine Wahlen stattgefunden. Allerdings hat das ukrainische Parlament nach der Invasion das Kriegsrecht beschlossen. Laut dem Ostrecht-Experten Otto Luchterhandt ist das Parlament „voll in der politischen und verfassungsrechtlichen Verantwortung und Befugnis“, weil es über Verhängung, Verlängerung sowie Dauer des Kriegszustands entscheide. Das ukrainische Kriegsrecht in der heutigen Form gilt bereits seit 2015, nach der russischen Annexion der Krim. Daher dauert Selenskyjs Amtszeit legal an. Demokratische Wahlen, die laut ukrainischer Verfassung und internationalen Standards gleich, frei, allgemein und geheim sein müssen und für die ein friedlicher Ablauf gesichert sein muss, können während eines Kriegszustands diese Standards nicht erfüllen und für die Dauer eines Kriegs nicht stattfinden, so lautet ebenso eine auch von der Opposition getragene Vereinbarung im ukrainischen Parlament. Die Behauptung prorussischer Kräfte, Selenskyj würde bewusst Wahlen verhindern, da er sonst abgewählt würde, findet keine Entsprechung in Umfrageergebnissen: Laut einer repräsentativen Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) von Anfang Juni 2024 stimmten 70 Prozent der Befragten zu, dass Selenskyi bis zur Beendigung des Kriegsrechts Präsident sein solle, 22 Prozent stimmten nicht zu.[696]
Unterdrückung der Informations-, Meinungs- und Medienfreiheit
Russland
Vor und nach Kriegsbeginn erlassene russische Gesetze verbieten sowohl Kritik als auch die Verbreitung von Informationen, die nicht der offiziellen Darstellung des russischen Staates entsprechen.[697][698] Angewendet wird dabei sowohl ein im Jahr 2019 verabschiedetes Gesetz zur Unterbindung angeblicher Desinformation als auch ein Anfang März 2022 beschlossenes Gesetz, das bei Verstößen bis zu 15 Jahre Haft vorsieht.[699][700]
Die Website der Studentenzeitschrift DOXA wurde am 28. Februar gesperrt, nachdem auf ihr ein „Handbuch für Antikriegsstreitigkeiten in der Familie und am Arbeitsplatz“ erschienen war mit Argumenten gegen 17 Hauptthesen, die die Intervention in der Ukraine rechtfertigen sollen. Auch die Website Taygi.info wurde gesperrt,[632][701] wie auch die Seiten Present Time, New Times, Krym.Realii und die russischsprachige Version von Interfax-Ukraine nebst weiteren ukrainischen Publikationen wie der Ukrajinska Prawda. Zuvor hatte die Medienaufsicht verlangt, dass Nowaja gaseta, Doschd, Mediazona und andere Medien Berichte entfernen, in denen die „militärische Spezialoperation“ als Krieg bezeichnet worden war.[698] Dabei handelte es sich um die Einführung einer Kriegszensur ohne Erklärung eines Kriegszustandes oder die Verhängung eines Ausnahmezustandes, so die Senatorin Ljudmila Narussowa.[702]
Am 1. März 2022 wurde der liberale Radiosender Echo Moskwy vom Netz genommen. Die Generalstaatsanwaltschaft wies die Medienaufsicht an, den Zugang von Doschd zu blockieren.[703][704] Die gesamte Auflage der Lokalzeitung Глобус (Globus), die in Serow mit einem Antikriegscover erscheinen sollte, wurde von der Polizei beschlagnahmt. Die Amtshandlung sollte angefochten werden, um ihre Verfassungswidrigkeit festzustellen.[705]
Am 4. März schränkte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die Informations- und Pressefreiheit in Russland weiter ein. Sie beschränkte den Zugriff auf Websites westlicher Medien (darunter die Deutsche Welle und Radio Swoboda) und russischer Medien, wie Meduza, die ins Exil gezwungen worden waren.[706] Aus Vorsichtsgründen stellten CNN, BBC und CBC ihren Betrieb in Russland temporär ein.[707] ARD und ZDF setzten vom 5. bis 11. März ihre Berichterstattung aus Russland aufgrund des Gesetzes vorläufig aus.[708][709] Die New York Times zog am 8. März eigene Mitarbeiter aus Russland ab.[710] Russland blockierte seinerseits im März 2022 Facebook, Instagram und Twitter für russische Internetnutzer. Anders als mitunter in westlichen Medien berichtet wurde,[711][712] wurde YouTube als eines der wenigen westlichen sozialen Netzwerke dagegen (mit Stand Februar 2024) nicht gesperrt.[713] Die Benutzung des Tor-Browsers, mit dem Sperrungen von Websites umgangen werden können, wurde durch die russischen Behörden erschwert, indem sie den einfachen Zugriff auf das Tor-Netzwerk blockierten.[714] Twitter gab hingegen am 8. März wegen der Zensurmaßnahmen seinen Dienst im Tor-Netzwerk frei.[715] Am 12. März wurde auch Instagram in Russland blockiert. Instagram war in Russland auch ein beliebter Marktplatz und hatte fünfmal so viele Benutzer wie Facebook.[716] Zuvor hatte das Unternehmen Meta Platforms bekanntgegeben, Hassrede bzw. Aufrufe zur Gewalt gegen russische Soldaten auf Instagram und Facebook für Nutzer in der Ukraine, Russland, Polen, Lettland, Litauen, Estland und Ungarn zu erlauben.[717] Am 21. März kam es zum Verbot von Facebook und Instagram durch die russische Justiz.[718]
Die Nowaja gaseta, bis zur Einstellung am 28. März eines der letzten verbliebenen freien Medien, kündigte an, Informationen zu Russlands Militäraktionen in der Ukraine von ihrer Website zu entfernen, jedoch über die Folgen der jüngsten Entwicklungen für Russland, wie die sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Verfolgung von Dissidenten, zu berichten.[712][711] Eine journalistische Berichterstattung zu jeglichen Aspekten der Streitkräfte sei laut Nowaja gaseta unter dem Gesetz vom 4. März nicht möglich, da jegliche Äußerung, wie ein Aufruf zum Frieden, indirekt als Verstoß gegen das Verbot, den Konflikt als Krieg zu bezeichnen, sowie als Wehrkraftzersetzung ausgelegt werden könnte.[719]
Am 16. März sperrte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor 30 Websites von mindestens 13 russischen und ausländischen Medien (darunter Nowyje Iswestija, Permdaily, BBC, bellingcat).[720][721]
Zwei Tage später wurde bekannt, dass TikTok ausländische Inhalte für russische Benutzer sperrte. Dadurch seien 95 Prozent der Inhalte für russische Benutzer verschwunden. Tiktok in Russland wurde dadurch zu einem Ort durch kremltreue Influencer sowie durch staatliche Stellen hochgeladener russischer Propaganda.[722]
In der vorletzten Märzwoche trat ein von der Duma beschlossenes Gesetz in Kraft, das für die Veröffentlichung von angeblichen Falschinformationen über Auslandsaktionen des russischen Staates ebenfalls Haftstrafen von bis zu 15 Jahren vorsieht.[723]
Bereits das Setzen des Wortes Spezialoperation in Anführungszeichen wurde von einem russischen Gericht als „Diskreditierung der Streitkräfte“ gewertet und folglich mit einer Geldstrafe belegt.[724]
Im Dezember 2024 erschienen der russischen Regierung die Informationen auf YouTube zu gefährlich und der Zugang wurde, wie schon im Sommer absehbar, technisch fast unmöglich.[725]
Zensur der Wikipedia
Aufgrund des Artikels über den russischen Überfall auf die Ukraine drohte die Medienaufsicht Roskomnadsor am 1. März 2022 mit der Sperrung der Wikipedia, falls ihrer Ansicht nach fehlerhafte Informationen über die Opfer russischer Soldaten und militärische Gewalt gegen Zivilisten nicht gelöscht würden. Die Wikimedia Foundation wies die Forderung umgehend zurück: Die Wikipedia sei eine wichtige Quelle für zuverlässige, faktisch richtige Informationen, gerade in Krisensituationen. Insofern könne man solchen Einschüchterungsversuchen auf keinen Fall nachgeben.[726][727][728] Am 2. März wurde die in Russland beheimatete Seite Wikimapia geschlossen;[729] am 11. März wurde der Blogger und Wikipedianer Mark Bernstein in Belarus verhaftet, weil er „gefälschtes antirussisches Material“ vertreibe.[730] Maggie Dennis, eine Vize-Präsidentin der Wikimedia Foundation, erklärte in einer Stellungnahme am 11. März, dass es Versuche gebe, Wikipedia-Autoren zu identifizieren, deren Aktivitäten der russischen Darstellung des Krieges widersprechen. Die Stiftung wende sich entschieden gegen alle Bemühungen, die Weitergabe nachprüfbarer Informationen zu behindern. Dennis empfiehlt Wikipedia-Autoren dennoch, sich selbst und einander online zu schützen und darauf zu achten, „welche Informationen sie über sich selbst auf Wikimedia-Plattformen teilen und wie ihre Wikimedia-Aktivitäten mit ihrer persönlichen Identität in Verbindung gebracht werden können“.[731] 2023 wurde mit der Website Ruwiki eine eigene Version der Wikipedia gestartet, die auf der russischsprachigen Wikipedia basiert.[732]
Festnahme von Demonstranten
Nach Angaben der deutschen Tagesschau vom 13. März 2022 wurden russlandweit mindestens 14.000 Menschen bei Demonstrationen gegen den Krieg festgenommen.[733][734]
Ukraine
Schon im Jahr 2021 wurden drei oppositionelle Sender ohne Gerichtsbeschluss in der Ukraine verboten.[735]
Am 15. März 2022 weitete das für Medien zuständige ukrainische Staatskomitee das Importverbot für Druckerzeugnisse aus Russland auf alle Produkte aus Russland aus, um deren Einfluss auf die ukrainische Bevölkerung zu unterbinden. Filme mit positiver Darstellung russischer und sowjetischer Staatsorgane, darunter auch Hollywood-Filme,[736] und Bücher russischer Nationalisten wie Alexander Dugin oder Eduard Limonow waren schon seit 2015 verboten.[737]
Ab 26. Februar 2022 sendeten die vier größten Medienunternehmen 1+1 media, StarLightMedia, Media Group Ukraine und Inter Media Group vereinigt unter dem Titel United News. Alle übrigen sollten für die Dauer des Kriegsrechts mittels eines Dekrets vom 19. März 2022 folgen.[738][739] Bis Ende November 2022 wurden nach ukrainischen Regierungsangaben rund 19 Millionen Bücher aus Bibliotheken in der Ukraine verbannt. Dabei habe es sich um Werke gehandelt, die aus der Ära der Sowjetunion stammten und/oder in russischer Sprache verfasst wurden.[740]
Im Oktober 2024 erhob das Medium Ukrajinska Prawda in einem Brandbrief die Anschuldigung, dass das Präsidialamt der Ukraine systematisch Druck auf seine Redaktion ausübe.[741] Kritik an der ukrainischen Staatsführung, dass Journalisten u. a. vom ukrainischen Geheimdienst eingeschüchtert würden, hatte es bereits zuvor von Medien und Nichtregierungsorganisationen im Verlauf des Krieges gegeben.[742]
Europäische Union
Am 2. März 2022 trat das Verbot jeglicher Übertragung von RT-Inhalten EU-weit in Kraft, mit der Begründung, man wolle die Verbreitung von russischer Staatspropaganda verhindern.[743] Fjodor Krascheninnikow kritisierte diesbezüglich, dass ein solches Verbot dem Narrativ der russischen Propaganda, es gebe in der EU keine Redefreiheit, in die Hände spiele. Er argumentierte, dass man Menschen in Russland, die Medien der westlichen Welt konsumieren, vor allem durch die Widerlegung der russischen Staatspropaganda überzeugt – was jedoch nur gelingen könne, wenn die Argumente der russischen Staatspropaganda besprochen würden. Dagegen sei die Berichterstattung in westlichen Medien laut Krascheninnikow zu eindimensional, weshalb Russen den Eindruck gewännen, dass nur die Wahrheit des Westens präsentiert werde, ohne abweichende Meinungen zu diskutieren. Krascheninnikow schränkte jedoch ein, dass ohnehin nur ein geringer Teil der Bevölkerung, ein geringer Teil der Jugend in Russland, mittels VPN Zugang zu westlichen Medien habe, während der Großteil der russischen Bevölkerung, insbesondere der ältere Teil, russisches Staatsfernsehen schaue.
Russische Annexion der Süd- und Ostukraine
Im Zuge des Russisch-Ukrainischen Kriegs und infolge des Russischen Überfalls auf die Ukraine wurden bei der Annexion der Süd- und Ostukraine am 30. September 2022 von der Regierung Russlands unklar abgegrenzte Teile der ukrainischen Oblaste Cherson (inkl. der Kinburn-Halbinsel/Mykolajiw), Donezk, Luhansk und Saporischschja einseitig als der Russischen Föderation zugehörig proklamiert.
Die vor der Annexion durchgeführten „Referenden“ gelten völkerrechtlich als nichtig, da sie sich aus einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ergaben und unter Organisation der Russischen Föderation auf ukrainischem Staatsgebiet abgehalten wurden. Die darauf folgende Annexion wurde von den Vereinten Nationen und 143 Staaten der Weltgemeinschaft als illegal benannt und verurteilt.
Hintergrund
Als Ministerpräsident von Russland kündigte Wladimir Putin bereits im Jahr 2009 an, dass die Ukraine im Falle eines Beitritts zur NATO „dies ohne die Krim und den Osten tun“ werde.[2][3] Fünf Jahre später ließ er (inzwischen wieder als Präsident) im Februar und März 2014 das russische Militär auf der Halbinsel Krim einrücken. Russland annektierte die Halbinsel nach einem völkerrechtswidrigen Referendum, bei dem laut russischen Angaben 95,5 % der Wahlteilnehmer für einen Anschluss stimmten. Im April 2014 proklamierten zudem von Russland unterstützte Separatisten in der Ostukraine die Gründung der Volksrepublik Donezk in der Oblast Donezk und der Volksrepublik Lugansk in der Oblast Luhansk.
In dem am 12. Juli 2021 veröffentlichten Essay Putins Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern stellte der russische Staatschef die Existenz der Ukraine als eigene Nation infrage. Am 21. Februar 2022 erkannte Russland schließlich die beiden „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten an, dem folgten weltweit lediglich Syrien (22. Februar) und Nordkorea (13. Juli). Russland betonte zugleich, keinen Anschluss der Gebiete an Russland zu planen. Drei Tage später begann Russland mit der umfassenden Invasion in der Ukraine, in deren Zuge weitere Gebiete dieser Oblaste, aber vor allem große Teile der Oblaste Cherson und Saporischschja, erobert wurden. Nach Gebietsverlusten für Russland sollten Ende September 2022 in allen russisch besetzten Gebieten kurzfristig angeordnete Scheinreferenden über einen Beitritt zur Russischen Föderation durchgeführt werden.
Scheinreferenden
Ablauf und Umstände
Am 20. September 2022 wurden in den selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk sowie in allen russisch besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Saporischschja für den Zeitraum vom 23. bis 27. September „Referenden“ über den Beitritt zur Russischen Föderation angekündigt.[4][5][6][7] Nur Tage zuvor hatten dieselben russischen Stellen aus Sicherheits- und prinzipiellen Gründen Referenden ausgeschlossen – diese Willkür zeige, dass es dem Kreml sehr wenig um die Bevölkerung ginge, so ein Kommentar der Moscow Times.[8] Mit der Annexion beabsichtige das russische Regime vielmehr eine Sicherung seiner Kriegsgewinne vor dem Hintergrund der laufenden Befreiung russisch besetzter Gebiete durch die Ukraine, also eine „Neuerfindung von angeblichen roten Linien“, wie es ein Kommentar auf Meduza formulierte.[9] Der Politologe Oleg Ignatov meinte auf dem russischen Dienst der BBC, dass aus der Form und dem Ablauf dieser „Referenden“ ersichtlich sei, dass diese „keine Referenden, sondern eine PR-Aktion“ seien. Der eigentliche Hauptzweck, glaubte Ignatow, sei die Rechtfertigung der Fortsetzung des Krieges „vor allem für die russische Gesellschaft“ sowie eine Rechtfertigung für die Mobilmachung in Russland am 21. September.[10] Gwendolyn Sasse erklärte laut der Tagesschau, Russlands Teilmobilmachung sei direkt mit den Scheinreferenden verknüpft; deren Ankündigung zeige den Rechtfertigungsdruck, unter dem Putin innenpolitisch stehe.[11]
Einen Wahlkampf oder öffentliche Debatten gab es nicht. Wegen der geringen Anzahl freiwilliger Wahlteilnehmer wurden die Abstimmungen teilweise auf der Straße, in improvisierten „Wahllokalen“ (u. a. an Eingängen von Wohnhäusern und Märkten) und bei Hausbesuchen durchgeführt. Dabei wurden vielfach gläserne Wahlurnen verwendet. Aus Russland angereiste „Wahlhelfer“ gingen in Begleitung bewaffneter Soldaten von Tür zu Tür, um die Hausbewohner zur Wahlteilnahme „aufzufordern“. Teilweise wurde dabei versucht, die Stimmabgabe durch Drohung oder Bestechung zugunsten eines Anschlusses zu beeinflussen.[12][13][14] Laut einem Bericht der Deutschen Welle sind Beschäftigte kommunaler Einrichtungen dazu gezwungen worden, mehrmals an unterschiedlichen Orten abzustimmen.[12] In den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk wurde auf die Öffnung der Wahllokale weitgehend verzichtet. Dort war die Wahlteilnahme mit Ausnahme des letzten Wahltages, an dem Wahllokale geöffnet waren, ausschließlich durch Hausbesuche der pro-russischen Behördenvertreter möglich.[15] Bei den Hausbesuchen und in den improvisierten „Wahllokalen“ auf der Straße und in Gebäudeeingängen hatten die Wähler bei ihrer Stimmabgabe keine Möglichkeit einer geheimen Wahl. In den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk wurde nach drei Wahltagen eine Rekordbeteiligung von bis zu 87 Prozent – mit über einer Million Teilnehmer – angegeben.[12] Tatsächlich jedoch waren bereits vor den Referenden viele Menschen aus den russisch besetzten Gebieten „evakuiert“ (d. h. deportiert) worden. So meldeten russische Medien im August 2022, dass bis dahin insgesamt 3,4 Millionen Ukrainer in die Russische Föderation „eingereist“ seien.[16]
Nach Angaben des ukrainischen Militärgouverneurs des Gebiets Luhansk Serhij Hajdaj meldeten die russischen Besatzungsverwaltungen aus komplett zerstörten und fast vollständig verlassenen Städten des Gebiets (Lyssytschansk, Sjewjerodonezk und Rubischne) dennoch Wahlbeteiligungen von etwa 50 Prozent.[12]
Während des Scheinreferendums kontrollierte Russland nach Angaben der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA 73 % des Territoriums der Oblast Saporischschja,[17] nicht unter russischer Besatzung stand z. B. die Gebietshauptstadt Saporischschja, weshalb dort nicht abgestimmt wurde.[18][19] Nach einer am 29. September 2022 veröffentlichten DPA-Meldung kontrollierten „russische Truppen und die Separatistenverbände rund 58 Prozent des ostukrainischen Gebiets Donezk“,[20][21] die Oblaste Cherson und Luhansk standen während der dort stattgefundenen Scheinreferenden fast vollständig unter Kontrolle der russischen Armee, inklusive ihrer Hauptstädte.[22]
Stimmzettel
Die in den ukrainischen Oblasten Cherson und Saporischschja von den russischen Besatzungsverwaltungen ausgehändigten Stimmzettel waren zweisprachig (russisch und ukrainisch) und stellten folgende Frage:[23][24][25]
«Вы за выход [Херсонской/Запорожской] области из состава Украины, образование [Херсонской/Запорожской] областью самостоятельного государства и вхождение её в состав Российской Федерации на правах субъекта Российской Федерации?»
«Ви за вихід [Херсонської/Запорізької] області зі складу України, освіту [Херсонською/Запорізькою] областю самостійної держави та входження її до складу Російської Федерації на правах суб’єкта Російської Федерації?»
„Sind Sie für den Austritt der Oblast [Cherson/Saporischschja] aus der Ukraine, die Umwandlung der Oblast [Cherson/Saporischschja] in einen selbständigen Staat und ihre Eingliederung in die Russische Föderation mit den Rechten eines Subjekts der Russischen Föderation?“
Die in den Gebieten Donezk und Lugansk ausgehändigten Stimmzettel waren einsprachig (russisch) und stellten folgende Frage:[23]
«Вы за вхождение [Донецкой/Луганской] Народной Республики в состав Российской Федерации на правах субъекта Российской Федерации?»
„Sind Sie für die Eingliederung der Volksrepublik [Donezk/Lugansk] in die Russische Föderation mit den Rechten eines Subjekts der Russischen Föderation?“
Ergebnisse
„Volksrepublik Lugansk“ (Oblast Luhansk) |
„Volksrepublik Donezk“ (Oblast Donezk) |
Oblast Saporischschja | Oblast Cherson | |
---|---|---|---|---|
Ja-Stimmen | 1.636.302 (98,42 %)[26][27][28] | 2.116.800 (99,23 %)[26][27][28] | 430.268 (93,11 %)[26][29] | 497.501 (87,05 %)[28][30] |
Nein-Stimmen | 4.938 (0,29 %)[27] | 16.555 (0,78 %)[27] | 68.832 (12,05 %)[28][30] | |
Ungültige Stimmen | 0,9 %[28][30] | |||
Abgegebene Stimmen (Wahlbeteiligung) | 1.662.607 (94,15 %)[26][27][28] | 2.131.207 (97,51 %)[26][27][28] | 541.093 (85,4 %)[27][31] | 571.001 (76,86 %)[26] |
Die Ergebnisse lassen sich nicht objektiv überprüfen und sind als Scheinwahl einzustufen.[32]
Annexion
Am 29. September 2022 unterzeichnete Präsident Wladimir Putin Dekrete, nach denen die Russische Föderation die Oblaste Cherson und Saporischschja als „unabhängige Territorien“ anerkannte.[33] Noch am selben Tag kündigte die russische Regierung für den Folgetag (30. September) den „Anschluss“ der ukrainischen Regionen an das russische Staatsgebiet an.[34] Sie gelten dort seither als eigenständige Föderationssubjekte.[35] Eine entsprechende Deklaration wurde in Moskau bei einer offiziellen Zeremonie in Anwesenheit der von Russland eingesetzten Milizführer der vier Regionen (Jewhen Balyzkyj, Leonid Passetschnik, Denis Puschilin und Wolodymyr Saldo) vom russischen Präsidenten Putin unterzeichnet.[36] Anschließend fand ein Festival zur Feier des Anschlusses mit Auftritten diverser nationalistischer Stars auf dem Roten Platz statt.
Wenige Stunden vor der Annexion teilte der russische Regierungssprecher Dmitri Peskow mit, dass noch Klärungsbedarf bezüglich des Grenzverlaufs der Regionen Cherson und Saporischschja bestehe. Die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk würden laut Peskow „in den Grenzen von 2014“ als russische Gebiete anerkannt.[22][37] Außerdem erklärte Peskow, dass ein Angriff auf das neu annektierte Gebiet als Angriff auf Russland gewertet werde.[38]
Am 2. Oktober 2022 erklärte das Verfassungsgericht von Russland die Annexion für verfassungsgemäß. Es erklärte dabei, die „willkürlichen Entscheidungen der Sowjetregierung“ korrigieren zu wollen, und behauptete, dass durch die Annexion eine weit verbreitete Unterdrückung von Russen in der Ukraine verhindert würde.[39] Bis zum 1. Januar 2026 befänden sich die Regionen in einer „Übergangsphase“.[40]
Am 3. Oktober 2022 ratifizierte die Duma formal die Annexionsverträge. Insgesamt seien dabei für den Anschluss der einzelnen Regionen jeweils 409 bis 413 Ja-Stimmen abgegeben worden – obwohl nur 408 Abgeordnete anwesend waren. Der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin erklärte dies mit einer „technischen Panne“, ohne aber die Abstimmung zu wiederholen: Man solle sich nicht „um eine Stimme mehr oder weniger“ Gedanken machen.[41] Laut Regierungssprecher Dmitri Peskow ist bei den Regionen Cherson und Saporischschja zudem der Grenzverlauf weiter ungeklärt; dies werde man „mit den Einwohnern dieser Regionen diskutieren“.[42]
Am 4. Oktober 2022 stimmte der Föderationsrat der Aufnahme der vier Gebiete in die Russische Föderation zu.[43] Einen Tag später unterzeichnete Präsident Putin die Gesetze zur Eingliederung der vier Gebiete.[44] Eine Zuordnung zu einem Föderationskreis erfolgte allerdings bislang nicht (Stand März 2023).[45]
Nach der Beendigung der russischen Besatzung von Cherson und der Einnahme der Stadt durch die ukrainischen Truppen Anfang November 2022 herrschte dort laut der BBC spürbare Erleichterung über die Befreiung.[46]
Bis Mai 2023 wurden nach offiziellen russischen Angaben in der annektierten Süd- und Ostukraine 1,5 Millionen russische Staatsbürgerschaften vergeben.[47] Zudem gibt es neue russische Kfz-Kennzeichen.[48]
Rechtliche Einschätzung und Reaktionen
Die Annexion erfolgte nach international verurteilten Scheinreferenden; unter den Bedingungen des Krieges und der Besatzungsherrschaft war keine freie und geheime Wahl möglich, zumal nicht alle Einwohner der Regionen überhaupt abstimmen konnten (Verstoß gegen das allgemeine Wahlrecht).[32] Da sich die Referenden aus einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ergaben und von der Russischen Föderation organisiert auf ukrainischem Staatsgebiet abgehalten wurden, sind sie aus völkerrechtlicher Sicht rechtswidrig und somit nichtig[32][49] (siehe Hoover-Stimson-Doktrin).
UN-Generalsekretär António Guterres bezeichnete am 29. September den russischen Annexionsplan als „einen illegalen Schritt, einen Verstoß gegen das Völkerrecht, der verurteilt werden sollte“.[50] Rosemary DiCarlo, Untergeneralsekretärin der Vereinten Nationen für Politik und Friedenskonsolidierung, erklärte das Referendum für völkerrechtswidrig: „Einseitige Aktionen, die darauf abzielen, der versuchten gewaltsamen Aneignung des Territoriums eines anderen Staates einen Schein der Legitimität zu verleihen, während sie vorgeben, den Willen des Volkes zu repräsentieren, können nach internationalem Recht nicht als legal angesehen werden.“[51] Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legte Russland als ständiges Mitglied des Rates ein Veto gegen eine Resolution ein, mit der die Annexion als Völkerrechtsbruch verurteilt werden sollte.[52]
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte am 30. September 2022 den russischen Annexionsplan als „illegalen und illegitimen Landraub“ und bezeichnete ihn als die „schwerwiegendste Eskalation seit Beginn des Krieges“. Die NATO werde dem „nuklearen Säbelrasseln“ Russlands nicht nachgeben und ein Einsatz von Nuklearwaffen werde für Russland „ernste Konsequenzen“ haben. Die Ukraine habe das Recht, die besetzten Gebiete zurückzuerobern.[53]
Wenige Stunden nach der Annexionsproklamation der russischen Staatsführung beantragte der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, am 30. September 2022 eine beschleunigte Aufnahme der Ukraine in die NATO.[54][55] Bereits am 7. August 2022 hatte Selenskyj geäußert: „Wenn die Besatzer den Weg der Pseudoreferenden einschlagen, werden sie sich jede Chance auf Gespräche mit der Ukraine und der freien Welt verschließen, die die russische Seite irgendwann eindeutig brauchen wird.“[56] Nachdem Selenskyj die russische Staatsführung wiederholt davor gewarnt hatte, dass im Falle von Annexionen der Süd- und Ostukraine Friedensverhandlungen unmöglich würden, erließ er am 4. Oktober ein Dekret, das Verhandlungen mit Russland verbietet, solange es von Wladimir Putin geführt wird.[57]
Am 12. Oktober verurteilte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in einer Dringlichkeitssitzung mit einer Resolution die „versuchte illegale Annexion“ mit 143 von 193 Stimmen (Resolution ES-11/4 der UN-Generalversammlung). Lediglich Belarus, Nicaragua, Nordkorea und Syrien stellten sich an Russlands Seite; China, Indien und 33 weitere Staaten, vor allem aus Afrika, enthielten sich, zehn Staaten blieben der Abstimmung fern.[58]
Am 23. Februar 2023 stimmten 141 Mitglieder der UN-Vollversammlung für eine Resolution zum Ende des Krieges und den Rückzug Russlands aus seinem Nachbarland (Resolution ES-11/6 der UN-Generalversammlung). Sieben UN-Mitglieder stimmten dagegen (Belarus, Eritrea, Mali, Nicaragua, Nordkorea, Russland und Syrien), 32 enthielten sich (darunter u. a. wieder China und Indien), 13 waren abwesend.[59]
Eine Reihe von Staaten leisteten bereits seit 2014, dem Beginn der russischen Aggressionen, Hilfen für die Ukraine. Diese erfährt seit dem Überfall und den Annexionen verstärkt Unterstützung insbesondere finanzieller, humanitärer und militärischer, aber auch diplomatischer Art (siehe dazu Liste von Auslandshilfen für die Ukraine seit 2014).
Russisch-Ukrainischer Krieg
Der Russisch-Ukrainische Krieg (bis Februar 2022 hauptsächlich als Russisch-Ukrainischer Konflikt, allgemein als Ukrainekrise, Ukrainekrieg oder Russlands Krieg gegen die Ukraine bezeichnet) begann Ende Februar 2014 in Form eines regionalen bewaffneten Konflikts auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Im Anschluss an die völkerrechtswidrige Annexion der Krim folgten weitere Eskalationen durch Russland insbesondere mit dem Aufbau prorussischer bewaffneter Milizen im ostukrainischen Donbass, die dort gemeinsam mit regulären russischen Truppen gegen die ukrainischen Streitkräfte und Freiwilligenmilizen kämpften. Die mit internationaler Hilfe zustande gekommenen Minsker Abkommen von September 2014 und Februar 2015 sahen für den Krieg in der Ostukraine einen dauerhaften Waffenstillstand vor; tatsächlich erreicht wurde bestenfalls eine Stabilisierung des lokalen Konflikts mit fortlaufenden Provokationen durch die russisch-separatistische Seite.
Nach einem relativen Abflauen baute Russland ab Sommer 2021 massiv Truppen an der ukrainischen Grenze auf, bestritt aber Angriffspläne. Ab dem 24. Februar 2022 folgte ein groß angelegter Angriff durch die russische Armee aus mehreren Richtungen mit dem Ziel, die ukrainische Regierung zu stürzen und durch ein prorussisches Regime zu ersetzen. Die russischen Truppen zogen sich nach schweren Verlusten ab Ende März 2022 aus dem Norden und Nordosten der Ukraine zurück, um ihre Offensive ausschließlich auf den Osten des Landes zu konzentrieren. Im Süden war mit der Großoffensive eine von Russland kontrollierte Landverbindung zwischen dem russischen Festland und der 2014 annektierten Krim geschaffen worden. Die russische Offensive kam im Sommer kaum voran, und ab Ende August ging die ukrainische Armee im Osten und Süden zu einer Gegenoffensive über, die bis Oktober 2022 erhebliche Geländerückgewinne erzielte. Präsident Wladimir Putin kündigte im September 2022 eine Mobilmachung Russlands an und Russland annektierte im Monat darauf große Teile der Süd- und Ostukraine und leitete dort die Russifizierung ein. Nach dem russischen Rückzug wurden in den zuvor besetzten Gebieten Beweise für schwere Kriegsverbrechen der russischen Truppen gegen Zivilisten entdeckt.
Bezeichnungen und Überblick
Der seit 2014 andauernde Konflikt wurde in deutschsprachigen Medien häufig als Ukraine-Konflikt bezeichnet.[25] Auch die Bezeichnung russisch-ukrainischer Konflikt lässt sich nachweisen,[26] je nach Aktualität wurde auch Ukraine-Krise verwendet.[27] Die Bezeichnung Russisch-Ukrainischer Krieg wurde unter anderem vom Historiker Andreas Kappeler schon ab 2014 verwendet, aber auch von Andreas Umland.[28] Zum Teil wurde der Konflikt vor dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 als Bürgerkrieg bezeichnet,[29] was auch der offiziellen russischen Sichtweise entsprach sowie der russischen Propaganda, die jegliche Beteiligung des Landes abstritt[30] und auch dessen offenen Angriff im Frühjahr 2022 lediglich als „Spezial-Operation“ bezeichnete.
Der Konflikt begann Ende Februar 2014 mit der russischen Besetzung der unter ukrainischer Hoheit stehenden Schwarzmeer-Halbinsel Krim; dies erfolgte unter Einsatz russischer Streitkräfte ohne Hoheitszeichen („Grüne Männchen“).[2] Im Anschluss annektierte Russland die gesamte Krim und betrieb anti-ukrainische Agitation und Propaganda mit dem Ziel der Destabilisierung[31] vor allem in den Städten Charkiw, Odessa, Mariupol, Luhansk und Donezk. Während die Lage in Charkiw, Odessa und Mariupol wieder unter ukrainische Kontrolle kam, wurden in den Oblasten Donezk und Luhansk bewaffnete sogenannte Volksmilizen aktiv, unterstützt durch Interventionen paramilitärischer russischer Gruppen.[32] Auch nach Einschätzung eines Kommandanten einer solchen Einheit gingen die kriegerischen Handlungen in der Ostukraine nicht von Donbass-Bewohnern selbst, sondern wie auf der Krim von diesen russischen Sondertruppen[33] sowie Söldnern wie der Gruppe Wagner aus. Russland unterstützte diese seit Beginn der Kampfhandlungen zudem durch Lieferungen auch von schweren Waffen.[34][35] Aufgrund der vielfältigen Indizien dementierten auch die staatsnahen russischen Medien ab September 2014 nicht mehr die Anwesenheit russischer Soldaten, sondern verbreiteten das Narrativ, die Soldaten würden „in ihrer Freizeit“ dort kämpfen.[36]
Im Juni 2014 beklagte der UNHCHR in den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten eine von den dortigen Milizen geschaffene Atmosphäre der Angst mit Tötungen, Folterungen und anderen Menschenrechtsverletzungen[37] sowie den totalen Zusammenbruch von Recht und Ordnung und sprach von einer Terrorherrschaft der bewaffneten Gruppen über die Bevölkerung mit Freiheitsberaubungen, Entführungen, Folterungen und Exekutionen.[38] Hunderttausende Menschen flüchteten aus den betroffenen Gebieten. Beim Abschuss des zivilen Malaysia-Airlines-Flugs 17 über den von den dortigen Milizen kontrollierten Gebieten der Oblast Donezk durch eine aus Russland stammende Flugabwehrrakete im Juli 2014 wurden 298 Zivilisten getötet, darunter 80 Kinder. Anfang August 2014 konnte die Ukraine Donezk und Luhansk zu großen Teilen blockieren. Es folgte eine erheblich verstärkte Unterstützung aus Russland, die es den prorussischen Kräften nicht nur erlaubte, Ende August die Belagerungsringe zu sprengen, sondern auch Gebiete im Süden einzunehmen, in denen kaum Bestrebungen zur Abspaltung bekannt waren.[39][40]
Anfang September 2014 trat mit dem Protokoll von Minsk („Minsk I“) ein brüchiger Waffenstillstand in Kraft, welcher von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überwacht werden sollte; dennoch starben in einem Zeitraum bis Mitte Dezember 1300 Bewaffnete und Zivilisten.[41] Ende Januar 2015 machte die OSZE die Separatisten für ein weiteres Scheitern bei der Implementierung des Abkommens verantwortlich. Russland seinerseits verweigerte der OSZE die vereinbarte Überwachung der Grenze.[42] Trotz des erneuerten Waffenstillstandsvertrages Minsk II im Februar 2015 folgte direkt die Einnahme Debalzewes, aber auch danach verzeichneten die Beobachter der OSZE vor September 2015 keinen Tag, an dem der Waffenstillstand eingehalten wurde; ein Großteil der schweren Waffen war zwar zeitweilig von der Frontlinie abgezogen worden, deren Verbleib konnte von der OSZE jedoch nur auf ukrainischer Seite verfolgt werden.[43] Ab dem 1. September 2015 wurde ein von der Kontaktgruppe nochmals vereinbarter Waffenstillstand mehrheitlich bis Anfang November eingehalten, danach nahmen die Kampfhandlungen wieder zu.[44] Im Juni und Juli 2016 stiegen die Opferzahlen auf den höchsten Stand innerhalb eines Jahres.[45][46] In der gesamten Geltungszeit dieses „vollständigen Waffenstillstands“ verdoppelte sich die Zahl der Getöteten bis Oktober 2016.[47] Entlang der in Minsk vereinbarten Kontaktlinie lebten zehntausende Menschen in der bis 15 Kilometer breiten „Grauen Zone“ ohne kommunale Verwaltungen, ohne Polizei, Ärzte, oft ohne Wasser und Strom. Die Truppen rückten einander immer näher, bis 2018 gab es Distanzen von nur noch 200 Metern, wobei jedoch der Einsatz schwerer Waffen eher abgenommen hatte. Schon zu diesem Zeitpunkt war die Mehrzahl der zivilen Opfer durch Minen und alte Blindgänger zu beklagen, nicht durch Beschuss.[32]
Auch im weiteren Zeitraum bis Ende 2019 starben fast täglich Soldaten oder Zivilisten, auch durch Einsatz verbotener schwerer Waffen.[48][49][50] Regelmäßig nahmen die Kämpfe im Spätherbst zu. Im Jahr 2018 wurden bis zu tausend Waffenstillstandsverletzungen pro Tag gezählt.[51][52][21] Ein weiterer Anlauf zu einer „vollständigen und umfassenden“ Waffenruhe führte nach Inkrafttreten am 27. Juli 2020 zu einer Reduktion der Waffenstillstandsverletzungen. Ihre Zahl verringerte sich auf 276 innerhalb zweier Wochen, im Vergleich zu 8097 in den zwei Wochen zuvor. Ab August bis November 2020 lag der Monatsdurchschnitt konstant auf unter fünf Prozent des Vorjahres.[53][54]
Ab Frühjahr 2021 wurden massive russische Truppenverbände in die Nähe der ukrainischen Grenze verlegt.[55] Russlands Präsident Wladimir Putin ließ um den Jahreswechsel 2021/22 im Rahmen einer als Manöver angekündigten militärischen Operation weitere russische Truppen in die Nähe der Grenze verlegen – auch in Gebiete des benachbarten Belarus; an der Kontaktlinie blieb es bis Februar 2022 dennoch ruhiger als vor dem geltenden Waffenstillstand von 2020.[32] Am 21. Februar 2022 erkannte Russland die staatliche Unabhängigkeit der von prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine kontrollierten und als „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk proklamierten Gebiete in der Oblast Donezk und der Oblast Luhansk an. Die folgende Invasion durch Russland auf mehreren Fronten begann am 24. Februar 2022. Der Einmarsch stellte einen eklatanten Bruch der europäischen Friedensordnung gemäß der Charta von Paris von November 1990 bzw. dem Budapester Memorandum von Dezember 1994 dar. Auch der russisch-ukrainische Freundschaftsvertrag von 1997 sollte die Souveränität der Ukraine in ihren Grenzen garantieren. Der von Russland, das nach Ansicht der meisten Beobachter nicht mit intensiven Kampfhandlungen gerechnet hatte, vermutlich geplante rasche Durchmarsch kam früh zum Erliegen, die Einkreisung Kiews kam nicht zustande. Bei den besetzten Gebieten um Donezk schafften es die Truppen nicht oder kaum über die seit 2015 bestehende Kontaktlinie hinaus, nur an der russischen Grenze zwischen Luhansk und Charkiw drangen russische Truppen vor. Hingegen konnten die Truppen, die von der Krim her vorgestoßen waren, zusammen mit amphibischen Landungen Gebiete im Süden sichern und Mariupol blockieren; ein Vorstoß auf Odessa scheiterte jedoch.
Die russischen Truppen mussten sich ab Ende März 2022 nach schweren Verlusten aus dem Norden und Nordwesten der Ukraine zurückziehen, nachdem erste Kriegsziele nicht erreicht werden konnten. Die russische Regierung gab an, fortan ihre Offensive ausschließlich auf den Osten des Landes zu konzentrieren, wo die russischen Truppen unter massivem Artillerieeinsatz und starken Verlusten Geländegewinne machen konnten. Bei ihrem Rückzug kamen schwere Kriegsverbrechen der russischen Truppen gegen Zivilisten in den zuvor besetzten Gebieten zum Vorschein. Ab Mai 2022 gelang es der Ukraine durch rasch ansteigende Waffenlieferungen westlicher Staaten, insbesondere der USA, die Fortschritte der russischen Kräfte zu bremsen und empfindliche Schläge gegen russische Logistik- und Kommandoeinrichtungen zu führen. Im September 2022 erzielte eine ukrainische Gegenoffensive insbesondere im Gebiet Charkiw bedeutende Geländerückgewinne, worauf Russland mit einer Teilmobilmachung und der völkerrechtswidrigen Annexion der Südostukraine reagierte. Im November 2022 musste Russland aufgrund einer ukrainischen Offensive im Monat zuvor sowie aufgrund mangelnder eigener Mannstärke große Teile der Oblast Cherson räumen. Seither stagniert die Front weitestgehend, eine weitere große ukrainische Offensive wurde jedoch angekündigt.[56][57] Im Januar 2023 kündigten westliche Partner der Ukraine an, moderne westliche Kampfpanzer zu liefern – womit im Monat darauf begonnen wurde.[58][59]
Verlauf im Detail
Vorgeschichte
Europäische Sicherheitsarchitektur seit 1990
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts beschlossen die KSZE-Staaten in der Charta von Paris am 21. November 1990 die Grundsätze für ein geeintes „Neues Europa“. Demnach sollten Menschenrechte und demokratische Werte das Grundgerüst eines von seiner Vergangenheit befreiten Europas bilden, also in der Sowjetunion Reformen bis zur vollständigen Demokratisierung durchgeführt werden. Nur zwei Tage zuvor, am 19. November 1990 unterzeichneten Leonid Krawtschuk und Boris Jelzin einen Freundschaftsvertrag zwischen der Ukrainischen SSR und der RSFSR und damit die gegenseitige Anerkennung der staatlichen Souveränität der Ukrainischen und der Russischen Republik.[60][61] Nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes sowie der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) mit den Belowescher Vereinbarungen bzw. der Erklärung von Alma-Ata (alles 1991) erkannte Russland im Budapester Memorandum von 1994 die ukrainische Souveränität erneut an; im Gegenzug gab die Ukraine ihre Nuklearwaffen ab. In der Partnerschaft für den Frieden arbeiteten NATO und Russland seit 1994 zusammen. Die Zusammenarbeit wurde 1997 mit der NATO-Russland-Grundakte noch vertieft, und in der NATO-Ukraine-Charta von 1997 wurde eine militärische Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine vereinbart. Im gleichen Jahr unterzeichnete die Ukraine einen neuen Freundschaftsvertrag mit Russland, der erstmals die explizite vorbehaltlose Anerkennung der territorialen Integrität und Unverletzbarkeit der Grenzen der Ukraine beinhaltete und dazu (bis zu seiner Aufkündigung 2018) einen Beitritt der Ukraine in ein „gegen den Vertragspartner gerichtetes Bündnis“ ausschloss.[62] Das „Schreckgespenst“ der ukrainischen Sicherheitspolitik war damit schon 1998 eine mögliche zukünftige Entfremdung Russlands von der NATO, die einen Positionsbezug erzwingen würde.[63]
Als Folge des Ersten Tschetschenienkriegs 1994 intensivierten osteuropäische Staaten ihre Bemühungen um einen NATO-Beitritt, die zu den NATO-Osterweiterungen von 1999 und 2004 führten, aber erst ab 2007 von Russland als „gebrochene Versprechen“ kritisiert wurden.[64] Die russische Regierung führte seither an, dass die Ausdehnung des Bündnisgebietes der NATO nach Osten, bis an die Grenzen Russlands, die russischen Sicherheitsinteressen beeinträchtige.[65][64][66][67]
Auf ihrem Gipfel 2008 in Bukarest stellte die NATO sowohl der Ukraine als auch Georgien eine Mitgliedschaft in Aussicht.[68] Nach einer Intervention von Deutschland, Frankreich und Großbritannien wurde ein „Aktionsplan für die Mitgliedschaft“ (englisch Membership Action Plan, MAP) der Ukraine jedoch verwehrt. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel lehnte Schritte in diese Richtung ab und US-Präsident Barack Obama unternahm im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger keine Maßnahmen in Richtung NATO-Beitritt der Ukraine. Die Janukowytsch-Regierung verabschiedete 2010 ein Gesetz, unter anderem um die Beziehungen zu Russland zu verbessern, das dem Land die Teilnahme an einem Militärblock untersagte. NATO-Generalsekretär Anders Rasmussen erklärte im Oktober 2013, dass die Ukraine 2014 definitiv nicht der NATO beitreten werde. Von 2009 bis 2014 spielte nach Angaben von Michael McFaul eine Erweiterung der NATO in Besprechungen zwischen Obama und Medwedew oder Putin keine Rolle.[69]
Auch um die innenpolitische Macht des Herrschaftssystems zu sichern, stellte Russland sich selbst mehr und mehr als in einer strategischen und kulturellen Gegnerrolle zum „kollektiven Westen“ befindlich dar.[70] NATO und EU wurden zunehmend als vollständig von den USA gesteuerte Machtinstrumente interpretiert. Damit geriet die Ukraine, wie schon lange befürchtet, zwischen die Fronten, und der 1998 noch hoffnungsvoll formulierte „ukrainische Beitrag zur ‚Europäisierung‘ Russlands“[63] wendete sich zu einer Gefahr für das Land.
Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland
Mit dem Zerfall der Sowjetunion unterzeichneten die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik am 19. November 1990 einen Freundschaftsvertrag, in dem die existierenden Grenzen gegenseitig anerkannt wurden. Am 23. Juni 1992 wurde der Vertrag von der unabhängigen Russischen Föderation und der unabhängigen Ukraine bestätigt, 1997 folgte der russisch-ukrainische Freundschaftsvertrag.[71] Im Jahr 2003 schlossen die Staatspräsidenten Putin und Kutschma in Kiew den russisch-ukrainischen Grenzvertrag ab und regelten damit den einzigen unklaren Grenzverlauf bei Kertsch. Die Beziehungen beider Länder verschlechterten sich spätestens Ende 2004 rapide: Bei der ukrainischen Präsidentschaftswahl gewann der prowestliche Kandidat Wiktor Juschtschenko gegen den von Putin unterstützten Kandidaten Wiktor Janukowytsch. Sowohl 2006 als auch 2009 stoppte Russland danach im russisch-ukrainischen Gasstreit vorübergehend die Gaslieferungen an die Ukraine.[72]
Im Februar 2010 wurde Janukowytsch doch noch zum Präsidenten der Ukraine gewählt.[73] Ab August 2013 sorgte das zunächst auch von ihm verfolgte Assoziierungsabkommen mit der EU zunehmend für Spannungen zwischen der Ukraine und Russland. Putin sah durch das Abkommen seine Pläne, die Zollunion mit Belarus und Kasachstan durch den Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Union auszubauen, als gefährdet an.[74] So sagte der Putin nahestehende russische Politiker Sergei Glasjew im September 2013 bei einem Treffen mit ukrainischen Politikern, dass Russland bei einer Unterzeichnung des Abkommens sich nicht mehr an Verträge, die die Grenzen zwischen den beiden Ländern garantieren, gebunden fühle. Es werde zu Aufständen und separatistischen Unruhen in den russischsprechenden Gebieten kommen und Russland werde vermutlich auf deren Seite intervenieren, falls es darum gebeten werde.[75] Trotz des Drucks aus Moskau und hohen Erwartungen der EU hielt die Regierung von Janukowytsch zunächst an dem Abkommen fest. Ihre Haltung zu dem Assoziierungsabkommen mit der EU änderte sich aber, als das Land in eine wirtschaftliche Schieflage geriet und niemand in der EU das ernstzunehmen schien.[76]
Euromaidan und Annexion der Krim 2014
Im Spätherbst 2013 kam es nach der Ankündigung der ukrainischen Regierung unter Wiktor Janukowytsch, die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union zu verschieben, in Kiew zu ausgedehnten Massenprotesten für eine stärkere europäische Integration. Die Proteste richteten sich zunehmend gegen die als korrupt empfundene Regierung der Ukraine, es kam zu Todesopfern. Drei Monate nach Beginn der Proteste unterschrieben Präsident, Opposition sowie die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens (Weimarer Dreieck) die Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine vom 21. Februar 2014. Noch in derselben Nacht flüchtete Janukowytsch aus Kiew nach Charkiw. Am 22. Februar versuchte er von Donezk aus, das Land zu verlassen, wurde jedoch am Abflug gehindert.[77] Am gleichen Tag wurde er vom ukrainischen Parlament für abgesetzt erklärt. Janukowytsch wurde auf seine an Russland gerichtete Bitte hin durch eine russische Spezialoperation auf die Krim und am 24. Februar nach Russland gebracht.[78] Die Absetzung Janukowytschs entsprach rein verfassungsrechtlich gesehen – weil ohne Durchführung eines Amtsenthebungsverfahrens gemäß Artikeln 108 und 111 der Verfassung der Ukraine – nicht der Verfassung, und das offizielle Russland nahm fortan den Standpunkt ein, in der Ukraine habe es einen „verfassungswidrigen Umsturz“ gegeben.[79] Ab dem 27. Februar 2014 begann Russland seine zunächst verdeckte Intervention auf der Krim und wenige Tage nach dem Referendum vom 16. März annektierte es diese.[2] Von Beginn an wurde der russischen Regierung von einigen westlichen Medien vorgeworfen, Unruhen während und nach dem Euromaidan zu schüren in der Absicht, den mehrheitlich russischsprachigen Osten und Süden der Ukraine zu destabilisieren.[80] Die meisten russischen Medien hingegen vermitteln einen komplett anderen Standpunkt zu den Ereignissen.[81]
Am 27. Februar wurde von der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, eine Übergangsregierung unter Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk gewählt.[82] Nicht mehr im Kabinett vertreten war die bis dahin in Regierungsverantwortung stehende und an Russland angelehnte Partei der Regionen, deren Parlamentsfraktion in der Rada nach dem Austritt von mindestens 72 Abgeordneten geschwächt war und zusammen mit den Kommunisten in die Opposition wechselte.[83] Zuvor, am 23. Februar 2014, hatte das Parlament eine Herunterstufung des Status der russischen Sprache beschlossen, das dazu nötige Änderungsgesetz wurde jedoch vom Übergangspräsidenten Oleksandr Turtschynow mit einem Veto blockiert. Damit hatte Russisch nie seinen offiziellen Status im Süden und Osten des Landes verloren.[84][85] Nach dem Regierungswechsel fanden Demonstrationen statt, die prorussisch oder proukrainisch genannt wurden, wobei die prorussischen Anliegen in ihrem genauen Ziel unscharf blieben und russische Fahnen auch bloß als Gegengewicht zu Europafahnen verwendet wurden. Die Anzahl der Demonstranten und die der Gegendemonstranten waren ungefähr ausgeglichen; Ukrainer reisten für die Gegendemonstrationen in andere Landesteile, während Teilnehmer der prorussischen Demonstrationen zum Teil aus Russland stammten.
Am 18. März griff der Ministerpräsident Forderungen der Opposition[86] auf und stellte in einer an die Bevölkerung der Ostukraine gerichteten Rede eine neue Verfassung in Aussicht, die den Regionen mehr Autonomie geben sollte.[87] Das Hauptziel der dortigen Demonstranten war nicht der Anschluss an Russland, sondern mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung.[88] Nach Teilnehmerangaben war das Zeigen russischer Fahnen während der Demonstrationen nicht so zu verstehen, dass man Teil Russlands werden wollte, sondern als „Antwort auf die Europa-Flaggen auf dem Maidan“.[89] Landesweit stammten die Befürworter einer Annäherung an Europa aus einer jungen, bürgerlichen und urbanen Mittelschicht, während die EU-Gegner eher einer ruralen und oft älteren oder unterprivilegierten Bevölkerung entstammten.[90][91][92]
Nach der Charta von Paris von 1990 sollten zukünftig Menschenrechte und demokratische Werte das Grundgerüst eines von seiner Vergangenheit befreiten Europas bilden.[93] Russland hatte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 aber an der Hegemonie über den postsowjetischen Raum festgehalten; für Russland lag die Ukraine im sogenannten „nahen Ausland“ oder in der „Sphäre seiner privilegierten Interessen“.[94] Keineswegs gehe es Russland um völkerrechtliche Fragen, sondern um Machtinteresse, so Erich Csitkovits. Für die Souveränität eines jeden Staates gelte hingegen die Maxime, dass jeder „seine Ausrichtung frei entscheiden“ könne.[95][96] Mehr denn je beanspruchte Putin eine russische „exklusive eigene Hegemonialsphäre“ betreffend die Ukraine.[97] Auf der anderen Seite bestand das Interesse der USA darin, die Ukraine in die US-amerikanische Einflusssphäre zu ziehen. Dieser Ansatz wurde auch unter der Präsidentschaft von Barack Obama von Außenministerin Hillary Clinton (2009 bis 2013) fortgeführt, auch wenn Obama selbst diesen Ansatz im Zuge seines Neustarts mit Russland zurückstellte.[98][95] Somit überlagerten sich geopolitische Interessen Russlands mit denen der EU und der Vereinigten Staaten, was den Konflikt wesentlich mit herbeigeführt hat.[98][95][99]
Im Frühjahr 2014 nahm Wladimir Putin Bezug auf eine historische Region im Osten und Süden der Ukraine namens Neurussland, die im späten 18. Jahrhundert Teil des Russischen Reichs wurde.[100] Er verwendete den Begriff, um Ansprüche Russlands auf die Süd- und Ostukraine historisch zu untermauern.[101] Putin kritisierte die Grenzziehung der frühen Sowjetführung bei der Gründung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) und erklärte: „Ich erinnere daran – das ist Neurussland. Charkiw, Donezk, Luhansk, Cherson, Mykolajiw, Odessa – sie gehörten in zaristischer Zeit nicht zur Ukraine, sondern wurden ihr von der Sowjetregierung übergeben. Weshalb sie dies tat, das weiß allein Gott.“ Diese laut Putin willkürliche Grenzziehung führte dazu, dass etwa 8 Millionen ethnischer Russen in der Ukraine, also außerhalb Russlands, lebten. Dies verwendete Putin für eine aggressive Ukrainepolitik, die, so der Historiker Andreas Kappeler, imperial und von einem ethnonationalen Revisionismus geprägt sei. Tatsächlich fielen die Grenzen der USSR mit den in Volkszählungen ermittelten ethnischen Grenzen zusammen. Die USSR umfasste also die Gebiete mit einer ukrainischen Bevölkerungsmehrheit.[102] Zudem war Putins geographische Definition von Neurussland ahistorisch, da die im 18. Jahrhundert entstandene Provinz auf die Steppe nördlich des Schwarzen Meeres begrenzt gewesen war und sich nicht bis nach Charkiw, Luhansk oder Donezk erstreckt hatte.[103] Neben lokalen Aktivisten beteiligten sich am Neurusslanddiskurs auch russische Nationalisten und Mitglieder des 2012 gegründeten ultranationalistischen Isborsk-Klubs. Alexander Dugin richtete eine Website ein, auf der er vorschlug, die Idee Neurussland und die bis dahin konkurrierenden Konzepte Eurasien und Russische Welt miteinander zu verbinden.[100]
Ein gewichtiger Grund für das Verhalten Russlands ist die Furcht der Machtelite im Kreml vor einer ähnlichen Bürgerrevolution in Russland. Eine erfolgreiche Demokratisierung im Bruderland Ukraine hätte für Russland eine Vorbildfunktion, was der Kreml durch die Destabilisierung der Ukraine verhindern wollte.[104][97]
Eine Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) zwischen dem 8. und 16. April 2014 in den acht östlichen und südlichen ukrainischen Oblasten[105] ergab, dass lediglich 11,7 % der Befragten mehr oder minder starke Sympathie für die bewaffneten Besetzer öffentlicher Gebäude in ihrer Region aufbrachten; in den Bezirken Donezk und Luhansk waren es 18,1 % bzw. 24,4 % der Befragten.[106][107]
Einen Beitritt ihrer jeweiligen Oblast zur Russischen Föderation befürworteten 15,4 % der Befragten, in Donezk dagegen 27,5 % und in Luhansk 30,3 %. Die Euromaidan-Unruhen sahen 41,7 % der Befragten lediglich als „Bürgerproteste gegen Korruption und Tyrannei der Diktatur Janukowytsch“ an, in Donezk 20 % und in Luhansk 26,8 %. Jedoch werteten 46 % der Befragten diese Geschehnisse als einen „von der Opposition mit Hilfe des Westens organisierten Staatsstreich“, in Donezk sogar 70,5 % und in Luhansk 61,3 %.[107][108][109]
Von der Eskalation ab März 2014 bis zu den Protokollen von Minsk
Zur Bekämpfung sezessionistischer Bestrebungen wurden deren Anführer verhaftet und angeklagt. Demonstrationen wurden zeitweise verboten, wie auch zeitweise die Ausstrahlung russischer Fernsehsender im ukrainischen Netz.[110][111][112] Der ukrainische Übergangspräsident Oleksandr Turtschynow machte am 15. März „Kreml-Agenten“ für die Massenproteste verantwortlich und warnte vor einer russischen Invasion im Osten des Landes. Russland wurde beschuldigt, den Separatismus im Land mit reisenden Aufwieglern entlang der Grenzen anzustacheln – die Gründung einer ukrainischen Nationalgarde sollte u. a. zum Grenzschutz dienen.[113][114][115]
Nach Medienberichten, wonach Russen in Bussen über die Grenze gekommen seien, um für einen Anschluss an Russland zu demonstrieren, erwog Andrij Parubij, Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrats, am 18. März die Einführung einer Visumspflicht für russische Staatsbürger.[116] Am 20. März sprach sich Jazenjuk jedoch gegen die Visumspflicht aus, weil an der Beibehaltung des visumfreien Verkehrs eine große Zahl von Bürgern sehr interessiert sei – in erster Linie solche Bürger im Süden und Osten des Landes, die in Russland arbeiten oder Verwandte haben.[117] Erst am 17. April 2014 verhängte die ukrainische Übergangsregierung verschärfte Einreisekontrollen für männliche russische Bürger im Alter zwischen 16 und 60 Jahren und für Krimbewohner.[118][119] Seit dem 18. März waren – explizit an die Menschen im Osten gerichtet[120] – Dezentralisierungsmaßnahmen eingeleitet worden, die in den folgenden Jahren mit Kompetenzerweiterungen auf kommunaler Ebene umgesetzt wurden.[121] Ebenfalls am 20. März forderte die Übergangsregierung die Mitglieder der sogenannten „Selbstverteidigungskräfte“ des Kiewer Unabhängigkeitsplatzes zur Abgabe aller illegalen Waffen bis zum Folgetag auf.[122] Nach Ausrufung der „Volksrepublik Donezk“ erklärte Übergangspräsident Turtschynow am 7. April, man werde eine Abspaltung nach dem Vorbild der Krim nicht zulassen. Gegen diejenigen, die zu den Waffen gegriffen hätten, werde nach einem Ultimatum, das bei Abgabe von Waffen Straffreiheit garantierte, durchgegriffen.[123] Am 11. April kündigte Turtschynow an, die ukrainische Armee werde gegen die Bewaffneten eingesetzt werden.
In der Nacht vom 10. auf den 11. April überschritt eine mit automatischen Waffen ausgerüstete Gruppe von rund 50 Mann von Rostow am Don kommend die russisch-ukrainische Grenze. Angeführt wurde die Gruppe von Igor Girkin, Kampfname „Strelkow“. Girkin war russischer Staatsbürger und war bis 2013 für den russischen Inlandsgeheimdienst FSB aktiv. Am 12. April besetzten die Männer die Polizeiwache in Slowjansk, rund 90 km nördlich von Donezk gelegen. Am folgenden Morgen gerieten ukrainische Spezialeinheiten in der Nähe der Stadt in einen Hinterhalt. Dabei wurde ein Offizier des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU getötet und drei weitere Mitglieder der Sicherheitskräfte verletzt. Dies war das erste Todesopfer in einer bewaffneten Auseinandersetzung im Osten der Ukraine und markierte nach der Methodik des Uppsala Conflict Data Programs das Überschreiten der Trennlinie zwischen Frieden und bewaffnetem Konflikt. Die Gruppe wurde finanziert und angewiesen vom Kreml-nahen russischen Oligarchen Konstantin Malofejew und dem Ministerpräsidenten der Autonomen Republik Krim Sergei Aksjonow, der nach russischem Recht ein russischer Staatsbeamter war.[124] In einem Interview für die russische rechtsextreme Wochenzeitung Sawtra (Morgiger Tag) erklärte Girkin im November 2014: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt. Wäre unsere [bewaffnete] Einheit nicht über die Grenze [aus Russland in die Ukraine] gekommen, wäre alles so ausgegangen wie in Charkiw und Odessa.“[125]
Am 14. April 2014 lief das Ultimatum mit Straffreiheit ab, das der ukrainische Innenminister Arsen Awakow dem Militäreinsatz vorausgehen ließ; im Brennpunkt solle die Stadt Slowjansk stehen. In Kiew wandte sich der Vorsitzende der Partei der Regionen, Alexander Jefremow, gegen den „Einsatz der Armee gegen Bürger“ und Julija Tymoschenko befürchtete das Eingreifen Russlands.[126]
Am 15. April 2014 begann der Einsatz der ukrainischen Armee. Der Flugplatz Kramatorsk wurde von Luftlandetruppen gestürmt.[127] Die Armee war jedoch für einen solchen Einsatz weder ausgebildet noch ausgerüstet. Am 16. April geriet der Sondereinsatz bei Kramatorsk ins Stocken, als sich dem vorrückenden Militär mehrfach Zivilisten in den Weg stellten.[128] Einzelne Besatzungen stellten sich auf die Seite der prorussischen Separatisten, da „sie nicht auf das eigene Volk schießen wollten“.[129][130] In einem Dorf bei Kramatorsk wurde eine Kolonne von Dorfbewohnern umringt und an der Weiterfahrt gehindert. Der Kommandeur der Truppe bot schließlich an, die Waffen zu entladen und in seine Kaserne zurückzukehren.[131] Beim Versuch, eine Kaserne der ukrainischen Armee in Mariupol zu stürmen, wurden nach Angaben der ukrainischen Übergangsregierung drei der etwa dreihundert Aufständischen von den Soldaten erschossen und 13 verwundet. 63 Personen seien in Gewahrsam genommen worden.[132][133]
Über Ostern, während eines ersten diplomatischen Lösungsversuchs, der in der gemeinsamen Genfer Erklärung vom 17. April der Außenminister der USA, Russlands, des Außenbeauftragten der EU und des Interimsaußenministers der Ukraine vereinbart worden war, wurde der Sondereinsatz unterbrochen. Separatisten in der Ostukraine lehnten eine direkte Räumung besetzter Gebäude ab. In Übereinstimmung mit dem russischen Außenministerium forderten sie zuerst die „Abgabe von Waffen der Milizen des Rechten Sektors“ in Kiew, außerdem ein Ende des Militäreinsatzes der ukrainischen Regierung sowie das Recht auf russische Staatsbürgerschaft.[134]
Am 22. April 2014 ordnete Übergangspräsident Turtschynow die Wiederaufnahme der „Antiterrormaßnahmen“ im Osten des Landes an. Es seien am selben Tag Leichen von „brutal gefolterten“ Menschen in der Nähe von Slowjansk gefunden worden, darunter ein von separatistischen Milizen entführtes Mitglied der Vaterlandspartei.[135] Zuvor wurden der 19-jährige Student Jurij Poprawka, der 25-jährige Jurij Djakowskyj und der Lokalpolitiker Wolodymyr Rybak, der versucht hatte, die ukrainische Flagge am Stadtrat von Horliwka wieder anzubringen, entführt. Ihre Leichen wurden später im Fluss Kasennyj Torez entdeckt und wiesen Folterspuren auf. Igor Girkin bekannte sich im Mai 2020 in einem Interview dazu, den Befehl gegeben zu haben, Poprawka und Djakowskyj erschießen zu lassen. Zudem erklärte er, an der Tötung des Lokalpolitikers Wolodymyr Rybak beteiligt gewesen zu sein.[136] Es handelte sich um eines der ersten Kriegsverbrechen während des Krieges.[137]
Am 23. April räumte Wjatscheslaw Ponomarjow ein, dass unter den regierungsfeindlichen Kämpfern auch Freiwillige aus dem Ausland seien. Er bestand darauf, dass es sich nicht um russische Spezialeinheiten, sondern um „Freunde“ und „Freiwillige“ handele.[138] Am 30. April räumte Übergangspräsident Turtschynow ein, die ukrainische Regierung habe die Kontrolle über Teile der Gebiete Donezk und Luhansk verloren; sie seien in den Händen moskautreuer Kämpfer. Die Ereignisse zeigten die „Machtlosigkeit und in einigen Fällen kriminelle Niedertracht“ der Polizei.[139][140]
Im Verlauf des 2. Mai 2014 starben in Odessa insgesamt 48 Personen, die meisten Todesopfer (mehr als 40) forderte ein am Abend durch Molotow-Cocktails entstandenes Feuer im zentralen Gewerkschaftshaus der Stadt.[141]
Am 3. Mai stürmten 5000 Krimtataren die Grenze zwischen dem ukrainischen Festland und der von Russland annektierten Krim-Halbinsel, obwohl russische Spezialkräfte versuchten, die Grenze abzusichern. Sie wollten damit ihrem Anführer Mustafa Abduldschemil Dschemilew die Einreise auf die Krim ermöglichen, die ihm von Russland untersagt worden war.[142][143][144]
Regionale Referenden im Mai 2014
Bereits unmittelbar nach der sog. Genfer Erklärung hatten prorussische Aktivisten ein Referendum für den 11. Mai 2014 angekündigt. In dieser Befragung sollte über eine nicht genauer definierte Eigenständigkeit einer „Volksrepublik Donezk“ abgestimmt werden.[145][146] Am 27. April 2014 riefen Aufständische in der nordöstlich angrenzenden Oblast Luhansk eine „Volksrepublik Lugansk“ aus, dort sollte ebenfalls am 11. Mai 2014 eine Befragung zur Eigenständigkeit durchgeführt werden. Russlands Präsident Putin forderte die Separatisten am 7. Mai 2014 auf, das geplante Referendum zu verschieben, um „die Bedingungen für einen Dialog zu schaffen“.[147]
Am 8. Mai erklärte die ukrainische Übergangsregierung ihre Bereitschaft zu einem nationalen Dialog, in dem ein „Konsens über Schlüsselfragen der ukrainischen Gesellschaft“ erzielt werden solle.[148]
Mit bewaffneten Regierungsgegnern wolle sie jedoch weiterhin nicht verhandeln.[149] Illegale Gruppen, die ihre Waffen niederlegten, Geiseln freigäben und besetzte Gebäude räumten, hätten keine strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten.[150]
Während der Befragung wurden widersprüchliche Konsequenzen einer Zustimmung formuliert: Roman Ljagin als Wahlleiter der „Zentralen Wahlkommission“ erklärte, der Status der Region bleibe nach dem Referendum unverändert, es gehe nur um den Ausdruck des Willens zur Selbstbestimmung.[151] Am 11. Mai 2014 wurden die Befragungen der prorussischen Aktivisten durchgeführt: Die Art der Durchführung und Auszählung der Stimmen „unter Waffen“ sowie die unglaublich schnell publizierten Resultate von knapp 90 (Donezk) und 96 Prozent (Luhansk) für eine Autonomie waren unglaubwürdig.[152] Sowohl Vorbereitung als auch Durchführung entsprachen noch weniger den internationalen Standards als schon das Referendum auf der Krim.[153]
Stahlarbeiter der Unternehmen von Rinat Achmetow marschierten am 15. Mai in Arbeitskleidung in fünf Städte. Man wolle keine politische Botschaft verbreiten, sondern die Ordnung wiederherstellen, wurden die Männer zitiert. Von prorussischen Paramilitärs und Zivilisten, die sie in den letzten Tagen und Wochen unterstützt hatten, wurde berichtet, dass sie verschwunden seien. Unter Einsatz ihrer Betriebsfahrzeuge begannen die Stahlarbeiter, Barrikaden zu demontieren, und gingen gemeinsam mit Polizisten auf Patrouillen.[154] Aus der Stadt Mariupol wurden die prorussischen Paramilitärs vertrieben.[155]
Am 20. Mai 2014 war der Außenminister der Ukraine auf Staatsbesuch in Berlin, wo man die Kiewer Position der Nichtteilnahme der Separatisten aus Donezk und Luhansk an den „Rundtisch-Gesprächen“ unterstützte, während Präsident Wladimir Putin erneut auf deren Teilnahme bestand.[156]
Die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk gründeten am 24. Mai 2014 eine Konföderation Neurussland, deren Flagge von einer Kriegsfahne der zaristischen Marine inspiriert war und offenbar nicht zufällig der Flagge der Konföderierten Staaten von Amerika ähnelte.[100]
Am 26. Mai, einen Tag nachdem Petro Poroschenko zum Präsidenten gewählt worden war, besetzten regierungsfeindliche Kräfte den Flughafen von Donezk. Der Präsident hatte seine erste Dienstreise in das halbwegs verschonte Donezk unternehmen wollen, um zu vermitteln.[157] Die Rebellenstellungen wurden von ukrainischen Kampfhubschraubern und Truppen angegriffen. Dabei wurden mindestens 50 Freischärler getötet, wobei 31 sterbliche Überreste in ihre Heimat Russland überführt wurden.[158] Der Journalist Christopher Miller besuchte am nächsten Tag den Zentralfriedhof, wo 33 Leichen angeliefert wurden. Fast alle hatten russische Pässe.[159]
Am 27. Mai verlautete aus dem Umfeld des Gouverneurs der Oblast Donezk, Serhij Taruta, dass mittlerweile nur noch 20 % der kämpfenden Aufständischen aus der Region selbst stammten, die restlichen 80 % der „Söldner“ seien „importiert“.[160] „Unsere klare Erwartung an Moskau ist, dass es seine Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die unterschiedlichen Separatisten-Gruppen nutzt und gemeinsam mit der neuen ukrainischen Führung das weitere Einsickern von Kämpfern und Waffen über die russisch-ukrainische Grenze unterbindet“, sagte dazu der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier am 30. Mai.[161] In den umkämpften Städten Slowjansk, Donezk oder Kramatorsk standen junge Ukrainer oft kampf- und kriegserfahrenen Freischärlern gegenüber.
Am 29. Mai wurde vor der Stadt Slowjansk von prorussischen Kräften ein Hubschrauber der ukrainischen Armee abgeschossen. Dabei wurden 14 ukrainische Soldaten getötet, darunter ein General.[162] Der ukrainische Verteidigungsminister kündigte am 30. Mai an, der Einsatz der Armee werde so lange weitergeführt werden, „bis das normale Leben wieder Einzug in der Region hält“.
Seit dem Beginn der Offensive des ukrainischen Militärs Mitte April waren zu diesem Zeitpunkt in der Region bereits mehr als 200 Menschen getötet worden.[163] Die Regierung in Kiew und das US-Außenministerium warfen Russland vor, die prorussischen Milizen mit weiteren Freischärlern und Waffen zu unterstützen, diesmal hatte Russland den Milizen Panzer und Raketenwerfer überlassen.
In der Nacht zum 14. Juni schossen prorussische Milizen eine Iljuschin Il-76 der ukrainischen Luftwaffe beim Landeanflug auf den Flughafen Luhansk mit einer Boden-Luft-Rakete vom Typ 9K38 Igla und großkalibrigen Maschinengewehren ab. Die neun Besatzungsmitglieder und 40 Fallschirmjäger kamen ums Leben.[164][165] Der ukrainische Verteidigungsminister Mychajlo Kowal erklärte am 14. Juni bei einem Treffen mit Poroschenko, in den vergangenen Tagen seien mehr als 250 Freischärler getötet worden. Ein „bedeutender Teil“ von ihnen seien Russen gewesen.[166]
Am 17. Juni sagte Andrij Parubij, Russland habe seine Truppen an der Grenze zur Ukraine wieder aufgestockt.[167] Der russische Verteidigungsminister Schoigu bestätigte den Aufmarsch von Truppen an der ukrainischen Grenze als „Sicherheitsmaßnahme“. Pläne für einen Einmarsch dementierte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, Wladimir Komojedow.[168]
Die diplomatischen Beziehungen zwischen Kiew und Moskau verschlechterten sich im Juni 2014 weiterhin.[169] Der ukrainische Außenminister Andrij Deschtschyzja erklärte, Russland verhindere nicht, dass Verstärkung für die Freischärler über die gemeinsame Grenze gelange. Sollte Russland weiterhin zur Verschärfung der Lage im Osten der Ukraine beitragen, müsse die Ukraine als „letztes Mittel“ die diplomatischen Beziehungen zu Russland abbrechen.[170] Während der tatsächliche Einfluss Moskaus auf die Separatisten unbekannt bleibt, deuten Indizien auf eine Beteiligung „irgendwo zwischen bewusstem Wegsehen und aktiver Unterstützung“, Arsen Awakow zeigte online das Bordbuch eines Schützenpanzers, der am 31. Mai aus einem russischen Waffenplatz ausgebucht worden sein soll,[35] schrieb die NZZ. So seien „Lastwagen mit Geschützen, gepanzerte Truppentransporter oder gar Kampfpanzer“ nicht Dinge, „die einem Grenzwächter einfach so entgehen, wenn er gerade kurz nicht aufgepasst hat“. In der Ukraine wurden Provokationen an der Grenze befürchtet, die zu einer offenen Intervention aus Russland führen könnten.[171]
Bei Kämpfen zwischen Separatisten und Regierungstruppen sowie bei Angriffen auf öffentliche Einrichtungen waren von Mitte April bis Mitte Juni 2014 mehr als 300 Menschen ums Leben gekommen, wobei die weitaus meisten Zivilisten waren.[172]
Waffenruhe der Regierung Ende Juni 2014
Ab 21. Juni wurde vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko einseitig ein einwöchiger Waffenstillstand ausgerufen, der zunächst von den Separatisten nicht angenommen, aber vom russischen Präsidenten – wie schon früher – unter dem Vorbehalt begrüßt wurde, dass die ukrainische Regierung direkte Gespräche mit den Separatisten führen solle.[173] Während der ganzen zehntägigen Waffenruhe wurde das Hauptanliegen der Ukraine, eine bessere Kontrolle der Grenze durch Russland, von Russland zwar als Möglichkeit mit internationalen Beobachtern „erörtert“,[174] wurde aber bis auf nur gerade die Beobachtung von 2 Zonen von je einigen hundert Metern Breite, dies erst einen Monat später, nicht umgesetzt.[175]
Am 22. Juni bot Poroschenko in einer Fernsehansprache „gemäßigten Aufständischen“ Gespräche an. Mit militanten prorussischen Gruppen, die „Terrorakte, Morde oder Folter“ begangen hätten, sei hingegen kein Dialog möglich, auch stehe die territoriale Einheit der Ukraine nicht zur Disposition. Die prorussischen Separatisten erklärten, nur unter Vermittlung Russlands mit der Regierung in Kiew sprechen zu wollen.[176]
Am 23. Juni verkündeten im Raum Donezk auch die prorussischen Separatisten eine Waffenruhe. Als Reaktion auf Poroschenkos Gesprächsangebot werde das Feuer bis zum 27. Juni eingestellt. Laut Separatistenführer Alexander Borodai könnten während der Feuerpause Verhandlungen über eine Friedensregelung beginnen.[177] Unmittelbar vorausgegangen war ein Treffen von Separatistenführern mit der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini als damaliger Vertreterin der OSZE und dem ukrainischen Ex-Präsidenten Leonid Kutschma als Abgesandtem Poroschenkos.[178] Am 24. Juni wurde ein Hubschrauber der ukrainischen Regierung abgeschossen.[179]
Mehrere Vertreter der Separatisten machten auch noch im Laufe des folgenden Wochenendes den „Abzug der ukrainischen Truppen aus den umkämpften Gebieten“ zur Bedingung für Gespräche.[180]
Am 24. Juni forderte Putin den russischen Nationalitätsrat auf, die ihm vor Monaten gegebene Vollmacht, russisches Militär einzusetzen, wieder aufzuheben.[181][182]
Die Reaktionen der Bewaffneten auf die Waffenruhe waren widersprüchlich, manche Gruppen hatten der Verlängerung des Waffenstillstands zugestimmt, andere Rebellengruppen setzten die Kämpfe offenbar fort. So eroberten Aufständische am 27. Juni eine Munitionsfabrik bei Donezk.[174] Der Waffenstillstand wurde seitens der Separatisten einhundert Mal gebrochen und 27 ukrainische Soldaten verloren dabei ihr Leben.[183][184] Trotz der Zwischenfälle gab Separatistenführer Borodai bekannt, die Verpflichtungen gegenüber der Ukraine erfüllt zu haben, nachdem die beiden Gruppen von OSZE-Beobachtern freigelassen worden waren, die seine Leute vor einiger Zeit verschleppt hatten.[185] Die ebenfalls geforderte Übergabe mehrerer Grenzposten an der Grenze zu Russland durch die Rebellen an ukrainische Verbände erfolgte jedoch nicht.[174]
Abbruch der Waffenruhe und ukrainische Rückeroberung von Slowjansk und Vormarsch auf Donezk und Luhansk
In einer Telefonkonferenz mit den Präsidenten Russlands, Frankreichs und der deutschen Bundeskanzlerin am 29. Juni 2014 beklagte der ukrainische Präsident Poroschenko, dass Russland noch immer Kämpfer und Kriegsgerät über die Grenze in die Ostukraine schleuse und sich die Kämpfer der Separatisten nicht an den Waffenstillstand hielten. Am gleichen Tag demonstrierten in Kiew Angehörige der freiwilligen Kampfverbände gegen eine Verlängerung der von Präsident Poroschenko verfügten Waffenruhe. Sie forderten ihn auf, das Kriegsrecht zu verhängen und die ausgesetzte Antiterroroperation gegen prorussische Bewaffnete in der Ostukraine wieder aufzunehmen.[186][183] Am Folgetag verkündete der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, dass man die ausgelaufene Waffenruhe in der Ostukraine nicht verlängert habe, sondern die „Antiterroroperation der Armee gegen die Separatisten“ fortsetze.[187]
Ab dem 1. Juli beschossen die ukrainischen Streitkräfte wieder Stellungen von Separatisten im Osten der Ukraine. Auch die Luftwaffe kam zum Einsatz, wobei regierungsfeindliche Kräfte den Abschuss zweier Flugzeuge meldeten.[188]
Am 3. Juli bestätigte das ukrainische Parlament Walerij Heletej als neuen Verteidigungsminister.[189] Am selben Tag umstellten Angehörige des Bataillons Donbass in Kiew das ukrainische Parlament. Als Begründung wurde angegeben, man befürchte terroristische Anschläge von prorussischen Gruppen.[190] Währenddessen lieferte sich die Armee mit den Separatisten einen Artillerie-Schusswechsel bei Slowjansk.[191]
Am 5. Juli 2014 hatte die ukrainische Armee die Stadt Slowjansk von den Separatisten zurückerobert. Diese konzentrierten sich darauf, Donezk zu halten, und hatten sich auch aus Kramatorsk zurückgezogen. Bis zum 7. Juli 2014 nahm die ukrainische Armee weitere Ortschaften ein, darunter die größeren Städte Druschkiwka, Bachmut und Kostjantyniwka.[192][193] Nach diesem Vormarsch waren Teile der Truppen gebunden, weil sie verminte Gebäude und Straßen in diesen Städten säubern mussten.[194] 700 Minen an Häusern, Brücken und Straßen seien alleine bis zum 7. Juli entschärft worden.[195] Zwei Eisenbahnbrücken und eine Straßenbrücke wurden von den Separatisten zerstört.[196] RIA zitiert zudem einen Oberst a. D., der sagt, es käme zu einer Wende zu Gunsten Kiews, wenn es den ukrainischen Regierungskräften gelingt, die Kontrolle über die Grenzübergänge in den Gebieten Donezk und Luhansk zu übernehmen. (Damit könnte der implizit erwähnte Nachschub der Separatisten unterbunden werden.)
Am 14. Juli ging ein ukrainisches Transportflugzeug An-26 südöstlich von Luhansk verloren, zwei Besatzungsmitglieder wurden getötet, 2 wurden von Separatisten festgehalten, 4 weitere entkamen.[197][198] Der ukrainische Verteidigungsminister Heletej machte indirekt Russland für den Abschuss mitverantwortlich. Die Maschine sei in 6500 Meter Höhe von einer Rakete getroffen worden und die Separatisten besäßen keine derart leistungsfähigen Waffen, sodass die Rakete wahrscheinlich von Territorium Russlands aus abgefeuert worden sei[199] oder ein russisches Jagdflugzeug die ukrainische Transportmaschine abgeschossen habe. Separatisten übernahmen die Verantwortung für den Abschuss.[200][201]
In der zweiten Julihälfte gelangten die Großstadt Sjewjerodonezk, die Stadt Rubischne und der Eisenbahnknoten Popasna in der Oblast Luhansk sowie die Stadt Torezk in der Oblast Donezk unter Kontrolle der ukrainischen Regierungstruppen, während sich die Separatisten in Richtung Donezk zurückzogen und dort Stellungen bei den Städten Awdijiwka und Horliwka ausbauten.[202][203]
Abschuss des Fluges MH17 und weiterer Kriegsverlauf
Am 17. Juli 2014 wurde eine Boeing 777, unterwegs als Malaysia-Airlines-Flug 17, mit 298 Menschen an Bord östlich von Donezk abgeschossen.[204] Schon gleichentags verwiesen Medien weltweit auf Widersprüche, in die die Rebellen sich vor ihrem Dementi verstrickt hätten: Separatistenführer Strelkov habe über den Abschuss eines militärischen Frachtflugzeugs in dem russischen Online-Netzwerk vk.com gepostet; dieser Eintrag wurde wenig später gelöscht.[205] Ein im Januar 2015 veröffentlichter Recherchebericht eines Teams aus Experten des Algemeen Dagblad aus Rotterdam, der Netzwerkspezialisten Correctiv sowie Mitarbeitern des Spiegel kam zu der Feststellung, dass der Abschuss von MH17 weder durch die Kiewer Regierungstruppen noch durch die Separatisten, sondern durch das russische Militär selbst erfolgte von einem Platz aus, der durch die Separatisten kontrolliert wurde. Der Abschuss erfolgte per Boden-Luft-Rakete durch das Buk-Flugabwehrraketensystem mit der Kennung 3×2 – das Zeichen x steht hier für eine vom Militär unkenntlich gemachte Zahl – der 53. Flugabwehrbrigade aus Kursk.[206] Der offizielle Untersuchungsbericht bestätigte den Abschuss durch das Buk-System, während für die Strafuntersuchung Australien, Belgien, Malaysia, die Niederlande und die Ukraine im September 2017 eine weitere Zusammenarbeit zur Ermittlung der Verantwortlichen vereinbarten.
Am 22. Juli gaben Vertreter der USA bekannt, dass das russische Rostow am Don, ihren Erkenntnissen nach, die logistische Drehscheibe für die Unterstützung der Separatisten durch Russland sei. Panzer, Raketenwerfer und andere Waffen seien auch noch nach dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges in die Ukraine gesandt worden.[207]
Um ihre Vorwürfe einer Beteiligung Russlands an den Kämpfen zu untermauern, veröffentlichten die USA am 27. Juli unkommentiert kommerziell erhältliche Luftaufnahmen des Anbieters DigitalGlobe, die Selbstfahrlafetten und Brandspuren von Mehrfachraketenwerfern auf der russischen Seite der ukrainisch-russischen Grenze zeigen sollten. Direkt auf den Bildern wurden Einschlagkrater in der Ukraine bei ukrainischen Truppen den Abschussstellungen in Russland zugeordnet. Die Interpretation der Bilder wurde den Medien überlassen.[208] Die Aussagen waren dementsprechend unterschiedlich; US-Medien sprachen von „russischer Artillerie“, andere Medien nur von „russischen Kräften“. Gemäß dem vom Spiegel befragten Experten ist die wichtigste Information, „dass hier keine Amateure am Werk sind. Um solche Artilleriemanöver und Raketenangriffe zu fahren, muss man ausgebildet sein.(…) Wer sie ausgebildet hat, verraten die Aufnahmen nicht“.[209] Bellingcat veröffentlichte im Dezember 2016 eine ausführliche Studie zu 149 Stellungen, von denen „ohne Zweifel“ in die Ukraine geschossen worden war. Weitere 130 Stellungen wurden dabei trotz ihrer Sichtbarkeit auf den kommerziell erhältlichen Satellitenbildern nicht in die Kategorie der gesicherten Beschüsse aufgenommen, ebenso wenig Positionen, die mehr als 2 km von der Grenze entfernt waren.[210]
Der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine gab am 23. Juli 2014 den Verlust von zwei Erdkampfflugzeugen vom Typ Suchoi Su-25 bekannt. Die beiden Maschinen sollen mit Flugabwehrraketen von russischem Territorium aus in einer Höhe von 5200 Metern abgeschossen worden sein. Die Piloten konnten sich mit dem Schleudersitz retten.[211] Weiter soll laut der ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN ein Raketenwerfer des Typs Tornado mit anderen schweren Waffen die Grenze überquert haben, also ein System, das sonst nur in Russland existiert.[212] Es wurden innerhalb weniger Tage zudem mehrere russische Drohnen gesichtet oder abgeschossen, die der Feuerleitung der schweren Artillerie der Separatisten dienen.
Wöchentlich wurden im Juli im Donbass mehrere Brücken gesprengt[213] und private Anlagen oder Infrastruktur zerstört.[214] Es konnten auch mehrere Terror-Anschläge auf Brücken außerhalb umkämpfter Gebiete verhindert werden. Das Eisenbahnunternehmen der Ukraine beziffert die Schäden aus Terrorakten auf dreihundert Millionen Dollar.[215]
Am 30. Juli 2014 rief der ukrainische Präsident Poroschenko die Separatisten zu Gesprächen in der Hauptstadt von Belarus auf, die dort unter Vermittlung des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenka stattfänden. An diesen Gesprächen solle außer dem früheren Präsidenten Leonid Kutschma und Vertretern der OSZE auch der russische Botschafter in Kiew teilnehmen: Die Separatisten gaben keine eindeutige Antwort auf dieses Angebot[216]
Am 31. Juli 2014 gab die ukrainische Regierung an, die Rebellen aus Awdijiwka vertrieben zu haben.[217]
Westliche Beobachter schätzten weiterhin, dass Russland die Zahl seiner Bodentruppen an der ukrainischen Grenze auf 17 Bataillone mit bis zu 45.000 Soldaten aufgestockt habe. Vereinzelte Sichtungen von Fahrzeugen Russlands mit aufgemalten Friedenstruppensymbolen in dem Gebiet wurden als Vorbereitung einer möglichen Intervention unter dem Deckmantel einer Friedensmission interpretiert. Ukrainische Truppen drängten die Separatistenverbände derweil nach ukrainischen Regierungsangaben weiter zurück und schnitten die Stadt Donezk vom übrigen Gebiet der Separatisten ab, nicht jedoch vor der löchrigen Grenze zu Russland. Nach wie vor schlossen sich Freiwillige aus Russland den Separatisten als Söldner an und wurden schwere Waffen aus Russland geliefert.[218][219]
Am 10. August wurde gemeldet, dass die ukrainische Armee Donezk eingekesselt habe.[220] Am 11. August warnte die deutsche Bundesregierung Russland vor „eigenmächtigen Ukraine-Hilfen“[221] und EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso warnte Wladimir Putin vor einem militärischen Eingreifen in der Ukraine.[222]
Russischer „Hilfskonvoi“ August 2014 sowie Grenzübertritt russischer Militärtechnik
Am 12. August 2014 brach von der russischen Militärbasis Alabino im Südwesten Moskaus[223] ein russischer Hilfskonvoi mit 280 Lastwagen, angeblich zwecks Transports von humanitären Hilfsgütern, zur Ostukraine auf und sollte das Kriegsgebiet laut den ursprünglichen Plänen über ukrainisches Gebiet erreichen.[224][225] Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) war bereit, „die Fracht zu übernehmen und zu verteilen“,[226] und forderte Sicherheitsgarantien sowie Informationen hinsichtlich der Fracht.[227] Viele Lastwagen waren kaum beladen oder sogar leer; die russischen Behörden erklärten, dass dies dem maximalen Ladegewicht und der Notwendigkeit von Reservefahrzeugen geschuldet sei – eine für Russen „lächerliche Begründung“ für einen als Arbeitstier sowie zwölfmaligen Rallye-Dakar– und achtmaligen Africa-Eco-Race-Gewinner bekannten Lastwagentyp.[228][229] Der Großteil des Konvois überquerte die Grenze unkontrolliert: Am 22. August rückten Teile des Konvois ohne Zustimmung der Ukraine auf ukrainisches Gebiet vor. Das Rote Kreuz hatte die von der Ukraine verlangte Begleitung des Konvois durch seine Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen abgelehnt.[230] Der staatliche Nachrichtensender Rossija 24 sendete am 26. August 2014 eine TV-Reportage aus der Maschinenbaufabrik Luhansk. Dort war davon die Rede, eine Maschinenfabrik habe ihre Produktion von Luhansk nach Russland verlegt.[231] Tatsächlich waren die Lastwagen nach dem Entladen der wenigen Hilfsgüter auf Parkplätzen vor Maschinenfabriken gesammelt worden. Journalisten wurden nicht mehr in die Nähe gelassen. Nach Beobachtung lokaler Journalisten verließen die Lastwagen die Maschinenfabriken beladen. Ukrainische Fabriken produzierten wichtige Teile für russische Panzer, Flugzeuge und Schiffsantriebe, schon im Dezember 2013 wurde die Wichtigkeit der ukrainischen Lieferungen betont und am 1. Januar 2014 trat eine russische Verordnung in Kraft, welche die Abhängigkeit vom Ausland reduzieren helfen sollte.[228][232][233][234] Währenddessen hatte die Regierung in Kiew am 14. August einen eigenen Hilfskonvoi von 75 Fahrzeugen losgeschickt.[235]
Am 15. August geriet nach ukrainischer Darstellung eine russische Militärkolonne auf ukrainischem Gebiet unter Artilleriefeuer, die Meldung wurde zwar kontrovers aufgenommen,[236] jedoch sollen russische Truppen nach Angaben russischer Menschenrechtler beim verdeckten Munitionstransport für Separatisten mehr als 100 Soldaten verloren haben.[237] Am 14. August 2014 überschritten unter den Augen britischer Journalisten 23 Militärfahrzeuge die Grenze der Ukraine.[238] In einer Videobotschaft am 16. August 2014 verkündete Separatistenführer Alexander Sachartschenko, man sei im Begriff, 150 gepanzerte Fahrzeuge und 30 Panzer zu erhalten. Sachartschenko gab wiederholt zu, dass 1000 russische Freiwillige in den Reihen der Separatisten kämpfen.[239] Am 17. August wurde bekannt, dass ein weiteres Militärflugzeug der ukrainischen Armee von den Separatisten abgeschossen worden war, und erneut wurde behauptet, dass diese Verstärkung aus Russland erhielten.[240] Der Sprecher des russischen Präsidenten kommentierte die Aussagen des Separatistenführers vom Vortag und bestritt zumindest die Lieferung von Militärtechnik.[241]
Ukrainische Stellen meldeten den Verlust eines weiteren Hubschraubers und die Eroberung von zwei Schützenpanzern der 76. Luftlandedivision Russlands bei Luhansk. Russische Medien dementierten die Meldung umgehend und gaben an, die bei den Fahrzeugen gefundenen russischen Unterlagen seien seit fünf Jahren veraltet,[242] jedoch konnte ein Journalist im Heimatort der Einheit zwei neue Gräber fotografieren,[243] dazu wurde in Woronesch die Beerdigung eines Zugführers der Einheit gemeldet.[244]
Die NATO warf der Russischen Föderation erstmals öffentlich vor, Artillerieeinheiten über die Grenze in die Ukraine geschickt und sie gegen ukrainische Truppen eingesetzt zu haben.[245] Als die russische Moderatorin einer News-Sendung einen Militär bat, die Anwesenheit russischer Truppen in der Ukraine glaubwürdig zu dementieren, erhielt sie zur Antwort, sie solle diese Frage nicht stellen, weil die Antwort eine Lüge wäre.[246]
Intervention regulärer russischer Streitkräfte Mitte August 2014
Bis Anfang August waren die von den Separatisten gehaltenen Gebiete kontinuierlich zusammengeschrumpft. Die Regierungskräfte schienen kurz zuvor die Kontrolle über die Grenze wiederzuerlangen und einen Keil zwischen die beiden Volksrepubliken DNR und LNR zu treiben; am 20. August erlangten sie die Kontrolle über Ilowajsk.[247][248] Der neu ernannte Ministerpräsident der DNR Alexander Sachartschenko erklärte am 15. August, dass substanzielle Verstärkung aus Russland eingetroffen sei, bestehend aus 1.200 in Russland ausgebildeten Kombattanten, 150 gepanzerten Fahrzeugen und 30 Panzern.[249] Am 24. August erfolgte ein Überraschungsangriff von 4000 regulären russischen Armeeeinheiten mit T-72-Panzern der 6. Panzerbrigade und Fallschirmjägern auf Ilowajsk.[248] Dabei kam das Modell T-72B3 zum Einsatz, das von Russland, aber nicht von der Ukraine verwendet wurde.[250] Am 26. August wurden zehn festgenommene russische Fallschirmjäger im ukrainischen Fernsehen präsentiert. Die russische Seite behauptete, die in 20 Kilometer Entfernung von der russischen Grenze in Gefangenschaft geratenen Soldaten hätten sich verlaufen.[251] Einen Tag später wurde die Stadt Nowoasowsk an der Küste des Asowschen Meeres eingenommen. Die Separatisten und russischen Nationalisten verwendeten den Begriff „Nordwind“ für die verdeckte Intervention Russlands im Donbass.[249]
Reguläre russische Soldaten kämpften laut Separatistenführer Alexander Sachartschenko „freiwillig“ für die Separatisten in der Ukraine.[252] Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial hält die freiwillige Teilnahme von Soldaten „im Urlaub“ ohne Genehmigung durch die militärische Führung für völlig unglaubwürdig.[253] Auch die NATO gab am 28. August bekannt, dass russische Truppen die Grenze zur Ukraine überquert hätten. Artillerie und andere Fahrzeuge der russischen Streitkräfte hätten nach Satellitenaufnahmen die Grenze überschritten und etwa 1000 Soldaten rückten bei Mariupol vor. Die Truppen hätten ihre Identität verschleiert und trügen weder Hoheitsabzeichen noch andere Identifikationsmerkmale an ihren Uniformen.[254]
Der Präsident Polens Bronisław Komorowski sprach bereits von der Durchführung einer Invasion Russlands in der Ukraine.[255] US-Präsident Obama gab sich überzeugt, dass russische Truppen das Territorium der Ukraine mehrfach vorsätzlich verletzt hätten, und zwar um die sich abzeichnende militärische Niederlage der Aufständischen zu verhindern.[256][257]
Die Presse berichtete am gleichen Tag von der Einkesselung von rund 7000 ukrainischen Soldaten im südöstlich von Donezk gelegenen Ilowajsk[258] bei Charzysk. In Gesprächen mit Bewohnern von Ilowajsk sprachen diese davon, dass es russische Soldaten waren, die als „Friedenstruppen“ mit den Ukrainern kämpften.[259] Nach ukrainischen Angaben kamen 366 unbewaffnete ukrainische Soldaten beim mit Russland vereinbarten „sicheren Abzug“ ums Leben.[260]
Am 30. August 2014 meldete das ukrainische Militär, dass russische Panzer das Dorf Nowoswitliwka stark unter Beschuss nähmen und praktisch „jedes Haus“ zerstörten.[261] Am 1. September 2014 meldeten ukrainische Truppen am Flughafen Luhansk einen Angriff eines russischen Panzerbataillons. Nach schweren Verlusten zogen sich die ukrainischen Truppen vom Flughafen zurück. Dafür machte die Ukraine Russland verantwortlich.[262] Am 3. September fuhr ein großer Konvoi der russischen Truppen von Ilowajsk aus wieder zurück über die Grenze nach Russland.[263][264] Die OSZE-Beobachtermission berichtete am 4. September über vermehrte militärische Aktivitäten in und um Mariupol, über schwere Kämpfe in Schyrokyne (24 km östlich von Mariupol) und Besimenne (34 km östlich von Mariupol) zwischen der ukrainischen Armee und irregulären Einheiten.[265]
Protokolle von Minsk und vorläufige Stabilisierung des Konfliktes
Unterzeichnung des Protokolls von Minsk
Bereits im Mai 2014 bezeichnete Deutschland die Schließung der russischen Grenze als wichtigste Maßnahme[161] – es wurde zu einem Kriterium des am 5. September 2014 unterzeichneten Protokolls von Minsk („Minsk I“), welches das Einfrieren der Front unter Aufsicht der OSZE vorsah, die Überwachung der russischen Grenze durch die OSZE sowie ein Rückzug schwerer Waffen. Die Überwachung der russischen Grenze war aber selbst im Dezember 2014 noch nicht erfüllt worden, obschon die Chefunterhändlerin der OSZE dies eine Grundvoraussetzung nannte.[266] Russland erklärte gar, eine „Bewachung der russisch-ukrainischen Grenze durch internationale Beobachter (sei) nicht möglich.“[267]
Der Waffenstillstand blieb von Anfang an brüchig – weiterhin starben innerhalb eines Monats über 300 Menschen, die ersten Zivilisten keine drei Tage nach dem Abkommen.[268][269] Ein russischer „Hilfskonvoi“ mit 220 Lastwagen querte die Grenze im September völlig unkontrolliert,[270] womöglich mit Waffen,[271] bis am 21. Dezember 2014 waren zehn Konvois angekommen, alle größtenteils unkontrolliert.[272][273]
Ende September 2014 kam es trotz Waffenstillstands zu einer zweiten Schlacht um das weitläufige Gelände um den Flughafen Donezk. Sämtliche Anlagen des Flughafens wurden innerhalb von drei Monaten durch Artillerie- und Panzerbeschuss nahezu vollständig zerstört.
Der Donezker Separatistenführer Sachartschenko erklärte im Oktober, seine Verbände hätten seit dem Abkommen über den Waffenstillstand 38 Ortschaften erobert.[274] Während der russische Präsident die Grenzen der Ukraine „unterstütze“,[275] wurden weitere Panzer aus Russland in die Ukraine verschoben.[276] Pro Tag melden ukrainische Stellen bis 40 Feuerüberfälle durch feindliche Truppen.
In verschiedenen Verlautbarungen der Separatisten wurden laut RIA Novosti Gebietsansprüche ausgedrückt, wobei explizit von „befreien“ und von Mariupol die Rede war und der Satz fiel: „Vorgestern haben wir damit begonnen, das Feuer zu erwidern“.[277][278] Putin sagte, die Ukraine müsse sich nicht „an das eine oder andere Dorf klammern“, wenn sie die Einheit des Landes erhalten wolle.[279]
Die OSZE meldete im November, die Milizen hätten seit Beginn der Waffenruhe neue Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht, und warnte vor der Gefahr einer Eskalation des Konflikts.[280][281] Kämpfe dauerten an um das Elektrizitätswerk von Luhansk, um die Verbindungsstraße von Luhansk nach Donezk bei Debalzewe sowie um den Flughafen von Donezk. Der Vize-Generalsekretär der UNO erklärte, es gäbe keine Zweifel, dass die russisch-ukrainische Grenze durchlässig sei und dies den Friedensprozess erschwere.[282]
Am 4. Dezember 2014 hielt Wladimir Putin – wie alljährlich – im Kreml seine Rede zur Lage der Nation, wobei er von der Wiedergewinnung der Krim als einer „heiligen Leistung“ sprach. Gleichzeitig drohte er dem Westen mit der Stärke seiner Armee.[283][284][285]
Wahlen in der Ukraine 2014
Bei den ukrainischen Parlamentswahlen vom 27. Oktober errangen proeuropäische Parteien eine Mehrheit.[286] Die Wahl konnte in den Separatistengebieten nicht stattfinden. Der Friedensplan hatte dort Kommunalwahlen nach ukrainischem Recht vorgesehen, als Datum dafür war Mitte September der 7. Dezember bekannt gegeben worden.[287][288] Trotzdem fanden am 2. November entgegen der Bestrebungen der OSZE-Kontaktgruppe in den abtrünnigen Gebieten in Donezk und Lugansk gemäß Formulierung der OSZE „sogenannte Wahlen“ statt. Die OSZE schloss eine Beobachtung des Vorganges aus, da er den Friedensplan gefährde. Diese Meinung teilte UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon, dessen Ansprache und Erklärungen das Wort „Wahlen“ konsequent in Anführungszeichen stellten.[289][290][291] Dabei konnten gemäß Angaben des Vorsitzenden der zentralen Wahlkommission in Donezk auch ausländische Freischärler mitstimmen.[292][293] Separatistenführer Sachartschenko wurde zum Sieger in der so genannten „Volksrepublik Donezk“ erklärt, Igor Plotnizki in der „Volksrepublik Lugansk“.[294] Wer sich beteiligte, konnte nach Abgabe des Stimmzettels zu symbolischen Preisen Lebensmittel nach Hause nehmen. Die Tagesschau kommentierte: „Sich das Wählen bezahlen lassen zu müssen, ist schlimm, es sich mit Lebensmitteln bezahlen lassen zu müssen, ist tragisch.“[295][296] Nur Russland erkannte die „Wahl“ an.[297] Als Reaktion auf die umstrittenen Wahlen kündigte der ukrainische Präsident Poroschenko Anfang November 2014 an, nach der Verletzung des Abkommens von Minsk werde die Regierung in Kiew nun ihren Handlungsplan „überarbeiten“. Die in der Ostukraine abgehaltenen Wahlen hätten „den gesamten Friedensprozess in Gefahr gebracht und die Lage im Donbass erheblich verschlechtert.“[298]
Im Dezember verkündete die Regierung in Kiew für die Ostukraine einseitig eine befristete Feuerpause, der sich die Aufständischen im Donbass anschlossen. Die „formlos“ zustande gekommene beidseitige Waffenruhe brachte, im Gegensatz zu dem vor Monaten in Minsk ausgehandelten Waffenstillstand, der seit dem 5. September in Kraft war, für eine gewisse Zeit eine Beruhigung, bevor im Januar wieder heftige Gefechte unter anderem am Flughafen von Donezk ausbrachen.[299]
Unterzeichnung des Abkommens von Minsk II
Anfang 2015 kam es erneut zu schweren Kämpfen um den Flughafen Donezk, der Hafenstadt Mariupol und dem Bahnknotenpunkt Debalzewe. Aufgrund dessen trafen sich am 11. Februar 2015 die Führer des Normandie-Formats zur Aushandlung eines erneuten Waffenstillstandes. Am 12. Februar 2015 wurde in Minsk mit der Unterzeichnung eines neuen Waffenstillstands („Minsk II“) ein erneuter Versuch einer Deeskalation und Befriedung unternommen.
Bereits am 17. Februar 2015 wurde der Waffenstillstand durch die Eroberung von Debalzewe durch die von russischen Truppen[300] und den von Russland unterstützten Separatisten gebrochen.[301] Der im Abkommen erneut vereinbarte Rückzug schwerer Waffen und deren Verbleib konnte von der OSZE auf ukrainischer Seite durch wiederholte Besuche dokumentiert werden. Zum Verbleib der schweren Waffen auf Seiten der Milizen verfügte die OSZE bis Mitte März 2015 über keine Informationen.[43][302] Der Waffenstillstand wurde erst nach einer neuen Vereinbarung ab dem 1. September 2015 größtenteils eingehalten, weiterhin beobachtete die OSZE jedoch Kampfpanzer in den besetzten Gebieten, die nicht den Rückzugsgebieten entsprachen, wobei die Drohnen der OSZE immer wieder und anhaltend bis zum Kontrollverlust elektronisch gestört wurden.[303][304]
Nach Minsk II
Auch nach der Einnahme von Debalzwere durch russische Truppen und Separatisten kam es weiterhin zu Verletzungen des Waffenstillstandes, insbesondere um Stanyzja Luhanska nordöstlich Luhansk, dazu im Gebiete um den Flughafen von Donezk und Pisky sowie die Umgebung von Schyrokyne östlich von Mariupol.[306]
Im April 2015 kam es nach einem Monat relativer Ruhe erneut zu Besorgnis erregenden Kämpfen, sodass am 13. April in Berlin die vier Außenminister Laurent Fabius (Frankreich), Pawlo Klimkin (Ukraine), Frank-Walter Steinmeier (Deutschland) und Sergei Lawrow (Russland) zusammenkamen, um den Abzug schwerer Waffen „endgültig abzuschließen“. Zudem sprachen sie sich in ihrer gemeinsamen Abschlusserklärung für eine Stärkung der internationalen Beobachtermission im Krisengebiet aus.[307]
Am 3. Juni 2015 eskalierte die Lage in und um die Stadt Marjinka erneut durch die Bewegung schwerer Waffen der regierungsfeindlichen Truppen[308][309] und den Einsatz von Artillerie- und Mehrfachraketenwerfer aus der Stadt Donezk heraus; artilleristische Gegenschläge der Ukraine beschädigten zivile Einrichtungen in der Stadt und ließen einen Teil des Stromnetzes der Umgebung ausfallen.[310][311] Im weiteren Verlauf des Juni 2015 nahmen die Kämpfe an der gesamten Frontlinie zu.[312][313][314] Am 23. Juni 2015 tagte das Normandie-Format in Paris. In einer Erklärung wurde festgestellt, dass aktuell keine der Konfliktparteien die Vereinbarungen von Minsk II erfülle.[315] Bis Anfang Juli 2015 waren seit dem Inkrafttreten von Minsk II weitere 1147 Menschen getötet worden.[316]
Am 21. Juli 2015 bekannten sich die Konfliktparteien in der Ukraine-Kontaktgruppe in Minsk erneut zu dem im Februar vereinbarten Abzug schwerer Waffen, darunter Panzer und Artillerie, bis zu 30 km von der Frontlinie.[317] Trotz der vereinbarten Waffenruhe vom 21. Juli 2015 kam es Ende Juli weiter zu Kämpfen.[318] Am 31. Juli 2015 entschied das ukrainische Verfassungsgericht, dass mehr Autonomie für die Oblaste Donezk und Luhansk, die zu dem im Februar 2015 ausgehandelten Friedensplan von Minsk II gehört, nicht gegen die Verfassung der Ukraine verstoße.[319]
Für die erste Hälfte des Monats August 2015 meldete die ukrainische Armee 1400 Angriffe, die gegen das Waffenstillstandsabkommen verstießen. So waren alleine am 15. August 175 solcher Angriffe erfolgt.[320][321] Von März 2015 bis August 2015 starben trotz Waffenstillstand über 800 Personen.[322][323] Obschon am 27. August 2015 durch die Kontaktgruppe ein erneuter Waffenstillstand zum Schulbeginn vereinbart wurde, wurde eine Offensive befürchtet, die in der staatlichen russischen Presse auch noch nach der Vereinbarung in blumigen Worten ausgemalt wurde.[324] In anderen Meldungen wurden im Vorfeld des Schulbeginns am 1. September 2015 gar Provokationen mit Beschuss von Schulen befürchtet.[325] Die Waffenruhe wurde jedoch weitgehend eingehalten, was oft als Überraschung kommentiert wurde. Ministerpräsident Jazenjuk erinnerte trotzdem daran, dass „ein Waffenstillstand nicht mehr sei als eine Vorbedingung für den Minsker Stufenplan“ mit dem Abzug der Freischärler und nach ukrainischen Gesetzen durchgeführten Wahlen in den besetzten Gebieten.[326] Analysten brachten die Veränderung mit dem Bedürfnis Russlands in Zusammenhang, aus der internationalen Isolation auszubrechen, was mit anhaltenden Kampfmeldungen aus der Ukraine nicht zu schaffen war.[327] Der „Vorsitzende des Volkssowjets“ Andrej Purgin, der als Falke galt, war während dieser Zeit in den besetzten Gebieten entmachtet worden.[328] In der Folge nahmen die Kämpfe jedoch im Laufe des Herbstes 2015 wieder zu. Ein erneuter Versuch eines Waffenstillstandes am 22. Dezember 2015 war innerhalb eines Tages gescheitert.[329]
2016
Im Jahr 2016 hoffte Russland auf eine Anerkennung seiner Gebietsansprüche in der Ukraine im Gegenzug für die Unterstützung während des Wahlkampfs von Donald Trump respektive der von Russland ohnehin gewünschten Verhinderung von Hillary Clinton als Präsidentin. Im August 2016 legte Konstantin Kilimnik Trumps Wahlkampfmanager Paul Manafort den sogenannten „Mariupol-Plan“ vor, laut welchem eine „autonome Republik“ in der Ostukraine hätte geschaffen werden sollen. Führer der Republik sollte der nach Russland geflüchtete Wiktor Janukowytsch werden, während das Gebilde formell Teil der Ukraine sein sollte, aber de facto von Putin kontrolliert worden wäre.[330][331]
Auf eine neue Intensivierung der Kämpfe im August 2016 reagierte der ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk im Deutschlandfunk mit der Bitte an Europa um defensive Waffen.[332] Ende August 2016 zählten die OSZE-Beobachter an einem einzigen Tag mindestens 996 Explosionen.[333] Zum Schulanfang am 1. September war eine Beruhigung erhofft und wie im Vorjahr ein Waffenstillstand vereinbart worden und vorläufig auch eingetreten. Auch dieser Waffenstillstand bröckelte zusehends; allein in der ersten Novemberwoche 2016 zählte die OSZE annähernd 3.500 Explosionen von Minenwerfer-Geschossen, Artillerie, Panzern und Mehrfachraketenwerfern.[334][335] Russland berichtete von angeblichen verhinderten Terroranschlägen auf der Krim. Klar war, dass in der Grenzregion geschossen wurde; bei zwei Vorfällen wurden ein russischer Soldat und ein Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes getötet sowie Personen verhaftet.[46] Bei einem der angeblichen Terroranschläge schossen Männer in russischen Uniformen um sich; es blieb unklar, ob es sich um Deserteure oder reguläre russische Soldaten handelte.[336] Präsident Putin nutzte die Zwischenfälle dennoch, um der Ukraine zu unterstellen, an Verhandlungen nicht interessiert zu sein. Weitere Gespräche im Normandie-Format seien unsinnig.[46]
Ab 22. September 2016 sollte ein (weiterer) kleiner Rückzug von der Kontaktlinie, vereinbart durch die Trilaterale Kontaktgruppe, stattfinden.[337] Die OSZE bestätigte am 24. September eine Entmilitarisierung in Solotoje, einer von drei „Pilotregionen“. In den zwei weiteren in der Übereinkunft genannten Kleinstädten Stanyzja Luhanska und Petrowskoje[338] scheiterten mehrere Versuche.[339] Bei den drei Pilotregionen ging es um je vier Quadratkilometer an der 480 Kilometer langen Front.[340] Anfang Dezember 2016 machte der Leiter der OSZE-Beobachtungsmission, Alexander Hug, in der schärfstmöglichen diplomatischen Form deutlich, dass „Männer in Uniformen und Anzügen“, welche behaupteten, die Interessen der Menschen zu vertreten, für die Zivilisten in den Konfliktgebieten verantwortlich seien und diese Verantwortung nicht wahrnähmen. Auch humanitäre Hilfe werde behindert. Die Anzahl der Waffenstillstandsverletzungen bleibe hoch, habe in jener Woche Ende November zugenommen, und es seien in jener Woche 362 Mal Explosionen verbotener schwerer Waffen dokumentiert worden.[341] Nachdem noch in der letzten Adventswoche täglich Menschen gestorben waren, sagten auch die Freischärler einem von der OSZE vermittelten Waffenstillstand über die Weihnachtstage zu.[342] Die am 23. Dezember um 23 Uhr (MEZ) in Kraft getretene Waffenruhe wurde sofort wieder gebrochen.[343] Die OSZE konnte für das ganze Jahr den Tod von 88 Zivilisten durch Kampfhandlungen verifizieren.[344]
Im November 2016 weihte Putin im Herzen Moskaus, in der Nähe des Borowizki-Turms, eine monumentale Statue des Kiewer Großfürsten Wladimir I. ein. Putin lobte Wladimir I. als „Sammler und Beschützer der russischen Länder und vorausschauenden Staatsmann, der die Grundlagen für einen starken, geeinten, zentralisierten Staat legte, der zur Vereinigung einer großen Familie gleicher Völker, Sprachen, Kulturen und Religionen führte“. Der Grundstein wurde eigens aus der antiken Stadt Chersones am Südufer der Krim herbeigeschafft. Diese Statue symbolisiert den russischen Anspruch auf das Erbe Kiews und unterstreicht die Bedeutung der Kiewer Rus für die historische Identität des heutigen Russlands.[345]
2017
Ende Januar 2017 kam es zu Kämpfen um das ukrainische Awdijiwka und das von Separatisten gehaltene Makijiwka. Beide Seiten beschossen sich mit schweren Waffen, wobei innerhalb von drei Tagen 15 Zivilisten und Kämpfer getötet wurden und die zerstörte Infrastruktur in Awdijiwka Zehntausende von Menschen bei eisigem Winterklima ohne Strom und Wasser hinterließ. Daraufhin wurde eine Evakuierung von tausenden von Personen eingeleitet.[346][347] Im April 2017 verordnete Präsident Poroschenko für die Zeit des Osterfestes wenig optimistisch eine Waffenruhe zusätzlich zum bestehenden Waffenstillstand, was eine Verringerung der Kämpfe bewirkte.[348][349]
Auf dem nicht näher definierten „Territorium der DNR“ seien gemäß DNR-Angaben im ersten Halbjahr 127 Menschen getötet worden. Dessen Pressedienst gab für den ganzen Konflikt die Zahl der lokalen Opfer mit 4461 an.[350] Die Separatisten in den beiden „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk verkündeten im Juli 2017 den Zusammenschluss in einem eigenen Staat unter dem Namen „Kleinrussland“.[351] Der Zusammenschluss wurde allerdings nicht vollzogen. Anfang November 2017 machte der Leiter der OSZE-Beobachtungsmission, Alexander Hug, deutlich, dass die Verantwortlichen sehr wohl fähig wären, für einen Waffenstillstand zu sorgen. Wieder hatte die zum Schulanfang im September „neuvereinbarte“, aber alte Ruhe gewirkt, also wäre es möglich, einen Waffenstillstand einzuhalten. Die Verletzungen seien von 22.000 im August auf 8500 im September gesunken. Bis November nahm die Zahl wieder zu.[352] Die OSZE hatte für das ganze Jahr den Tod von 86 Zivilisten durch Kampfhandlungen verifizieren können[344] sowie 400 Verletzte.[353] Neal Walker, Repräsentant der UNO in der Ukraine, stellte für das Jahr 2017 fest, dass die Ukraine weltweit das Land mit der höchsten Anzahl von Todesopfern durch Minen sei.[354]
2018
Wie schon in der Vergangenheit verpuffte ein Waffenstillstand zu Weihnachten 2017 nach wenigen Tagen. In der zweiten Woche des Jahres 2018 stellte die OSZE an manchen Tagen eine vierstellige Zahl von Waffenstillstandsverletzungen fest. Westliche Politiker wie Angela Merkel und Emmanuel Macron forderten Russland auf, in das Koordinationszentrum JCCC zurückzukehren, unter welchem die bis zu 70 russischen Vertreter auch Sicherheitsgarantien für die OSZE-Beobachter abgegeben hatten. Alexander Hug, der Leiter der OSZE-Mission, erhoffte, die Zahl der Beobachter auf 800 ausbauen zu können.[355] Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die ukrainische Regierung von einer „Anti-Terror-Operation“ (ATO) gesprochen; im Januar 2018 bezeichnete das ukrainische Parlament in einem neuen Gesetz die beiden Sezessionsgebiete als „von Russland besetztes Gebiet“ und Russland als „Aggressor“. Das Wort „Krieg“ wurde dabei vermieden. Das Gesetz zur Reintegration des Donbass wurde mit 280 Stimmen in der Rada verabschiedet. Trotz langer Debatten konnte sich die Rada nicht auf ein Datum einigen, an dem die „bewaffnete Aggression der Russischen Föderation“ begann, weshalb der Erlass kein solches Datum nennt. Dies ist eine Unklarheit im Bezug auf die strafrechtliche Verfolgung Beteiligter. Als humanitäres Zugeständnis sollten Geburts- und Sterbeurkunden, die in den besetzten Gebieten ausgestellt wurden, anerkannt werden. Nicht aufgehoben wurde nach Diskussion der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft mit Russland.[356] Nach der Ablehnung eines Rückweisungsantrags fehlten für das Inkrafttreten nur noch die Unterschriften des Parlamentspräsidenten und des Präsidenten.[357] Nach der Unterschrift des Präsidenten unter das Reintegrationsgesetz „Über die Besonderheiten der staatlichen Politik zur Gewährleistung staatlicher Souveränität der Ukraine auf vorübergehend besetzten Gebieten in den Regionen Donezk und Luhansk“ wurde Ende April aus der ATO die „Operation der Vereinigten Streitkräfte“ (OOS).
Im Mai wurde die von Russland zur Krim gebaute strategisch und symbolisch wichtige Krim-Brücke für Straße und Bahn mit Putin am Steuer eines Lkw eröffnet. (Sie wurde im Mai 2022 und im Juli 2023 durch mehrere Sprengungen beschädigt.)
Im Jahr 2018 hatten sich die Konfliktparteien gemäß dem Leiter der OSZE-Mission bis zum 30. März schon auf drei Waffenstillstände geeinigt, zum Beispiel auf Ostern hin. Dennoch kam die Gewalt zu keinem Ende. Problematisch ist auch die räumliche Nähe der Konfliktparteien, die sich teilweise auf kürzeste Distanz gegenüber stünden, was die Situation unberechenbar mache. Technisch vereinbart sei ein Abstand von zwei Kilometern, faktisch gehe es bis hinunter auf kaum mehr als ein Dutzend Meter. Dies mache auch humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau sehr schwierig.[358] Die Kontaktlinie mit einer Länge von 500 Kilometern verfügte im Frühling 2018 über nur fünf Übergänge, wobei sich in der Luhansker Region nur ein Übergang befand und dieser Übergang weiterhin nur zu Fuß passierbar war. Die Leute gäben trotzdem nicht auf, sagte Alexander Hug von der OSZE, und überquerten bis zu 40.000 Mal pro Tag diese für sie inakzeptable Kontaktlinie. Eine Aufarbeitung der erhobenen Daten der OSZE zu Waffenstillstandsverletzungen fand bis im April 2018 nicht statt; es gab keinen Prozess, durch den Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen würden; eine Waffenstillstandsverletzung hat gemäß dem Leiter der Mission kaum Disziplinarverfahren oder andere Konsequenzen zur Folge und es entstünden dadurch auch kaum politische „Unkosten“ für die politischen Verantwortungsträger, selbst in jenen Fällen, in denen die Verantwortlichen zweifelsfrei bekannt seien.[358]
Am 16. Mai filmte die Überwachungskamera bei der von der Schweiz unterstützten Wasseraufbereitungsanlage bei Donezk Grad-Raketenbeschuss in das von der Regierung gehaltene Gebiet.[359] Die Wasserversorgung war zeitweise unterbrochen und erst am 23. Mai wieder in Betrieb. Dreihunderttausend Menschen sind auf die dortige Trinkwasserversorgung angewiesen, aber regierungsfeindliche Truppen und die Armee standen dort weniger als 300 Meter auseinander. Die OSZE verlangte eine größere Entflechtung.[360] Innerhalb einer Woche waren zu der Zeit wieder 2 Zivilisten getötet worden, darunter ein 13-jähriger Junge.[361] Der Chef der OSZE-Beobachtermission beklagte erneut den sinnlosen Kreislauf der Gewalt, für den es keine Logik gäbe;[362] Das Einzige, wofür es sich wirklich zu kämpfen lohnen würde, wäre das Ziel von „Null zivilen Opfern“.[363] Anfang Juli war die mindestens vierte Waffenruhe für die Erntezeit vereinbart worden, für später eine weitere auch in den Vorjahren übliche für den Schulanfang Anfang September. Die NZZ meldete am 27. Juli, die OSZE hätte „weniger Verstöße gegen die Waffenruhe“ gemeldet,[364] es wurden im Juli von der OSZE deren 15.000 gezählt.[365] Auf Seiten der ukrainischen Armee kamen von Anfang Juli bis zum zwanzigsten August zwölf Soldaten ums Leben und 70 wurden verletzt.[366] Am 28. August, kurz vor Schulbeginn, waren nur 70 Waffenstillstandsverletzungen beobachtet worden,[367] und auch am ersten Tag der neuerlichen Waffenruhe stellte die OSZE weiter die gleiche Zahl an Waffenstillstandsverletzungen fest, wenn auch für einmal ohne schwere Waffen.[368]
Am 31. August 2018 starb der Anführer der Separatisten in Donezk, Alexander Sachartschenko, durch eine Explosion in Donezk.[369] Der russische Politologe Ruslan Bortnik nannte das einen „Kriegsgrund“. Am 25. November beschossen russische Sicherheitskräfte ukrainische Schiffe in der Meerenge von Kertsch, die ihrerseits auf einen Waffeneinsatz verzichteten (siehe Russische Provokation bei Kertsch 2018). 23 ukrainische Marineangehörige wurden von Russland als „Kriminelle“ inhaftiert, wodurch ihnen zugleich der Status von Kriegsgefangenen verweigert wurde.[370] Die Ukraine verhängte im Zusammenhang mit der bewaffneten Aggression in der Straße von Kertsch und weiteren aggressiven Handlungen der Russischen Föderation im Asowschen Meer und Schwarzen Meer sowie der gegenwärtigen Gefahr einer großflächigen Invasion der Ukraine durch die Streitkräfte der Russischen Föderation vor dem Hintergrund der Besetzung des Territoriums der Autonomen Republik Krim und Teilen der Donezk- und Luhansk-Gebiete durch die Russische Föderation[371] am 26. November für 10 Regionen der Ukraine für eine Dauer von 30 Tagen das Kriegsrecht. Es handelte sich um Regionen mit einer Grenze zu Russland oder den regierungsfeindlichen Gebieten in Donezk und Luhansk sowie zu Transnistrien.[372] Am 27. November warf Poroschenko Russland eine massive Truppenkonzentration und eine Verdreifachung der Anzahl von Panzern entlang der gesamten Länge der ukrainischen Grenze vor und warnte vor einem drohenden „vollständigen Krieg“.[373] Eine Verlängerung des Kriegsrechts war bei Ausbleiben desselben Stand Mitte Dezember nicht geplant. Der Generalsekretär der OSZE rief Russland zu einer Geste des guten Willens auf und zur Freigabe und Freilassung der beschlagnahmten Schiffe und Besatzungen. Er bemerkte aber auch, dass schlicht der politische Wille für mehr Frieden fehle.[374]
Zum Jahreswechsel wurde ein weiterer „unbefristeter“[375] Waffenstillstand ausgerufen, der umgehend gebrochen wurde. Zwei Dutzend solcher Abkommen waren bereits gescheitert.[376]
2019
Nach der russischen Aggression 2014 hob das ukrainische Parlament im Dezember desselben Jahres die gesetzlich festgeschriebene Blockfreiheit auf und strebte eine NATO-Mitgliedschaft an. In den folgenden Jahren stieg die öffentliche Unterstützung dafür bis Anfang 2019 auf 45 Prozent an. Nach Russlands militärischer Aufrüstung im Herbst 2018 verankerte das ukrainische Parlament die Mitgliedschaft in der NATO und in der EU im Februar 2019 als Staatsziel in der Verfassung.[377]
Während der ersten Jahreshälfte kam es unverändert zu kontinuierlichen Verletzungen der Waffenstillstandsvereinbarungen. Eine Entflechtung der Truppen, die bereits im Jahr 2016 für drei Positionen vereinbart worden war, konnte Anfang Juli 2019 erreicht werden;[49] Der Übergang bei Stanyzja Luhanska war der einzige der Oblast Luhansk und wurde seit Jahren[378] von monatlich rund 200.000 Menschen auf einer wackeligen Holzkonstruktion benutzt. Die Truppen wurden um den Übergang zurückgezogen und die ukrainischen Truppen führten Entminungsarbeiten durch.[379] Nachdem der im Mai ins Amt gekommene ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Juli in einem Telefonat mit Putin einen erneuten Vorstoß zur Lösung des Problems gemacht hatte, vereinbarten die Konfliktparteien in Minsk eine weitere umfassende und zeitlich unbegrenzte Waffenruhe, die am 21. Juli, dem Tag der ukrainischen Parlamentswahl, in Kraft treten sollte. Nach ersten Angaben wurde der Waffenstillstand am ersten Tag von beiden Seiten ab dem Nachmittag während vier Stunden eingehalten, trotzdem starben nach ukrainischen Angaben zwei Soldaten der Regierungstruppen durch eine Sprengfalle.[380][381]
Im zweiten Quartal 2019 waren laut OSZE 1700 Mal schwere Waffen bei Waffenstillstandsverletzungen eingesetzt worden, die Gesamtzahl inklusive Kleinwaffen lag bei über 85.000. Geschossen wurde vor allem nachts, das heißt, vor und nach der Patrouillen-Zeiten der OSZE. Sowohl bei der Nichteinhaltung von Rückzugslinien von Waffensystemen als auch bei der Behinderung durch Zugangsrestriktionen betrafen die weitaus größte Anzahl der Verstöße die Gebiete, die nicht unter Kontrolle der Regierung waren.[382] Im September 2019 wurden bei einem Gefangenenaustausch jeweils 35 Gefangene beider Seiten freigelassen, darunter die bei der russischen Provokation bei Kertsch 2018 gefangen genommenen ukrainischen Marinesoldaten, in Russland Inhaftierte wie der ukrainische Filmemacher Oleh Senzow und im Gegenzug der russische Journalist Kirill Wyschinski.[383][384] Die internationalen Ermittler im Fall des Abschusses des Fluges MH17 protestierten gegen die Überstellung des möglichen Zeugen Wladimir Zemach nach Russland, die von Russland für einen Austausch zu einer Bedingung gemacht worden war. Laut der Einschätzung des Redaktionsleiters der Deutschen Welle in der Ukraine konnte sich Russland hingegen einer Reihe von rechtlichen Problemen entledigen, hatte doch Russland die Verurteilung des Internationalen Seegerichtshofs im Mai 2019 zur Freilassung der Seeleute bislang einfach ignoriert, dazu müsse sich Russland im internationalen Skandal um den ohne jeden Beweis in Russland verurteilten politischen Gefangenen[385] Oleh Senzow nicht mehr rechtfertigen.[386] Russland gab die Identitäten der meist ukrainischen Bürger, die nach Russland überstellt worden waren, nicht bekannt.
Bei einem erstmaligen Treffen des neuen ukrainischen Präsidenten Selenskyj und Präsident Putin im Normandie-Format wurde nach 20 gebrochenen Vereinbarungen[387] Anfang Dezember 2019 erneut eine Waffenruhe verabredet. Im Wesentlichen verpflichtete man sich erneut auf die Minsker Vereinbarung, wobei die Ukraine auf den Punkt der Grenzkontrolle durch die Ukraine zurückkam, während Putin eine Diskussion darüber als Zeitverschwendung bezeichnete.[388] Selenskyj hatte eine echte landesweite Kommunalwahl für Herbst 2020 vorgeschlagen: Die Wahlen begännen im Donbass, sobald dort Sicherheit herrsche, so die Aussage vor dem Treffen.[389] Erreicht wurden beim Treffen eine Vereinbarung eines weiteren überfälligen Gefangenenaustausches, drei weitere Entflechtungszonen sowie als Neuerung eine Beobachtung der Konfliktzone nicht nur tagsüber, sondern auch während der Nacht. Die Minenräumung sollte geplant werden und die Übergangsmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung erweitert werden.[388] Bei einem Gefangenenaustausch Ende Dezember 2019 kamen wiederum auch Zivilisten frei, die sich teils seit Jahren im Gewahrsam der regierungsfeindlichen Kräfte befunden hatten.[390]
2020
In den ersten Wochen nach Inkrafttreten des 21. Waffenstillstandes lagen die täglich wechselnden Waffenstillstandsverletzungen im Bereich eines Viertels bis eines Drittels jener des Jahresdurchschnitts 2019,[391][392] teils lagen die Zahlen aber auch über dem Durchschnitt der täglich gezählten Waffenstillstandsverletzungen des Vorjahres.[393] Obschon eine Entminung vereinbart worden war, entdeckte die OSZE neue Minen, die den sogenannten bewaffneten Formationen zugeordnet wurden, auch Behinderungen der Beobachter in deren Gebieten wurden weiterhin erwähnt.[394][392] Die Beobachtungen an den weiterhin überhaupt nur zwei beobachteten Grenzübergängen zu Russland waren weiterhin eingeschränkt; zwar wurden sie rund um die Uhr beobachtet, jedoch war es den Beobachtern nicht möglich, ungehindert Feststellungen zu machen, da sie weder bei gezogenen Vorhängen bei Bussen noch bei verdunkelten Scheiben Aussagen machen konnten und auch den Bereich der Röntgenanlagen nicht beobachten konnten.[395] Am Schluss des ersten Quartals 2020 wurden für März 2020 im Schnitt täglich über 700 Waffenstillstandsverletzungen gezählt, im Vergleich zum Durchschnitt über das gesamte Vorjahr von über 800.[396] Mit einem in Minsk vereinbarten Waffenstillstand, der am 27. Juli begann, reduzierten sich die Waffenstillstandsverletzungen der Monate August, September und Oktober 2020 im Vorjahresvergleich durchgehend um 95 Prozent.[397]
2021
Im Januar 2021 entschied das Parlament der Ukraine, dass sich bis zu 2000 US-Soldaten und weitere 2000 Militärs aus NATO-Staaten im ganzen Land dauerhaft für taktische Übungen und Ausbildung ukrainischer Soldaten aufhalten dürfen. Darüber hinaus kündigte das Parlament sechs Manöver mit ausländischer Beteiligung in der Ukraine an.[398] Ab Mitte Februar 2021 nahmen die Waffenstillstandsverletzungen zu: Bis Anfang April wurden nach ukrainischen Angaben bei Angriffen prorussischer Rebellen 20 ukrainische Soldaten getötet und 57 weitere verletzt. Es wurden mit 1121 überdurchschnittlich viele Waffenstillstandsverletzungen von der OSZE im Donezbecken dokumentiert.[399] Eine „Strategie der De-Okkupation und der Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Territoriums der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ des Rates für Nationale Sicherheit und Verteidigung der Ukraine wurde Ende März 2021 von Präsident Selenskyj bestätigt und die Umsetzung angeordnet.[400] Laut dem ukrainischen Präsidenten erhöhte Russland Ende März/Anfang April die Truppenstärke an der Grenze zur Ukraine, inklusive schwerer Waffen und Kriegslogistik, wie es auch schon im Mai 2015 geschehen war; damals waren Erkennungszeichen wie Nummernschilder oder Abzeichen noch entfernt worden.[401] Russland berief sich daraufhin auf eine „verschärfte Situation seitens der NATO“ und verkündete, dass man entsprechende Maßnahmen unternehme. Zugleich lief ein von der OSZE (Trilaterale Gruppe) ausgehandelter und regelmäßig verlängerter Waffenstillstand am 31. März aus, ohne verlängert zu werden.[402][403] Ab Ende März 2021 wurden von der Royal Air Force Überwachungsflüge durchgeführt, ebenso von der United States Air Force, dies mit Flugzeugen vom Typ Boeing RC-135, Global Hawk, EP-3E oder P-8 Poseidon.[404] Es wurden auch Flüge über ukrainischem Staatsgebiet durchgeführt. Die Flüge ermöglichen neben einer visuellen Aufklärung auch das Abhören der Kommunikation von Kommandanten der am Boden operierenden russischen Einheiten.[405] Frankreich assistierte mit Aufklärungsflügen durch Mirage-2000-Flugzeuge.[406]
Ab Frühjahr 2021 zog Russland etwa 75.000 bis 100.000 Soldaten sowie schwere Waffen an der ukrainischen Grenze zusammen. Ukraine, EU und NATO kritisierten diesen Aufmarsch und appellierten an Putin, Aggressionen zu unterlassen sowie die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren.[407][408] Im Juni 2021 beteiligten sich 32 NATO-Staaten an dem Marine-Manöver Sea Breeze, das die Ukraine seit 1997 jährlich mit den USA im Schwarzen Meer durchführt. Es war das größte Sea-Breeze-Manöver überhaupt.[409] Wenige Tage vor Beginn der Sea-Breeze-Übung erhoben russische Staatsmedien den Vorwurf, das britische Kriegsschiff HMS Defender sei in angeblich „russische Hoheitsgewässer“ nahe der von Russland annektierten Halbinsel Krim eingedrungen. Die britische Regierung erklärte, die HMS Defender sei durch ukrainische Gewässer gefahren. Die russische Regierung bestellte einen britischen Verteidigungsattaché und die Botschafterin zu Gesprächen ein und forderte zeitgleich von der NATO, sich nicht an dem Manöver zu beteiligen.[410][411] Im Dezember 2021 legte Moskau sowohl der NATO als auch der USA zwei Vertragsentwürfe mit Maximalforderungen vor, laut denen eine Fortsetzung der NATO-Erweiterung nach Osten in den postsowjetischen Raum ausgeschlossen würde. Zugleich sollte es laut den Entwürfen der NATO verboten sein, Truppen an den Grenzen Russlands zu stationieren oder in europäischen Staaten weitreichende Raketen aufzustellen. Dazu forderte Moskau, dass die NATO ihre Gipfelerklärung von 2008[412] zurücknimmt, in der sie der Ukraine und Georgien den Beitritt zur Allianz in Aussicht gestellt hat. Sie solle vielmehr rechtsverbindlich erklären, Truppen zurückzuziehen, die nach dem Mai 1997 in Osteuropa stationiert wurden. Dabei berief sich Moskau auf die NATO-Russland-Grundakte von 1997 und das Bedürfnis Russlands nach Sicherheitsgarantien.[413][414][415] Die russischen Vorschläge wurden als Forderung an die NATO zum Rückzug an die Oder-Neiße-Grenze verstanden und mit Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Staaten als inakzeptabel und nicht verhandelbar abgelehnt.[416][417][418][419]
Russischer Angriff auf die Ukraine seit 2022
An der Kontaktlinie in der Ostukraine war es andauernd relativ ruhig; in den drei Wochen bis zum 3. Februar starben keine ukrainischen Soldaten.[420] Mitte Februar lagen die Waffenstillstandsverletzungen unter dem Durchschnitt des ganzen Vorjahres.[421] Erst als (eigene) False-Flag-Aktionen durch die russische Propaganda gemeldet wurden,[422] stiegen die Zahlen.[423] Am 21. Februar 2022 erkannte Russland die staatliche Unabhängigkeit der als „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk proklamierten Gebiete in den jeweiligen Oblasten an. In dieser Woche wurden die ukrainischen Streitkräfte und Munitionsbestände dezentralisiert und die Flugzeuge von großen Flugplätzen, den offensichtlichen Primärzielen eines Aggressors, abgezogen.[424]
Am 24. Februar begann entlang der gesamten ukrainischen Grenze Russlands sowie aus Belarus der Überfall auf die Ukraine,[425] im Raum Kiew mit einer Übermacht gegenüber der Ukraine von 12:1, dies laut vorläufiger Analyse des RUSI im November 2022.[426] Als Kriegsziel gab Putin an, die Menschen schützen zu wollen, die „seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt“ wären.[427] Die „Souveränität aller neu entstandenen Länder im post-sowjetischen Raum“ wolle er respektieren, behauptete er.[428]
Der russische Angriff war offensichtlich als kurze Kommandoaktion geplant gewesen, deren eines Kriegsziel die Einnahme Kiews innerhalb einiger Tage zum Sturz der Regierung war. Die Armee hätte dabei vor allem eine Drohkulisse für die Geheimdienste sein sollen, welche diesen Plan der Enthauptung des Landes entworfen hatten. Die russischen Einheiten verfügten laut vorläufigen Erkenntnissen von RUSI über Personenlisten, welche sowohl zu eliminierende und einzuschüchternde Personen umfassten als auch solche, die vermutlich oder sicher zur Zusammenarbeit bereit waren.[426]
Nachdem der ukrainische Präsident weder geflüchtet noch gefangen genommen war und nach wochenlanger Umklammerung der Stadt von Norden, Westen und Osten musste Russland den Vorstoß nach Kiew Ende März aufgeben. Beim Abzug der russischen Truppen aus allen zuvor eroberten Gebieten in der Nordukraine offenbarten sich nach Kriegsrecht verbotene Plünderungen und ein Muster von Tötungen von Zivilisten, das auf Kriegsverbrechen hindeutete.[429][430][431] Der Ort Butscha erlangte weltweite Bekanntheit durch die dort bekannt gewordenen Gräueltaten.
Das zweite Kriegsziel war die Erweiterung der Vasallenstaaten im Osten der Ukraine; vor Donezk konnten die ukrainischen Truppen ihre Stellungen den ganzen März und April hindurch halten, ebenso die nahe der russischen Grenze liegende Großstadt Charkiw, welche in der um sie geführten Schlacht um Charkiw erheblich beschädigt wurde. Die zwischen Donezk/Luhansk und Charkiw an der russischen Grenze liegenden Gebiete wurden hingegen von Russland besetzt. Die Gebiete im Süden, wo seit 2014 eine Einnahme einer Landbrücke durch Russland zur Krim befürchtet worden war, wurden trotz der lange verteidigten belagerten Stadt Mariupol ebenfalls großenteils von Russland besetzt. Schon am 12. März gab es Meldungen, dass es in mehreren Städten im Bereich des von Russland besetzten Territoriums Versuche gegeben hatte, „prorussische“ Aktionen zu organisieren. Lokale Behörden verweigerten die Zusammenarbeit und die Bevölkerung protestierte wie zum Beispiel in Cherson.
Der weitere Vormarsch von Cherson in Richtung Odessa war Anfang März bei Mykolajiw gescheitert. Gleichwohl wurde noch Mitte April (wie auch lange später noch) von Landverbindungen nach Transnistrien gesprochen; insbesondere das russische Militär war mit den politischen Beschränkungen der Ziele auf den Donbass unzufrieden und forderte im Gegenteil ehrgeizigere Ziele und eine Mobilmachung in Russland.[432][433] Auch Igor Girkin kritisierte im Mai 2022, dass Sergei Lawrow nur noch die „Befreiung“ des Donbass anstatt der „Entnazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der ganzen Ukraine als Ziel des Krieges ausgegeben habe. Nach Analyse des Institute for the Study of War (ISW) führte die Heruntersetzung der Kriegsziele zu großer Unzufriedenheit unter den russischen Nationalisten und Militaristen, zudem wachse auch der Unmut des Teils der Bevölkerung, der ohnehin gegen den Krieg insgesamt eingestellt sei.[434]
Der letzte große Erfolg der russischen Streitkräfte war die Eroberung von Sjewjerodonezk und Lyssytschansk Ende Juni / Anfang Juli.[435] Bis August bewegten sich die Frontlinien kaum, trotz russischen Beschusses der ukrainischen Stellungen mit täglich zweitausend Tonnen oder rund 60.000 Schuss Artillerie.[436][437][438] Nach diesem Stellungskrieg durchbrachen die Ukrainer Anfang September die russischen Linien in der Oblast Charkiw und drangen 50 Kilometer weit bis über Isjum hinaus vor, welches seit Ende März von Russland besetzt gewesen war. Wochenlang war zuvor von einer Offensive im Süden die Rede gewesen, wo im Juli und August russische Kommandoposten, Truppen und Munitionslager angegriffen[439] sowie die Brücken über den Dnepr (und die Verbindung über den Fluss Inhulez) beschädigt worden waren, wodurch die russischen Truppen auf dem Brückenkopf auf der rechten Seite des Flusses nicht mehr optimal versorgt werden konnten. Auch dort wurden bis ins erste Drittel des Monats September eine Reihe von Dörfern befreit.[440] Durch eine Informationssperre seitens der Ukrainer wurden dieses wie auch späteres Vorrücken der ukrainischen Truppen nur verzögert bekannt.
Die russischen Befürworter einer Ausweitung des Krieges gewannen am 20. September die Oberhand. Durch sofortige Scheinreferenden, die bisher erst für die fernere Zukunft geplant waren, sollten die russisch okkupierten Gebiete der Ukraine zu „russischen“ Gebieten erklärt werden, um behaupten zu können, „Russland“ werde angegriffen. Kremlnahe Quellen betonten, so Meduza, dass die russischen Behörden nicht einmal die Absicht hätten, eine „Illusion der Legitimität“ zu schaffen; es gehe nur darum, „irgendeine Art von Abstimmung abzuhalten und über das Ergebnis zu berichten“.[441][442][443][444][445] Wie aufgrund dieser Schritte erwartet, verkündete Präsident Putin am 21. September die Mobilmachung Russlands. Dabei zeichnete er das Bild eines in seiner Existenz bedrohten Russlands, welches der Westen zu zerstören und auszurauben trachte. Russland werde zur Verteidigung seiner territorialen Integrität alle zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, gemeint waren auch die explizit erwähnten Atomwaffen: „Das ist kein Bluff.“[446] Am 30. September 2022 kam es zur proklamierten russischen „Annexion“ der Süd- und Ostukraine, kurze Zeit später erfolgte die ukrainische Befreiung von Lyman in der Oblast Donezk. Im Oktober 2022 gelang den ukrainischen Truppen auch ein Vordringen in die Oblast Luhansk. Auch im Süden wurden Geländerückgewinne erzielt. Die strategisch wichtige Krim-Brücke über die Meerenge von Kertsch wurde am 8. Oktober 2022 durch eine oder mehrere Explosionen und einen daraus entstehenden Brand beschädigt. Am 29. Oktober erfolgte seitens der Ukraine ein koordinierter Angriff mit Drohnen auf im Hafen von Sewastopol liegende Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte. Wie längst absehbar zog sich Russland am 10. November, um einer Einkesselung seiner Soldaten zuvorzukommen, vom rechten Ufer des Dnepr bei Cherson zurück.
Seit Ende Oktober 2022 hatte Russland derweil versucht, den Konflikt einzufrieren.[447] Dazu gehöre auch, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, dass Russland versuche, den Krieg von der Front weg in die ganze Ukraine zu tragen. Es greife nun zivile Infrastruktur an, um den ukrainischen Leidensdruck zu erhöhen; Präsident Selenskyj spreche da zu Recht von systematischem Terror, das russische Vorgehen sei in jeder Hinsicht ein Kriegsverbrechen.[448] Neben einem Zeitgewinn für die Ausbildung der ab Oktober mobilisierten Soldaten sollten laut NZZ der Raketenbeschuss und der Stillstand an den Fronten den europäischen Unterstützern der Ukraine das Gefühl einer Aussichtslosigkeit vermitteln.[449] Am 5. September 2023 begründete Putin den Krieg gegen die Ukraine mit der antisemitischen Behauptung, der „ethnische Jude“ Selenskyj sei installiert worden, um von „Nazismus“ in der Ukraine abzulenken.[450]
Angriff auf die Oblast Belgorod Mai 2023
Ab dem 22. Mai 2023 kam es aus dem Territorium der Ukraine zu einem Einfall auf grenznahe Ortschaften der russischen Oblast Belgorod, nahe Charkiw. Die Ukraine behauptet, es handele sich dabei um russische Kämpfer.
Offensive in Kursk August 2024
Die Kursk-Offensive im August 2024 ist ein strategischer Vorstoß der ukrainischen Streitkräfte am Rande des im Nordosten an die Ukraine angrenzenden russischen Verwaltungsbezirkes Oblast Kursk. Dabei besetzte die Ukraine zahlreiche Ortschaften und drang mehrere Kilometer tief in russisches Gebiet ein.[451] In den Oblasten Kursk und Belgorod wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, in Russland der nationale Notstand, und zahlreiche Bewohner wurden evakuiert.[452]
Wirtschaftliche Interessen Russlands
Im August 2012 beauftragte die ukrainische Regierung von Mykola Asarow, der wie der damalige ukrainische Staatspräsident Wiktor Janukowytsch gute Beziehungen zur russischen Staatsführung unterhielt, ein Konsortium, dem unter anderem Exxon Mobil, Royal Dutch Shell, OMV Rumänien und die staatliche ukrainische NAK Nadra Ukrainy angehörten, Erdöl und Erdgas im ukrainischen Teil des Schwarzen Meeres zu fördern.[453][454] Im Jahr 2013 erhielt der größte Öl- und Gasproduzent Italiens, Eni, eine Lizenz zur Öl- und Gasförderung an der Ostküste der Krim. Im Jahr 2014 wurde berichtet, dass bei einer Annexion der Krim die Förderlizenzen neu vergeben werden könnten und bisherige Lizenzinhaber in eine rechtliche Grauzone kämen.[454]
Dem deutschen Schriftsteller und Essayisten Christoph Brumme zufolge waren wirtschaftliche Interessen ein Motiv für Russlands Überfall auf die Ukraine. Er verwies auf Lithiumvorkommen im Donbas und den Getreidereichtum der Ukraine, was für Russland bei einer Einnahme der Ukraine eine „Monopolstellung auf dem Weltmarkt“ bedeuten würde.[455] Im Jahr 2022 bestätigte der russische General Wladimir Owtschinski, dass die „russische Spezialoperation“ das Ziel habe, sich die ukrainischen Lithiumlager anzueignen. Er behauptete, Russland würde damit den Vereinigten Staaten zuvorzukommen. Tatsächlich war es das australische Unternehmen European Lithium, das Ende 2021 die Schürfrechte für Lithiumvorkommen in der Oblast Donezk und in der Oblast Kirowohrad erhielt. Fast zeitgleich hatte auch das chinesische Unternehmen Chengxin Lithium dafür einen Antrag gestellt, war jedoch abgewiesen worden.[456][457]
Zwar betragen Russlands wirtschaftliche Verluste durch den Krieg und die Sanktionen des Westens nach Einschätzung der US-Regierung bis 2025 voraussichtlich rund 1,3 Billionen Dollar, und die direkten finanziellen Aufwendungen für die Durchführung der Krieges werden (Stand Herbst 2024) auf etwa 250 Milliarden US-Dollar geschätzt – Kosten, die für Russland nicht absehbar waren. Doch kontrollierte Russland in den besetzten Gebieten im Donbas laut einer im Sommer 2022 veröffentlichten Studie des kanadischen Thinktanks SecDev Energievorkommen, Metalle und Mineralien im Wert von mindestens 12,4 Billionen Dollar, darunter 41 Kohlefelder (63 Prozent der ukrainischen Kohlevorkommen), 27 Erdgasfelder, 9 Ölfelder, 6 Eisenerzlagerstätten, 2 Titanerzlagerstätten, 1 Strontium- und 1 Uranlagerstätte, 1 Goldlagerstätte und 1 großen Kalksteinbruch. Der Gesamtwert der nationalen Rohstoffbestände in der Ukraine wird auf über 26 Billionen US-Dollar geschätzt.[456] Der Wert von Lithium und seltenen Erden wird in der Ukraine auf rund 11,5 Billionen Dollar geschätzt.[457] Im Januar 2024 erteilte die russische Besatzerverwaltung in der Oblast Donezk dem russischen Ministerium für Ökologie und natürliche Ressourcen die „Genehmigung“ zum Abbau von Lithium in der bei Kurachowe liegenden Lagerstätte Schewtschenko, wo das Lithiumvorkommen auf einen Wert von hunderten Milliarden US-Dollar geschätzt wird.[456]
Durch die grüne Transformation bzw. Energiewende in Europa ist Russlands gewohntes Geschäfts- und Existenzmodell, der Handel mit fossilen Energieträgern, bedroht. Zwar schafft die Energiewende neue Abhängigkeiten; denn Technologien wie Windräder, Photovoltaik und E-Auto-Batterien sind auf Lithium und seltene Erden angewiesen. Sie in Europa zu fördern, käme wegen hoher Umweltauflagen, niedriger Akzeptanz bei der Bevölkerung und beträchtlicher Arbeitskosten zu teuer (weswegen sie aus China und Ländern des globalen Südens importiert wurden); jedoch nimmt die Ukraine mit 800 Lagerstätten von 94 unterschiedlichen Bodenschätzen den vierten Platz in der Welt ein und würde Russland damit als Handelspartner verdrängen. Wenige Monate vor dem Beginn der russischen Invasion hatten die EU und die Ukraine einen Green Deal bzw. ein Transformationsprogramm für die Ukraine unterzeichnet; denn die ukrainische Volkswirtschaft war zu dem Zeitpunkt die energieintensivste der Welt mit der zugleich ineffektivsten und teuersten thermischen Stromerzeugung. Das Programm sah eine weitere wirtschaftliche Verflechtung beider Vertragsparteien sowie die Klimaneutralität der Ukraine bis zum Jahr 2060 vor. Neben Flächen für den Ausbau der Wind- und Solarenergie verfügt die Ukraine außerdem über Infrastruktur, um grünen Wasserstoff in die EU zu transportieren. Außerdem sind 22 von 30 Rohstoffen, die die EU als strategisch wichtig einstufte, in großen Mengen in der Ukraine vorhanden. Russland könnte nur dann von der Energiewende in Europa profitieren, wenn es in den Besitz der Ressourcen und Infrastrukturen auf ukrainischem Boden kommt. Europa wäre dann noch abhängiger von Russland. Falls Russland seine Kriegsziele erreichen sollte, kann Russland mehr rauben und gewinnen, als es im Frieden durch einen verringerten Export nach Europa verlieren würde.[456][457]
Laut Christoph Brumme hatte die russische Elite, insbesondere auch russische Generäle, ihr Vermögen und Eigentum in der Ukraine zur Geldwäsche angelegt.[455]
Humanitäre Lage und Kriegsverbrechen
Im russisch-ukrainischen Krieg wurden ab 2014 vielfach Kriegsverbrechen begangen. In seiner Anfangsphase wurde der Konflikt außerhalb der Ukraine noch nicht als offener Krieg empfunden, aber es kam früh zu einer Zuspitzung der humanitären Lage und zu vielfältigen problematischen Situationen in Bezug auf Menschenrechte insbesondere auf Seiten regierungsfeindlicher Kräfte. Auf ukrainischer Seite waren seit Kriegsbeginn 2014 Untersuchungen mit Konsequenzen zu Vorfällen eingeleitet worden.[458] Damit habe die ukrainische Armee bewiesen, dass sie solche Taten untersucht, sagte Ruslan Lewiew von der OSINT-Organisation Conflict Intelligence Team 2022.
Russland wurden nach der offenen Invasion Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, die als Genozid gewertet werden. Der Einsatz diverser Waffen gegen zivile Ziele wurde als Kriegsverbrechen beurteilt, dazu kommen wahllose Bombardierungen ziviler Infrastruktur inklusive Spitälern sowie sexuelle Gewalt, Folter und Verschleppung von Zivilisten und deren mutmaßliche systematische Verfolgung.[459][460][461] Russland bestreitet sämtliche Vorfälle.
Frühling und Sommer 2014 gemäß UNHCR
Am 15. April 2014 wurde vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (UNHCHR) ein Bericht zur Situation der Menschenrechte in der Ukraine veröffentlicht. Die UN-Behörde erklärte, dass es keine systematischen Repressionen und Übergriffe gegen die ethnisch russische Bevölkerung im Osten der Ukraine gebe, wohl aber einzelne Angriffe. Navi Pillay, die Hochkommissarin für Menschenrechte, forderte die Kiewer Regierung auf, die Minderheiten zu respektieren und „für deren gleichberechtigte Teilnahme am politischen Leben einzutreten“ sowie das Schüren von Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen nicht zu dulden. Russland habe jedoch die Berichte darüber aufgebauscht, „um ein Klima der Angst und Unsicherheit zu erzeugen“.[462]
Laut einem Bericht im Mai 2014 habe sich die Menschenrechtslage in der Ostukraine und auf der Krim deutlich verschlechtert. In Teilen der Ostukraine herrsche ein „Klima der Gesetzlosigkeit“, in dem es zu Tötungen, Folter, Entführungen und Einschüchterung durch jene bewaffnete Gruppen komme, die öffentliche Gebäude besetzten. Auch auf der Krim sei es zu einer generellen Verschlechterung der Menschenrechtslage gekommen, die ethnische Minderheit der Krimtataren werde diskriminiert. Die ukrainische Regierung, so der Bericht, habe bislang gut mit der UN-Mission kooperiert und bereitwillig Informationen zur Verfügung gestellt.[463] Im Bericht wurde angemerkt, dass das Vorgehen der ukrainischen Sicherheitskräfte im Rahmen der „Antiterrormaßnahmen“ in puncto Verhältnismäßigkeit „teilweise fragwürdig“ sei.[156] Das ukrainische Außenministerium begrüßte den Bericht als objektiv.[464] Die russische Regierung zeigte sich empört über das Dokument.[465][466][465]
Auch der dritte Bericht im Juni hielt fest, bewaffnete Gruppen hätten in den Regionen Donezk und Luhansk eine Atmosphäre ständiger Angst geschaffen. Er erinnerte zudem an das auch von Russland anerkannte völkerrechtliche Verbot von Hass- und Kriegspropaganda, dies nach Erwähnung von Beispielen russischer Propaganda.[172][467]
Am 28. Juli meldete das UNHCHR für die betroffene Bevölkerung der Ostukraine den totalen Zusammenbruch von Recht und Ordnung und berichtete von einer Terrorherrschaft der bewaffneten Gruppen mit Freiheitsberaubungen, Entführungen, Folterungen und Exekutionen.[38] Am 11. Juli hatte Amnesty International 100 Entführungen mit Details dokumentiert. „Die meisten Entführungen gehen auf das Konto von bewaffneten Separatisten“.[468] Ein Ziel sei es, „die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und zu kontrollieren“, sodann die Zahlung von Lösegeld sowie der Gefangenenaustausch. Die Zahlen des Innenministeriums nennen 500 Fälle zwischen April und Juni, das UNHCHR registrierte 222 Fälle im Bericht vom 15. Juni.[141] Schwere Gefechte fänden auch im Siedlungsgebiet statt, was zu Verlust von Leben, Eigentum und Infrastruktur führe und Tausende zur Flucht bewege („heavy fighting located in and around population centres, resulting in loss of life, property and infrastructure and causing thousands to flee“). Es gebe auch Justizbehörden in der so genannten „Volksrepublik“, sagt ein Bewaffneter, „aber für alle Verräter reicht die Zeit nicht, und so erschießen wir sie eben.“[469] Im November-Bericht wurden weitere Massenexekutionen, Zwangsarbeit, sexuelle Gewalt sowie das Verbot der ukrainischen Sprache in den Schulen erwähnt.[470]
Ab Herbst 2014 bis Ende 2015
Amnesty International berichtet im Herbst 2014 von Kriegsverbrechen auf den Seiten beider Konfliktparteien. Es habe vereinzelt Hinrichtungen gegeben.[471] Es gebe ferner Beweise für willkürlichen Beschuss, Entführungen und Folter. Davon seien auch Zivilisten betroffen.[472] Es soll außerdem Einsätze von Streubomben durch beide Konfliktparteien gegeben haben.[473] Anfang April 2015 warf Amnesty International den prorussischen Milizionären Kriegsverbrechen vor, unter Mitwirkung der Kommandeure Michail Tolstych und Arsen Pawlow.[474] Der Separatistenkommandeur Beresin bestätigte, dass die prorussischen Milizen aus Wohnvierteln heraus operierten und die Bevölkerung faktisch als menschliche Schutzschilde nutzen würden.[475]
In der Luhansker Volksrepublik erreichte die humanitäre Hilfe nicht alle Menschen. Nach Angaben des katholischen Bischofs Stanislaw Schyrokoradjuk kam es in seinem Bistum während des Winters 2014/15 zu einer unbekannten Anzahl von Hungertoten, insbesondere unter alten Menschen, die sich wegen der Kämpfe nicht aus dem Haus trauten. Zugleich forderte er die europäische Staatengemeinschaft auf, sich gemeinsam der russischen Aggression entgegenzustellen.[476]
Ab dem Minsker Abkommen im September 2014 hatte eine gemeinsame ukrainisch-russische Militärkontaktstelle Joint Center for Control und Coordination (JCCC) mit Absprachen lokale Waffenstillstände, Gefangenenaustausch und Erleichterungen für die Zivilbevölkerung ermöglicht. Im Dezember 2017 kündigte Russland den Rückzug seiner Vermittler an.[477]
Flüchtlinge
- 2014–2021
Menschen flüchteten vor dem Zusammenbruch von Recht und Ordnung aus dem Donbass. Allein in der Ostukraine waren bis Mitte Juni 2014 mindestens 12.700 Vertriebene registriert worden.[172] Anfang September 2014 gab das UNHCR bekannt, dass nach UN-Schätzungen wegen der Kämpfe mehr als eine Million Menschen ihre Häuser verlassen hatten. 814.000 Menschen seien auf russisches Territorium geflüchtet, rund 260.000 Menschen blieben innerhalb der Ukraine.[478][479] Für den Juni 2015 nannte das UNHCR eine Zahl von 2,2 Millionen Flüchtlingen, davon 746.000 in Russland. Im Januar 2015 hatte die Europäische Kommission rund 600.000 ins Ausland Geflüchtete (davon 500.000 nach Russland) sowie 633.000 Flüchtlinge innerhalb der Ukraine gemeldet. Die Situation für die Bevölkerung habe sich in den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Zonen in Bezug auf Zugang zu öffentlichen Diensten verschlechtert, Versorgung und Bewegungsmöglichkeiten seien eingeschränkt.[480] Berichten zufolge verließen in der Folge insbesondere junge und gut ausgebildete Leute aus der Mittelschicht das Gebiet, das nach den Worten von Andrei Kurkow in eine ausweglose Katastrophe geraten war.[481]
- ab 2022
Nach Ende Februar 2022 waren nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Millionen von Menschen auf der Flucht. Großteils handelte es sich um Frauen und Kinder, Männern zwischen 18 und 60 Jahren war zudem keine Ausreise gestattet; bis Ende März 2022 flohen über vier Millionen Ukrainer vor den Kämpfen und russischem Bombardement ziviler Ziele ins Ausland.[482] Bis Stand 20. April 2022 erhöhte sich die Zahl auf 5 Millionen. Davon floh mit 2,8 Millionen der größte Teil zunächst nach Polen.[483] Darüber hinaus waren mehr als 7,7 Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine auf der Flucht. Die meisten Menschen sind aus der Ostukraine in andere Landesteile, insbesondere in den Westen der Ukraine, geflohen.[484]
Erstmals ließ die „Volksrepublik Lugansk“ am 9. August 2022 verlautbaren, dass im Falle der bis auf die Grundmauern zerstörten Stadt Popasna erwogen werde, den Ort, in welchem vor dem Krieg 19.000 Menschen gelebt hatten, nicht wiederaufzubauen.[485]
Russische Filtrationslager
Zehntausende Menschen wurden 2022 in die besetzten ukrainischen Gebiete oder nach Russland evakuiert respektive deportiert. Alle wurden in Filtrationslagern einvernommen, von manchen Männern fehlte danach jede Spur. Angehörige erfuhren weder den Ort noch den Grund der Arretierung. Schon ein Bart galt als verdächtig und die Bezeichnung des russisch-ukrainischen Krieges als „Bürgerkrieg“ sei den Lagerinsassen wortwörtlich eingeprügelt worden.[486][487]
Terror 2014–2021
Regierungsfeindliche Kräfte verüben Anschläge und Sabotageakte an Bahnlinien, Pipelines oder Rekrutierungsbüros. Auch Privatpersonen, die sich in Bürgerinitiativen engagieren, waren davon betroffen.[488] Im Dezember 2014 gab es alleine in Odessa sechs Bombenanschläge.[489] In der Hauptstadt Kiew sprach Bürgermeister Klitschko im Januar 2015 von „zehn Anrufen täglich“ an Behörden, in denen Bombenanschläge auf Regierungsgebäude, U-Bahn-Stationen, Kaufhäuser oder Bahnhöfe gemeldet würden: „Fast alles Falschmeldungen, aber es gibt ein Interesse, uns zu destabilisieren, Unruhe und Angst unter den Menschen zu verbreiten.“[490]
Im Oktober 2018 saßen 30 Russen in der Ukraine in Haft, einige davon wegen Terroranschlägen, die sie 2015 in Charkiw und Odessa verübt hatten.[491]
Kontrollierte Übergänge an der Kontaktlinie bis 2021
Die OSZE habe laut dem Leiter der Mission Anfang November 2017 volles Verständnis für die Sicherung der Übergänge durch die Regierung, um zu verhindern, dass Waffen und Personen, die die Übergänge nicht benutzen sollten, sie querten. Die Ukrainer hätten aber das Recht, diese Übergänge zu benutzen, und seien häufig auch darauf angewiesen. Die Kontaktlinie mit einer Länge von 500 Kilometern verfügte auch im Frühling 2018 über nur fünf Übergänge, wobei sich in der Luhansker-Region weiterhin nur der Fußgängersteg befand. Die Leute gäben trotzdem nicht auf, sagte Alexander Hug von der OSZE, und überquerten bis zu 40.000 Mal pro Tag die Kontaktlinie. Durchschnittlich eine Million Menschen überquerten die Kontaktlinie jeden Monat, so eine UNO-Stelle im Januar 2019.[492]
Im Mai 2021 verschärften die separatistischen Kräfte die Bedingungen für die „Einreise“. Im September 2019 hatten die Menschen noch 330.000 Mal die Grenze bei Stanyzja Luhanska überquert, im September 2021 nur noch 25.000 Mal. Bei den Übergängen im Gebiet Donezk fiel die Zahl von 7.690.000 Übergängen von Januar bis September 2019 auf gerade noch 28.000 von Januar bis September 2021.[493]
Rolle Russlands ab 2014
Russland wurde von Beginn des Konfliktes an vorgeworfen, die Unruhen im Osten der Ukraine zu schüren; der ukrainische Präsident Poroschenko nannte den Konflikt „von außen provoziert“[494] und hatte schon im April 2014 die Vermeidung einer drohenden russischen Invasion allen anderen politischen Zielen übergeordnet.[495][496]
Für das militärische Eingreifen Russlands im Donbass hätten sich schon bei der Besetzung der Krim die Anzeichen gemehrt, anstelle eines offenen Krieges schleuste Russland Spezialkräfte, Kriegsgerät aller Art sowie ganze Bataillone von Söldnern ein, so Andreas Kappeler.[497]
Die drei ehemaligen Präsidenten der Ukraine Leonid Kutschma, Wiktor Juschtschenko und Leonid Krawtschuk riefen am 22. Juni 2014 Putin auf, die Aggression gegen die Ukraine einzustellen, und sprachen von erwarteten „konkreten Schritten“ zur Deeskalation. Sie forderten im Weiteren „die Söldner aus Russland“ zur Rückkehr in ihre Heimat auf.[498][499] Juschtschenko erklärte bei dieser Gelegenheit, es handle sich um einen nicht erklärten Krieg („Undeclared war against Ukraine is currently under way“).[499]
Die Strategie Russlands war es – wie auch vom russischen Generalstabschef in einem Artikel erläutert –, durch einen breiten Einsatz von politischen, ökonomischen, informationellen, humanitären und anderen nichtmilitärischen Mitteln ein mögliches Protestpotential der Bevölkerung auszunutzen, ergänzt durch „verdeckte militärische Maßnahmen“, darunter informationelle Aktionen und den Einsatz von Spezialeinsatzkräften.[500] In einem Dokument aus dem Kreml von Februar 2014 wird eine Strategie beschrieben, die russischsprachigen Gebiete von der Ukraine abzuspalten. Dabei müsse man den Zerfall der zentralen Regierungsgewalt nutzen, um auf der Krim und in der Ostukraine separatistische Kräfte zu unterstützen und über die Forderung nach einer Föderalisierung und Souveränisierung der Gebiete einen Anschluss an Russland zu erreichen.[501] Entsprechend unterschieden sich die wahrnehmbaren Taten Russlands sowie die den „Konflikt mit verursachende russische Propaganda“ deutlich von den offiziellen Verlautbarungen des Kremls.[502]
Aus im Zeitraum Juli 2014 abgehörten Gesprächen, welche die Strafermittler des Abschusses von Flug MH17 auswerteten und im November 2019 veröffentlichten, ging hervor, dass auch die Befehlskette der regierungsfeindlichen Kräfte nach Russland und bis zu Verteidigungsminister Schoigu reichte. Zeugenaussagen besagten, dass Schlüsselfiguren Anweisungen aus Russland erhielten. Schon in einer Aufzeichnung vom 3. Juli 2014 hatte Borodai gesagt: „Nun, Sie haben weitreichende Pläne, aber nicht meine. Ich folge Befehlen und schütze die Interessen nur eines Staates, der Russischen Föderation. Das ist im Endeffekt alles.“[503] Die NZZ schrieb dazu:
„Die Mär vom Aufstand der Freiwilligen in der Ostukraine und Moskaus fehlendem Einfluss ist seit längerem entlarvt. Dass die obersten Funktionäre der selbsternannten «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk regelmässig in Moskau ihre Direktiven abholen, ist kein Geheimnis. (…) Nicht minder wichtig sind die Beweise dafür, dass hochrangige Moskauer Funktionäre, neben Schoigu auch der FSB-Chef Alexander Bortnikow, für den Nachschub an militärischen Mitteln und an Personal gesorgt haben.“[504]
Die britische Regierung hatte schon am 21. März 2014 als Antwort auf den Vorwurf Putins, es gebe angeblich gewaltsame Übergriffe im Staat, geantwortet: The single greatest destabilizing force in Ukraine right now is Russia. (Übersetzung: Die einzige bedeutende destabilisierende Kraft in der Ukraine in diesem Moment ist Russland.)[505] Auf die von US-Präsident Obama bei verschiedenen Gelegenheiten „diplomatisch-vorsichtig“ geäußerte „Besorgnis“ über die „angebliche“ russische Einmischung im Südosten der Ukraine hatte Präsident Putin regelmäßig nur geantwortet, dass die geäußerte Vermutung auf „unglaubwürdigen“ Informationen beruhe.[506][507][508][509]
Nachdem 2014 mehr und mehr Freischärler aus Russland in die Ukraine gelangt waren, war das größte ukrainische und deutsche Anliegen an Russland eine bessere Überwachung seiner Grenze.[161] Russland kündigte im Mai 2014 an, dies zu erörtern, auch während der Feuerpause vom 20. bis 30. Juni, blieb aber entweder „tatenlos oder traf wirkungslose Maßnahmen“.[35] Verlautbarungen aus Moskau umschifften diesen Punkt immer wieder.[174] Russland wollte auch einen Monat später, am 24. Juli, weiterhin keine Ausweitung der geplanten Beobachtermission auf die ganze Grenze zulassen, wie es mehrere OSZE-Mitglieder angestrebt hatten. Russland akzeptierte bis 2019 lediglich die Beobachtung von zwei Zonen von je einigen hundert Metern Breite, auf Hunderte von Kilometern der Grenze.[175] Neben dem von Russland nicht verhinderten Fluss von Kriegsmaterial und Freiwilligen über die Grenze beschuldigten nach der Ukraine auch die USA Ende Juli Russland des direkten Beschusses der Ukraine von Russland aus.[510]
Der schwedische Historiker und Russlandexperte Stefan Hedlund erläuterte im August 2014 die fortgesetzte Taktik des Kremls, die Beobachter in kleinen Eskalationen mit den Grenzquerungen von Kriegsmaterial „vertraut“ zu machen und so fortzusetzen: Als Grundlage dienten kleine Schritte der Eskalation, „auf die mit zunehmend ermüdender Routine Verurteilungen folgen. Der Kreml hat den Boden für einen höheren Einsatz bereitet – für eine offenere Operation bei Tageslicht, ohne dass dadurch schärfere Sanktionen provoziert würden.“[511] Eine Steigerung der Intervention Russlands erfolgte insbesondere Ende August 2014, was es den Rebellenmilizen erlaubte, die Geländeverluste durch Hilfe aus Russland zu stoppen.
Nach zuvor nie genannten Gründen, warum die Grenze nicht zu kontrollieren sei, machte Russland im Dezember 2014 nicht näher spezifizierte „Verpflichtungen in Zusammenhang mit den (nicht anerkannten) Wahlen in der Ostukraine“ zur Voraussetzung für eine internationale Kontrolle der Grenze. Zusätzlich verwahrte sich Lawrow gegen Kritik an Russland unter Berufung auf das Prinzip der Nichteinmischung in „innere Angelegenheiten“.[512][513]
Das UNHCHR hatte im Herbst 2014 erhebliche Bewegungen von „militärisch gekleideten Personen“ über die russisch-ukrainische Grenze festgehalten und unter Vermeidung der Formulierung, dass es sich um russische Truppen handle, geschrieben: “The continuing presence of a large amount of sophisticated weaponry, as well as foreign fighters that include servicemen from the Russian Federation, directly affects the human rights situation.” (Die Menschenrechts-Situation wird direkt durch die Anwesenheit von hochentwickelten Waffen und ausländischen Kämpfern, inbegriffen Soldaten der Russischen Föderation, beeinträchtigt.)[470] Im Januar 2015 erklärte Präsident Poroschenko, es stünden 9000 russische Soldaten in der Ukraine.[514] Als „Invasions-Hub“ war der Ort Chkalova nordöstlich von Taganrog in der Oblast Rostow bekannt.[515] Journalisten untersuchten die Spuren des Artilleriebeschusses im Juli 2014 und kamen zum Ergebnis, dass es tatsächlich russische Truppen gewesen seien, die vom Territorium Russlands aus Ziele in der Ukraine mit Artillerie beschossen hätten, um die Niederlage der Freischärlerverbände zu verhindern.[516] Ein Bericht des britischen Royal United Services Institute nannte eine Beteiligung von 117 militärischen Einheiten der russischen Streitkräfte bis Februar 2015, um insgesamt 42.000 Soldaten in Rotationen seit August 2014 in der Ukraine anwesend zu halten. Die russischen Besatzungen der Kampfpanzer vom Typ T-72B3 wussten, dass es zum Kampf in der Ukraine geht, als ihre Gruppen zusammengestellt wurden.[300][517][518] Im Mai 2015 bestätigte auch die OSZE, dass reguläre russische Soldaten als Kampftruppen in den Konflikt involviert sind.[519]
Im Rahmen der Beobachtungen der OSZE wurde im August 2018 erstmals von einer Drohne eine nächtliche Grenzquerung schwerer Lastwagen von Russland in die Ukraine und zurück klar auswertbar dokumentiert, auf einem der unzähligen Feldwege entlang der 400 Kilometer langen Grenze. Nur sporadisch flogen Drohnen der OSZE in diesem riesigen Gebiet, lieferten dazu nicht immer einwandfreie Bilder und wurden auch beschossen.[520]
Per Dekret[521] verfügte Präsident Putin im April 2019 die erleichterte Ausstellung von russischen Reisepässen an Bewohner der regierungsfeindlichen Gebiete. Das Vorgehen war aus Südossetien bekannt, das später russisch besetzt wurde,[522] und erinnerte an die illegale Verteilung russischer Pässe auf der Krim. Die Vorgehensweise ist in der Literatur als Passportisierung („pasportizatsiya“, паспортизация) bekannt und könnte auf die gesamte Ukraine[521] ausgedehnt werden.[523][524][525]
Nach Ansicht der Politologin Gwendolyn Sasse bewirkte der Krieg bis 2018 „das Gegenteil von dem […], was Russland durch seine Unterstützung für die ‚Volksrepubliken‘ zu erreichen hoffte: Die Idee vom ukrainischen Staat ist gestärkt worden und vereint weite Teile des Landes mehr als je zuvor“.[526] Das russische Ziel für die Ukraine war in der Darstellung des Slawisten Ulrich Schmid nicht das heutige ukrainische, sondern das „armenische Szenario“ gewesen, das einer eingeschränkten Souveränität unter russischer Kontrolle.[527]
Russische Propaganda
Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte schrieb Mitte April 2014, die Propaganda im Fernsehen Russlands habe parallel zu den Entwicklungen auf der Krim signifikant zugenommen, darunter völkerrechtlich verbotene Hasspropaganda: Media monitors indicated a significant raise of propaganda on the television of the Russian Federation, which was building up in parallel to developments in and around Crimea. Cases of hate propaganda were also reported.[528] Die russische Propaganda habe Monate zuvor begonnen, als die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU anstand.[529]
„Die ersten 20 Minuten der Nachrichten sind teilweise reine Hasspropaganda“, wertete der Politikwissenschaftler Andreas Umland Anfang März 2014, während die Süddeutsche Zeitung von „inszenierten“ und sogar frei erfundenen Berichten spricht.[530][531] Der Ukraine-Historiker Andreas Kappeler stellte fest: „Eine unheimliche Propaganda-Maschinerie… es ist einfach kaum vorzustellen, die Lügengeschichten, die da erzählt werden.“[532] Und: „Alle Umfragen (dazu) weisen darauf hin, dass es nie innerethnische Antagonismen zwischen Russen und Ukrainern gab. Heute aber gibt es den Konflikt, und er wird durch Propaganda erzeugt.“[502] Es wurde eine in Russland allgemein verbreitete Faschismus-Rhetorik verwendet; so wurde der bewusst an deutsche Aktionen im Zweiten Weltkrieg erinnernde Begriff „Strafaktion“ von Rossija 1 bis August 500 Mal verwendet.[533][534] Der Historiker Timothy Snyder spricht von Nonstop-Propaganda und Phrasen-Recycling. Er beschuldigt Putin, Ukrainer irreführend als „russische Landsleute“ zu bezeichnen und deren Schutzbedürftigkeit vor den „Faschisten“ in Kiew zu postulieren.[535]
Präsident Putin selber nannte die Vorkommnisse in der Ukraine „Terror, Morde und Pogrome“ und die Menschen, die über dieses Land bestimmten (gemeint war die Übergangsregierung), „Nationalisten, Neonazis, Russophobe und Antisemiten“.[536][537][538] Verärgerte Vertreter der jüdischen Gemeinden selbst schrieben einen offenen Brief an Putin und forderten ihn auf, die „beliebig ausgewählten Lügen und Beschimpfungen“ zu stoppen. Sie schrieben: „Wir leben in einem demokratischen Land und können uns Meinungsunterschiede leisten“, auch wenn sie nicht in allem einig seien und die Stabilität der Ukraine angegriffen sei; angegriffen „von der russischen Regierung, namentlich von Ihnen persönlich“.[539]
Die russische Zeitung Wedomosti berichtete Anfang Mai 2014, Präsident Putin habe dreihundert Journalisten für ihre Krim/Ukraine-Berichterstattung mit bestimmten Orden ausgezeichnet.[540] Die Website der Zentralen Wahlkommission der Präsidentschaftswahl wurde manipuliert und das Bild eines Nationalisten eingeschleust, der angeblich die Präsidentenwahl gewonnen habe, der aber tatsächlich weniger als 1 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die ukrainischen Behörden konnten diese Manipulation rückgängig machen, im russischen Fernsehen wurde die Grafik mit der Falschmeldung, ein Nationalist sei zum Präsidenten der Ukraine gewählt worden, jedoch gezeigt.[541]
Am 11. und 12. Juni behaupteten russische Fernsehsender, ukrainische Verbände hätten Brandangriffe mit weißem Phosphor bei Semeniwka durchgeführt. Der russische Außenminister Sergei Lawrow forderte eine Untersuchung. Menschenrechtler stellten fest, dass ein Teil der Aufnahmen, die das russische Fernsehen zu der Geschichte ausgestrahlt hatte, US-amerikanische Angriffe im Irak von 2004 zeigte. Auch zeigten die Originalaufnahmen nach dem Urteil der Menschenrechtler keinen Brandangriff.[542]
Journalisten nahmen nach einem Abflauen der Propaganda Anfang Juli bald wieder eine deutliche Verstärkung der Bemühungen wahr.[543] So trat im russischen Staatsfernsehen am 11. Juli eine angebliche Augenzeugin auf, die von der öffentlichen Kreuzigung und anschließenden Ermordung eines dreijährigen Kindes durch ukrainische Truppen in Slowjansk berichtete. Der Vorfall ließ sich weder bestätigen, noch passten die beschriebenen Örtlichkeiten zu denen in Slowjansk. Journalisten vermuteten einen Zusammenhang mit einer ähnlichen Geschichte, die der rechtsradikale Nationalist Alexander Dugin auf Facebook zwei Tage zuvor verbreitet hatte.[544][545] Offizielle Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika beschuldigten am 22. Juli die russische Regierung, einen starken Druck auszuüben, damit Untergebene und Russland freundlich gesinnte Elemente die Medienlandschaft manipulieren, um die russische Version der Ereignisse zu verbreiten.[207]
In russischen Staatsmedien traten auch ausländische Politiker als Unterstützer Russlands und als vermeintlich wichtige Experten auf, die in ihren Heimatländern jedoch den politischen Rändern zugeordnet werden. Dazu gehören aus Deutschland Christoph Hörstel, Gunnar Lindemann und Andreas Maurer. Letzterer behauptete zum Beispiel, die Armee der Ukraine führe Krieg gegen die Bevölkerung der besetzten Ostukraine. Solche Propagandaauftritte dienen laut Anton Schechowzow dazu, der russischen Bevölkerung den Anschein zu vermitteln, Russland sei international nicht isoliert und werde auch im Westen unterstützt.[546][547][548]
Auch noch im Februar 2015 sprach Präsident Putin von einem „Genozid“ in Bezug auf die Gasversorgung im Donbas. In Moskau wurde mit einer Demonstration am Jahrestag der Maidan-Toten am 22. Februar 2015 vor einem Maidan in Russland gewarnt. Über die versammelten Demonstranten wurde von einigen Medien bemerkt, sie hätten keine eigene Meinung gehabt, wären zur Teilnahme aufgefordert oder gar dafür bezahlt worden.[549]
Die russische Propaganda verbreitete das Narrativ der ukrainischen „Nazis“ durchgehend bis zur Invasion 2022. Schockierte Familienmitglieder von durch die Kontaktlinie getrennten Familien stellten fest, dass die Menschen auf russischer Seite die Propaganda für glaubwürdiger hielten als die Berichte der eigenen Familienmitglieder.[550] Die OSZE-Mission hingegen bestätigte die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten in der Ukraine und konnte keine Verfolgung der russischen Sprache und ethnischer Russen feststellen.[551]
Offizielle Verlautbarungen
Russlands Präsident Putin erklärte vor der Wahl vom 25. Mai 2014 stets, dass „juristisch gesehen“ Wiktor Janukowytsch der legitime Präsident der Ukraine sei. Das Verlassen des Landes sei keine verfassungsmäßige Grundlage für seine Absetzung gewesen, da dieser Fall so nicht in der Verfassung der Ukraine festgeschrieben sei wie z. B. Krankheit oder Tod.[552] Gleichzeitig erklärte Putin, dass er für Janukowytsch keine politische Zukunft mehr sehe.[553] Janukowytsch nannte später die Abtrennung der Krim eine Tragödie und forderte von Putin deren Rückgabe an die Ukraine.[553]
Der Vertreter Russlands bei der Vereinbarung vom 21. Februar, Wladimir Lukin, bezeugte die Vereinbarung nicht mit seiner Unterschrift.[554] Das offizielle Russland berief sich dennoch immer wieder auf dieses gescheiterte Abkommen, so auch noch im September 2014.[555]
Putin selbst benannte die Vorgänge in der Ukraine bei seiner Rede vom 18. März 2014 als „Terror, Mord und Pogrom“, ausgeführt von „Nationalisten, Antisemiten, Neonazis und Russophoben, die in der aktuellen Regierung in Kiew über das Leben in der Ukraine bestimmen“.
Putin erwähnte in seiner Rede vom 18. März auch, dass die Menschen in der Ukraine gelitten hätten unter den zuvor korrupten Regierungen und dem Kampf um Honigtöpfe. „Man kann verstehen, warum die Ukrainer Veränderungen wollten“.[556] Putin verstehe „sehr gut, wer mit friedlichen Parolen auf den Maidan gekommen ist gegen Korruption, ineffiziente Staatsverwaltung und gegen die Armut und für das Recht auf demokratische Prozeduren“.
Am 29. März sagte Sergei Lawrow, Russland habe „nicht die geringste Absicht“, mit seinen Truppen die Grenze zur Ukraine zu überqueren. In einem Telefongespräch mit US-Präsident Barack Obama warnte Wladimir Putin vor „Extremisten“ in Kiew und zeigte sich zudem besorgt über eine „äußere Blockade“ Transnistriens. Auch dort wolle Russland aber nicht militärisch eingreifen.[557] Nach einem Treffen mit John Kerry am 30. März in Paris nannte Sergei Lawrow eine föderalisierte Ukraine eine Bedingung für Gespräche mit der ukrainischen Übergangsregierung. Kiew müsse sich außerdem verpflichten, nicht der NATO beizutreten.[558]
Am 8. April äußerte Putin die Hoffnung, „dass die Übergangsregierung in Kiew nichts tun werde, was später nicht korrigiert werden kann“.[559] Einige Tage vorher hatte Russland bekanntgegeben, den Vertrag über die Aussendung des von der US-Regierung finanzierten Radiosenders Voice of America über Mittelwelle nicht verlängern zu wollen.[560] Am 15. April 2014 kritisierte der russische Präsident Wladimir Putin das militärische Vorgehen der ukrainischen Übergangsregierung „gegen das eigene Volk“ und verlangte in einem Telefonat mit Ban Ki-moon, dass die UNO „das verfassungswidrige Vorgehen der Machthaber in Kiew verurteilen“ müsse.[561]
Am 23. April betonte der russische Außenminister Lawrow, ein Angriff auf russische Bürger sei ein Angriff auf die Russische Föderation, und verwies auf Südossetien, wo Russland im Kaukasuskrieg 2008 eingegriffen hatte.[562] Er zeigte sich weiterhin überzeugt, dass die USA die Fäden in der Ukraine ziehen.[563]
Am 12. Mai forderte Russland die „friedliche“ Umsetzung der Resultate des fragwürdigen Referendums vom 11. Mai, für das Putin noch Tage zuvor eine Verschiebung vorgeschlagen hatte. Außenminister Lawrow sagte, dass von Russland nicht erwartet werden könne, sich von den Separatisten abzuwenden: „Von Russland kann nicht verlangt werden, dass es die Milizen ohne weiteres hinzunehmen zwingt, dass sie entweder endgültig ausgerottet werden oder sich auf Gnade und Ungnade ergeben müssen.“[564] Putin warf den ukrainischen Truppen am 28. August Gräueltaten vor, verglich sie mit denen der Nazis während der Belagerung von Leningrad und beglückwünschte anschließend die Separatisten zu ihren Erfolgen. Man wolle nicht und werde nicht in einen solchen Krieg hineingezogen werden.
Am 29. August sagte Putin, die russischen Streitkräfte und ihre Kernwaffen würden jeder Aggression entgegentreten[565] und Russland sei weit davon entfernt, sich in irgendwelche großen Konflikte einzumischen. Am 1. September sagte der russische Außenminister Lawrow erneut zu, Russland habe keine Absicht, militärisch in der Ukraine zu intervenieren: „Es wird keine Militärintervention geben.“ Die Regierung in Moskau wies auch die Vorwürfe der ukrainischen Regierung zurück, Hunderte von Panzern und Tausende von Soldaten in die Ukraine verlegt zu haben.[566]
Wie zuvor schon andere Nichtregierungsorganisationen in Russland wurden die Soldatenmütter zu „ausländischen Agenten“ erklärt, als sie Zahlen veröffentlichten, nach denen bis zu 15000 russische Soldaten schon zum Kampf in der Ukraine gewesen sein sollten.[567]
Lawrow warnte am 4. September 2014 die NATO vor einer weiteren Annäherung an die Ukraine; am blockfreien Status der ehemaligen Sowjetrepublik dürfe nicht gerüttelt werden.[568]
Auch während des G20-Gipfels in Australien im November stellte sich Putin einerseits auf den Standpunkt, es stünden keine Russen in der Ukraine.[569] Der Präsident verneinte jedoch nicht, er extemporierte auf die Frage, ob Russland die Separatisten mit Waffen und mit Soldaten unterstütze.[570] Er äußerte zusätzlich die Befürchtung, die Ukraine „könnte ethnische Säuberungen durchführen“ und „in den Neo-Nazismus abdriften“.[571] Putin legte der Ukraine Ende Oktober nahe, falls sie die Einheit des Staates wolle, dann solle sie sich „nicht an den Besitz einzelner Ortschaften klammern“ – das wichtigste sei vielmehr, den Krieg unverzüglich zu beenden.[279]
Am 4. Dezember 2014 hielt Putin die jährliche „Rede zur Lage der Nation“ vor der Föderationsversammlung (den beiden Kammern des russischen Parlaments).[572][573] Ein FAZ-Kommentar charakterisierte die mit Elementen von Verschwörungstheorien versehene Rede „eine krude Mischung aus halsbrecherischer Rechtfertigung seiner Ukraine-Politik, der Stilisierung Russlands als Opfer westlicher Weltherrschaftsgelüste und Drohungen gegen Europa und vor allem gegen die Vereinigten Staaten“.[283][574] Berthold Kohler, einer der vier Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, resümierte nach der Rede, Putin führe „bereits einen neuen Kalten Krieg gegen den Westen“; der Westen müsse sich fragen, was für weitere „Großtaten“ Putin – möglicherweise über Gebiete wie Ost-Ukraine, Moldawien oder das Baltikum hinaus – im Schilde führe.[575]
Am 23. Dezember 2014 wurde nach einer Telefonkonferenz der sogenannten „Normandiegruppe“, bestehend aus Petro Poroschenko, Putin, François Hollande und Angela Merkel, offiziell bekanntgegeben, dass innerhalb von Tagen die Minsker Friedensgespräche wiederaufgenommen würden.[576] Beim Treffen am 24. Dezember einigte man sich auf einen Gefangenenaustausch (150 gefangene Soldaten der ukrainischen Armee gegen 225 „Separatisten“).
Lawrow betonte Anfang Februar 2015, die Gespräche mit Merkel und Hollande gäben Anlass zu einem gewissen Optimismus. Russland präsentierte er als armes Opfer westlicher Machenschaften. Seine mit wilden Behauptungen gespickte Rede empfanden manche als Paradebeispiel hybrider Kriegführung.[577][578]
Ende Mai 2015 unterzeichnete Putin ein Dekret, dass die Zahl der Toten in den Reihen der russischen Armee in Friedenszeiten als Offizielles Staatsgeheimnis zu gelten habe. Damit sollen offenbar Berichte über Tote in der Ostukraine unterbunden werden.[579] Nach einer Klage von Menschenrechtsaktivisten bestätigte das Verfassungsgericht das Gesetz.[580]
Putin warnte vor dem Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 die Ukraine davor, dass Kriegshandlungen während der Spiele „sehr schwere Folgen für die ganze ukrainische Staatlichkeit haben“ würden.[581]
Im Juli 2021 erklärte Putin, die Ukraine sei ein „vom Westen unmittelbar regiertes Anti-Russland“.[582]
Im November 2021 bewertete Putin die „Anspannung“ des Westens als Zeichen dafür, dass Russlands Einwände gegen die NATO-Osterweiterung „ernst genommen würden“ und bemerkte gegenüber seinen Beamten, dass die Anspannung aufrechterhalten werden müsse, um „langfristige rechtliche Sicherheitsgarantien“ vom Westen zu erhalten.[582][583] Zuvor hatte Putins Stellvertreter im Sicherheitsrat, Dmitri Medwedew, erklärt, dass ein Dialog mit der Ukraine „überflüssig“ („sinnlos“) sei.[584] Russland forderte die NATO im Dezember erneut auf, die 2008 ausgesprochene Beitrittsmöglichkeit der Ukraine und Georgiens zu widerrufen sowie NATO-Militärübungen in russischer Grenznähe für die Zukunft auszuschließen. Gleichzeitig begann Russland laut Angaben der Ukraine eine Militärübung im Asowschen Meer, bei der die russische Marine Teile des Meeres gesperrt hätte.[585] Wenige Tage vor Weihnachten erklärte der russische Botschafter für die EU, dass Russland keine Invasion plane.[586]
Russland forderte im Januar 2022 von der NATO Sicherheitsgarantien; das Militärbündnis solle keine weiteren Mitglieder aufnehmen und seine Truppen aus Osteuropa abziehen.[587] Beim Treffen des NATO-Russland-Rates am 12. Januar kam es zu keinen substantiellen Vereinbarungen,[588] der russische OSZE-Botschafter Alexander Lukaschewitsch warnte vor einem „Verschleppen der Verhandlungen“, dies könne zu einer „unvermeidlichen Verschlechterung der Sicherheitslage ausnahmslos aller Staaten“ führen. Russland sei ein friedliebendes Land. „Aber wir brauchen keinen Frieden um jeden Preis.“[589] Präsidentensprecher Peskow beklagte sich am 16. und 17. Februar, kein einziger westlicher Vertreter erwähne je das „enorme Angriffspotential“ der ukrainischen Streitkräfte. Die „provokativen Aktionen Kiews“ hätten zugenommen und dies könne „jederzeit“ die Situation explodieren lassen.[590] Nach seiner Rede vom 21. Februar zur Anerkennung der Vasallenstaaten in Donezk und Luhansk folgte Putins Ansprache vom Morgen der Invasion am 24. Februar 2022, er nannte sie eine „militärische Spezialoperation“.[591]
Der russische Präsident drohte am 8. Juli im Kreml, dass Russland in der Ukraine „noch gar nicht ernsthaft begonnen habe“, es laufe auf eine „Tragödie für das ukrainische Volk“ hinaus.[592]
Waffensysteme der russischen Streitkräfte in der Ukraine 2014–2021
Die russische Propaganda verbreitete die Legende, der plötzliche Besitz gepanzerter Fahrzeuge der regierungsfeindlichen Kräfte erkläre sich aus deren Erbeutung aus einem Depot bei Artemiwsk (Perewalsk). Tatsächlich jedoch war von fünf Angriffen auf das Depot von Frühling bis Sommer 2014 keiner erfolgreich gewesen. Die tatsächlichen meist nächtlichen Lieferungen von Kriegsmaterial von Russland über die Grenze war verschiedentlich von ukrainischen Stellen gemeldet worden,[593] jedoch erst im August 2018 von OSZE-Beobachtern erstmals in auswertbarer Form dokumentiert worden.[520]
Der Abschuss von Malaysia-Airlines-Flug 17 erfolgte durch ein den russischen Streitkräften zuzuordnendes Buk-System.[594] Schon ab August 2014 waren T-72-Panzer der nur von den russischen Streitkräften benutzten Version T-72B3 in der Ukraine eingesetzt worden[595][596] sowie T-90A.[597] Ebenso früh war von ausschließlich russischen Raketenwerfer-Systemen „Tornado“ die Rede, dieses System wird sogar im Memorandum zu den aus den Kampfgebieten zurück zu ziehenden schweren Waffen gemäß Minsker Protokoll im September 2014 erwähnt.[598][599]
Zwei Beobachtungs-Drohnen der OSZE wurden von (pro-)russischen Truppen mittels konzentrierter Mikrowellen (also mit den neuesten High-Tech-Waffen einer modernen Armee) zum Absturz gebracht.[600][601] Im Mai 2015 wurde eine russische IAI Searcher Feuerleit-Drohne über der Ukraine abgeschossen, die erst zum Jahreswechsel 2013/14 bei den russischen Streitkräften eingeführt worden war.[602] Kurz darauf veröffentlichte Bellingcat eine (weitere) Lokalisierung eines modernen russischen Panzir-S1-Systems in Luhansk.[603] Die seit September 2014 bekannte und im Spätherbst 2014 auf ukrainischer Seite vorsichtig gemeldete Präsenz von 240-mm-Mörsern des russischen Typs 2S4[604] wurde im Juli 2015 nach einer Sichtung durch die OSZE bestätigt.[605] Schon im August 2014 war das Wintores-Scharfschützengewehr beim Vorstoß der russischen Truppen bei Ilowajsk im Einsatz gewesen,[606] im Frühjahr 2015 trug ein in der Ukraine gefangengenommener russischer Soldat ein solches Gewehr bei sich.[607] Die OSZE dokumentierte nach früheren Beobachtungen der ukrainischen Seite im August 2015 und August 2016 selber russische Störstationen R-330ZH „Schitel“, mit der Mobilfunknetze unterdrückt werden können.[608][609][610] Ende September 2015 meldeten die OSZE-Beobachter ein Waffensystem des Typs TOS-1 „Buratino“ in der Ostukraine.[611] Sie hatten den Mehrfachraketenwerfer am 26. September auf einem Übungsgelände der Separatisten, 31 km südwestlich von Luhansk, entdeckt.[612] BPM-97 waren schon 2015 in Debalzewe eingesetzt worden.[593] Die OSZE dokumentierte 2018 im Weiteren die Anwesenheit eines Systems vom Typ Krassucha zur elektronischen Störung und weitere 3 solcher russischen Systeme.[613]
Russische „Freiwillige“ 2014–2021
Zur Verschleierung der Anwesenheit russischer Soldaten in der Ukraine schieden diese nach übereinstimmenden Berichten offiziell aus dem Militärdienst aus, um danach mit einem inoffiziellen Vertrag in die Ukraine zu gelangen. Oft wurden die geleisteten Dienste trotzdem mit dem für die Streitkräfte üblichen Begriff „Dienstreise“ bezeichnet. Neben diesen Zeitsoldaten waren offenbar aber auch gewöhnliche Rekruten der russischen Streitkräfte, also Wehrpflichtige, in der Ukraine im Einsatz, deren Beteiligung an Kampfhandlungen laut dem Gesetz verboten ist. Damit nahmen auch nicht alle russischen Soldaten freiwillig am Krieg teil.[614] Gegenüber der OSZE hatten Gefangene die Aussage gemacht, dass sie „Bestandteil von russischen Einheiten seien, die im Rotationsverfahren in der Ukraine kämpfen“.[615] Nach Informationen von Fachleuten aus Kreisen der russischen Opposition um Boris Nemzow wurden für die angeblichen Freiwilligen 80.000 Monatslöhne zu eintausend Euro eingesetzt. Ein solcher Lohn entspricht fast dem Doppelten eines russischen Durchschnittseinkommens, gleichzeitig bedeutete diese Zahl, dass zehn Monate lang je 8000 Personen Lohn erhalten hatten.[598] In einem Bericht von Gazeta.ru war im Sommer 2015 von einem Gehalt von 140 Euro pro Tag die Rede sowie einem in Russland mit zahlreichen Vergünstigungen versehenen Veteranenstatus.[616]
Der Nachteil des inoffiziellen Status eröffnete sich den Soldaten und Angehörigen insbesondere im Falle einer Verhaftung, Verwundung oder des Todes, da im Unterschied zu einem Vertragssoldaten keine offiziellen Untersuchungen, keine Renten und andere staatlichen Leistungen zu erwarten waren.[517][300] Auch die beiden im Mai 2015 gefangenen russischen Soldaten, die in Kiew den Besuch des russischen Botschafters wünschten, wurden von jenem ignoriert.[617] In russischen Medien war davon die Rede, dass es „sinnvoller sei“, freiwillig in der Ukraine eingesetzt zu werden, als in den Kasernen zu sitzen.[618]
Aus Angst vor einem Einsatz in der Ukraine nahm aber die Zahl der Fahnenflüchtigen zu: In der Republik Adygeja wurden im ersten Halbjahr 2015 nicht weniger als 62 Verfahren wegen unerlaubten Entfernens (bzw. eigenmächtiger Abwesenheit) von der Truppe und Desertion eingeleitet, verglichen mit 35 solcher Verfahren in den Jahren 2010–2014.[616]
Bereits im August 2014 sorgten frische, vorerst namenlose Gräber auf einem Friedhof in Pskow im Nordwesten Russlands für mediales Aufsehen. Lokale Medien berichteten, dass dort russische Soldaten von der Eliteeinheit der 76. Gardedivision der russischen Luftlandetruppen begraben wurden, die in der Ostukraine gestorben waren. Einige Verwandte der Getöteten bestätigten zunächst, dass die Soldaten bei der Schlacht um Luhansk ums Leben kamen, zogen ihre Aussagen jedoch wieder zurück, nachdem sie eingeschüchtert worden waren. Von Russland hieß es weiterhin offiziell, dass keine russischen Soldaten in der Ukraine kämpften und es in der Fallschirmjägerbrigade keine neuen Todesfälle gegeben habe. Im Jahr 2018 wurden, finanziert vom russischen Verteidigungsministerium, die Sandhügel und namenlosen Kreuze auf dem Friedhof durch Grabsteine aus Granit mit Namen, Dienstabzeichen, Porträts in Lebensgröße und Kränzen des Militärs ersetzt. Solche Versorgungsgelder stehen nur Veteranen mit 20-jähriger Berufszugehörigkeit und Teilnehmern an Kampfhandlungen zu.[619]
Mitte Mai 2015 wurden bei Luhansk zwei Angehörige der russischen 3. Garde-Spezialaufklärungsbrigade festgenommen.[620]
Im August 2015 wurde in einer russischen Internetquelle unbeabsichtigter Weise von einer Zahl von 2000 gefallenen und 3200 schwer verwundeten russischen Militärangehörigen berichtet; diese Quelle wurde nach kurzer Zeit gelöscht.[621] Nicht offiziell dementiert[622] wurde ein Bericht im Jahr 2017 von Wedomosti: Aufgrund von Fall-Anmeldungen beim Versicherer von Angehörigen der russischen Streitkräfte ließen sich für die Gefechte von Ilowajsk im August 2014 die Verluste unter der russischen Truppen auf nicht über 170 Personen schätzen.[623][624]
Ein Offizier der russischen Streitkräfte, Oleg Leontjew, bat im Jahr 2018 vor einem russischen Militärgericht um eine Strafmilderung in Anbetracht seiner Kampfhandlungen und Verdienste in der Ukraine. Dies galt als erstes vor Gericht protokolliertes Eingeständnis eines russischen Soldaten über die Truppenpräsenz Russlands in der Ukraine. Der wegen Tötung eines Soldaten unter merkwürdigen Umständen[625] angeklagte Leontjew sagte, dass er auf dem Territorium des Nachbarstaates, wo russische Truppen offiziell nicht aktiv waren, an militärischen Operationen teilgenommen habe.[626] Ein weiteres Gerichtsverfahren offenbarte 2021 detailliert die Logistik, welche Russland zur Versorgung der regierungsfeindlichen Kräfte betrieb und enthielt als deren Bezeichnung „militärische Einheiten der Streitkräfte der Russischen Föderation, stationiert auf dem Gebiet der DNR und der LNR“. Nachdem Präsidentensprecher Peskow den Sachverhalt energisch dementiert hatte, erklärte das Gericht, diese Aussage des Angeklagten sei von ihm nicht inhaltlich geprüft worden.[627]
Finanzierung der Separatisten
Im April 2022 wurde angeblich Hausarrest gegen Wladislaw Jurjewitsch Surkow verhängt. Grund sei die Veruntreuung von Geldern, die für die ostukrainischen Separatisten gedacht waren.[628] Zuvor hatte laut dem Nemzow-Bericht Igor Girkin mitgeteilt, dass er auf Druck des Kremls von seinem offiziellen Amt im Donbass zurückgetreten sei. Er erklärte auch, dass Surkow im Donbass eine entscheidende Rolle spiele.[629]
Rückhalt in der Bevölkerung
Der Rückhalt in der Bevölkerung für die Bewaffneten („mehr oder minder starke Sympathie für die bewaffneten Besetzer“) betrug im April 2014 gemäß einer Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS)[630] etwa 11 Prozent. Laut einer anderen Umfrage der Domestic Initiatives Foundation vom 3. März 2014 war etwa in Donezk nur rund ein Drittel der Bevölkerung für eine mögliche Angliederung an Russland. In Luhansk und Odessa waren es 24 Prozent. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung sprachen die Medien bis Mitte August 2014 von durchgehend schwindendem Rückhalt.[631][632][633][634] Ein Problem, so ein russischer Agent in einem abgehörten Telefonat, seien jene Angehörigen, die kriminell seien, aber auch jener Teil der religiösen russisch-orthodoxe Fanatiker, „die jeglichen Bezug zur Realität verloren hätten“.[635] Auch im April 2015 nach Russland zurückkehrende Freischärler erklärten, sie seien von der misstrauischen Bevölkerung gelegentlich als Okkupanten bezeichnet worden.[636] Mitte Juni 2015 fand sich der Chef der Donezker „Volksrepublik“ in einer spontanen Anti-Kriegs-Demonstration wieder. Der russische Journalist Pawel Kanygin von der Novaya Gazeta hatte darüber berichtet und wurde festgehalten, geschlagen und auf ein Feld an der russischen Grenze deportiert.[637] Auch anderen Journalisten, die „ungünstig“ berichtet hatten, wurde eine benötigte Akkreditierung verweigert. „Wir machen hier die Regeln für unsere Gäste, wenn Sie das nicht mögen, kommen Sie doch einfach nicht hierher“ ließ man einen niederländischen Journalisten wissen. Damit glich sich die Lage für Journalisten derjenigen in Russland an, wo Simon Ostrovsky von VICE News wegen seiner Recherchen für unerwünscht erklärt worden war.[638]
In den Jahren 2017/2018 legte der stellvertretende Leiter der OSZE-Mission wiederholt Wert auf die Feststellung, dass die Bevölkerung nicht nur nicht wisse, warum dieser Konflikt angefangen hatte, sondern sie verstehe ebenso wenig, warum er nicht aufhöre.[358]
Auswirkungen auf die Einwohner
Bis zum 6. Mai 2022 hatten nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissars 5,8 Mio. Menschen das Land verlassen, etwa 400.000 davon wurden bis dahin als Flüchtlinge in Deutschland erfasst. Seitdem sich die russischen Truppen aus dem Gebiet um Kiew zurückgezogen haben und die Kriegshandlungen vornehmlich im Osten und Süden des Landes stattfinden, kehren etwa 20.000 Menschen pro Tag zurück (Zahlen von Ende April 2022).[639]
Auch die Zahl der Binnenflüchtlinge ist hoch: Allein die ukrainische Eisenbahn (UZ) hat in den ersten zwei Monaten des Krieges etwa 4 Mio. Menschen, das sind etwa 10 % der Bevölkerung der Ukraine, aus östlichen in westliche Landesteile gebracht. Die Eisenbahn ist auch von großer Bedeutung für Hilfstransporte. Damit wurde die Eisenbahninfrastruktur aber auch zu einem bevorzugten Ziel russischer Angriffe.[639] So wurden bei dem russischen Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk am 8. April 2022, wo mehrere hundert Zivilisten auf die Evakuierung mit der Bahn warteten, 58 Menschen getötet und über 100 weitere verletzt.[640]
Ukrainische Armee und ihre Ausrüstung von Januar 2014 bis März 2022
Die „nicht einsatzfähige und kaputtkorrumpierte“[641] Armee der Ukraine war zu Beginn 2014 in einem seit Jahren beklagten desolaten Zustand, sie war unterfinanziert und sowohl schlecht ausgebildet als auch ausgerüstet; die neueste Waffengeneration fehlte gar vollständig.[642] Als möglicher Gegner war schon in den Jahren zuvor Russland genannt worden.[643] Den Ukrainern war das Bestreben Russlands, „russische Erde zu sammeln“, auch schon vor dem gegen Georgien geführten Krieg bekannt, weshalb sie sich beispielsweise gegen die Unterstützung des Kosovo aussprachen.[644]
Während des Krieges mit Georgien wuchsen in der Ukraine die Befürchtungen betreffend der Krim, da die Beziehungen zu Russland seit der Orangen Revolution „den Charakter eines Dauerkonflikts“ aufwiesen.[645]
Im April 2014 bildeten sich paramilitärische Freiwilligenverbände, um die Armee zu unterstützen, die laut Alexander J. Motyl eine tatsächlich einsetzbare Truppenstärke von nur rund 6000 Mann aufgewiesen habe.[646] Meist wurden die Freiwilligenbataillone nach denjenigen ukrainischen Regionen benannt, aus denen die meisten Rekruten stammten; in der Oblast Dnipropetrowsk wurde mit Unterstützung des Gouverneurs Ihor Kolomojskyj das Bataillon Dnipro aufgestellt.[647]
Aus dem Donbass stammt das Bataillon Donbas, das von Semen Sementschenko gegründet wurde.[648] Das Bataillon Asow, inzwischen Regiment Asow, wurde in Berdjansk in der Region des Asowschen Meeres aufgestellt. Das Sankt-Maria-Bataillon bildete sich aus christlichen Freiwilligen. Sie folgten damit der Linie des Patriarchen von Kiew, Filaret, der Putin in Aussagen im September 2014 als „neuen Kain“ und somit als „Brudermörder“ und „besessen“ bezeichnete.[649][650]
Diese Einheiten waren formell dem ukrainischen Innenministerium bzw. der Nationalgarde unterstellt und kamen seit Mai 2014 in der Ostukraine zum Einsatz. Der Politiker Oleh Ljaschko vereidigte am 8. Juli in Dnipropetrowsk die Kampfeinheit Bataillon Schachtar.[651]
Anfang Juli 2014 wurde bekannt, dass auch die rechtsextreme Organisation Prawyj Sektor (dt. „Rechter Sektor“) über einen paramilitärischen Freiwilligenverband verfügte, der an den Kampfhandlungen beteiligt war.[652][653]
In den acht Jahren von 2014 bis 2022 gab es große Veränderungen. Es gab ukrainische Untersuchungen in Fällen von Militärs und Freiwilligen, die im Donbass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten. Die Freiwilligenbataillone wurden in die Befehlsstrukturen integriert. Ein spezieller Dienst für militärisch-zivile Zusammenarbeit wurde geschaffen, um Aktionen mit humanitären Organisationen und Anwohnern zu koordinieren.[654] Von 2017 bis 2021 importierte die Ukraine nur 0,1 Prozent der weltweit gehandelten Waffen. «Es fehlt der Ukraine an Geld. Und viele Staaten weigerten sich, ihr Waffen zu liefern, um nicht den russischen Unmut anzuheizen», so Pieter Wezeman vom Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI. Bei den von der ukrainischen Rüstungsindustrie hergestellten Waffen handele es sich laut Wezeman nicht um hochmodernes Kriegsgerät und auch nicht um große Stückzahlen. Gekauft hat die Ukraine von Frankreich, Polen und Litauen unter anderem Panzerabwehrwaffen, Transporthelikopter und – was am meisten Aufsehen erregte – türkische Drohnen. «Es sind allerdings bloss zwölf Stück – und keine Superwaffen», sagte der Sipri-Fachmann. Erst nach dem russischen Angriff auf die Ukraine nahmen die Waffenlieferungen – vor allem aus westlichen Ländern – deutlich zu.[655]
Schon bei Ausbruch der Kämpfe hatte sich die Ukraine um Waffenlieferungen aus dem Westen bemüht. Obama verhinderte die vom Kongress bewilligte Lieferung von Panzerabwehrwaffen 2014. Israels Außenministerium hatte den Verkauf von Drohnen an die Ukraine aus Rücksicht auf die Beziehungen mit Russland untersagt.[656] In den folgenden Jahren gelangten die ersten Waffen aus nicht-staatlichen Verkäufen in die Ukraine, zum Beispiel 100 Stück amerikanische Nachbauten sowjetischer Panzerfäuste vom Typ RPG-7 (PSRL-1). Mindestens fünf osteuropäische Staaten lieferten sowjetisches Material. Litauen lieferte als einziges Land ab 2016 offiziell 40 Maschinengewehre für Schützenpanzer und 68 tragbare Maschinengewehre; 2017 folgten weitere Lieferungen.[657]
Im Juni 2014 kündigte eine Sprecherin des US-Verteidigungsministeriums die Entsendung einer kleinen Gruppe von Militärberatern in die Ukraine an, welche die mittel- und langfristigen Reformbedürfnisse der Ukrainischen Streitkräfte beobachten sollen.[658]
Im September entsandte das US-Verteidigungsministerium mehr als ein Dutzend Militärangehörige nach Kiew, um den ukrainischen Sicherheitskräften Ratschläge zur Aufstandsbekämpfung und taktischer Militärplanung zu geben. Zu den Zielen der US-Militärs gehören auch Bewertungen von Sicherheitsanforderungen und die Suche nach Wegen zur Bereitstellung militärischer Ausrüstung durch die USA.[659]
Aus Großbritannien begann 2015 durch einen privaten Anbieter die Lieferung von 75 ausgemusterten Saxon-Mannschaftstransportern in die Ukraine. Das Geschäft mit den als nicht für einen Fronteinsatz tauglich eingeschätzten Fahrzeugen war im Jahr 2013, also noch vor dem Krieg, zustande gekommen.[660][661]
Laut der ukrainischen Parlamentspräsidentin Olena Kondratjuk hätten ab Beginn des Kriegs bis 2021 mehr als 13.500 Soldatinnen der ukrainischen Streitkräfte gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine gekämpft.[662]
Ab Herbst 2021 waren aufgrund eines erneuten russischen Truppenaufmarsches an der Grenze weitaus mehr NATO-Staaten bereit, die Ukraine direkt zu unterstützen: Waffen lieferten Estland (Javelin), USA, Lettland, Litauen (Stinger), Polen (Grom–MANPADS), Tschechien (Artilleriemunition), dazu Großbritannien (Panzerabwehr). Die USA stellen Radargeräte zur Artillerieortung, Aufklärungsdrohnen, Geländewagen sowie Panzerabwehrraketen, Scharfschützengewehre und Küstenpatrouillenboote bereit. Die Türkei lieferte Kampfdrohnen des Typs Bayraktar TB2 und kündigte die Lieferung von Kriegsschiffen an. Polen, Bulgarien und Montenegro sollen Munition für Waffen sowjetischer Bauart geliefert haben.
Zu Beginn des russischen Überfalls im Februar 2022 war die Ausrüstung der ukrainischen Armee immer noch mangelhaft und wild zusammengewürfelt; oft hatten viele Soldaten verschiedene Ausrüstungen, die auch nicht alle vom Staat stammten und oft unzureichend waren,[663]
Soldaten wurden von ihren Müttern oder Ehefrauen mit Kampfausrüstung versorgt, die diese in Mitteleuropa eingekauft hatten.[664] Viele Soldaten fuhren mit Privatfahrzeugen an die Front. Ex-Präsident Kutschma, jahrelanger Unterhändler mit Russland, bedauerte, dass es der Ukraine in den Jahren des hybriden russischen Krieges nicht gelungen war, jene weitreichenden schweren Waffen zu erhalten, welche als einzige Russland hätten abschrecken können, eine Invasion zu beginnen.[665]
Einflussnahme von ausländischen Freiwilligen auf die Kämpfe
Seit Beginn des Konfliktes in der Ostukraine nahmen ausländische Freiwillige an den Kämpfen teil. Aus mehreren Ländern (Russland, Tschetschenien, Bosnien) kämpfen Personen auf beiden Seiten.[666] Verglichen allein mit der Zahl der Toten – seit Beginn der Auseinandersetzungen bis zum Frühjahr 2015 mehr als 6000 – ist die Zahl dieser Freiwilligen gering. Einen wirklichen Einfluss auf den Verlauf hatten hingegen lediglich die vermeintlichen Freiwilligen aus Russland.
Auf Seiten der Ukraine
Laut Medienberichten kämpfen bis zu 300 Ausländer aus 18 Staaten auf Seiten der ukrainischen Truppen.[667] Sie stammen aus Schweden, Frankreich, Kroatien, Belarus und auch aus Russland.[668] Belarussische Freiwillige haben im Juli 2014 die Kampfgruppe „Atrjad Pahonja“ aufgestellt.[669] Später wurde die „Taktische Gruppe Belarus“ gegründet.[670] Der Franzose Gaston Besson, ein bekannter Rechtsextremist[671] und ehemaliger Kriegsveteran des Kroatienkrieges,[672] rekrutierte Kämpfer für das Asow-Regiment. Es schlossen sich auch Freiwillige aus Georgien den ukrainischen Truppen an.[673]
Die Hindustan Times berichtete am 27. März 2022, dass das Kastus-Kalinouski-Bataillon, bestehend aus belarussischen Freiwilligen, einen Eid auf die ukrainische Armee abgelegt habe.[674] Die BBC berichtete von belarussischen Dissidenten, die der ukrainischen Armee beitraten, um einen Stellvertreterkrieg gegen ihr eigenes Regime zu führen.[675] Nach Angaben des ZDF sollen es mindestens 200 gewesen sein.[676]
Russische Anarchisten kämpfen, unterstützt von Antifaschisten, auf der Seite der Ukraine gegen Putin.[677]
Auf Seiten der regierungsfeindlichen, prorussischen Kräfte
Viele russische paramilitärische Organisationen unterstützen den bewaffneten Kampf, darunter rechtsextreme Gruppierungen wie etwa die Russische Nationale Einheit.[667][678] Andere ausländische Kämpfer kommen aus Deutschland,[679] Serbien, Spanien[680] oder Frankreich. Die serbischen Kämpfer geben eigenen Angaben zufolge an, sich für die russische Unterstützung im Bosnienkrieg bedanken zu wollen.[681] Der Franzose Victor Alfonso Lenta, ein Ex-Militär, rekrutiert Kämpfer.[667] Viele dieser Kämpfer haben antiwestliche, linksradikale und nationalistische Ansichten. Dies bestätigte auch ein Interview mit einem aus Brasilien stammenden Kämpfer.[682] Auch in Italien werden Rechtsextreme rekrutiert, um auf russischer Seite gegen die Ukraine zu kämpfen. Im August 2018 nahm die italienische Polizei sechs Rechtsextreme fest und erhob Anklage gegen 15 weitere Personen wegen Rekrutierung von Kämpfern und illegalen Waffenbesitz im Auftrag eines fremden Landes. Einer der festgenommenen Männer ist Gabriele Carugati, der Sohn der Lega-Nord-Politikerin Silvana Marin. Angeklagt wurde auch der Rechtsextremist Andrea Palmieri, der bereits im März 2015 im italienischen Fernsehen über seine Kampfhandlungen in der Ostukraine erzählt hatte, sowie der ehemalige Soldat Antonio Cataldo, der in Russland trainiert hatte. Nach Angaben der Ermittler wurden die Angeklagten bezahlt, um in der Ostukraine zu kämpfen.[683][684] Der Brite Benjamin Stimson wurde im Juli 2017 zu fünf Jahren Haft verurteilt, nachdem er gestanden hatte, dass er 2015 illegal in die Ukraine eingereist war, um dort zusammen mit russlandtreuen Militärs terroristische Handlungen vorzubereiten und auszuführen.[685] Zusätzlich zur Bezahlung, welche diese Söldner erwarten konnten, hätten Hintermänner für tote Ukrainer zusätzlich bezahlt; der Wert des Lebens des Feindes sei nicht null gewesen, sondern negativ, so Wiktor Jerofejew.[686]
Tschetschenische Kämpfer auf beiden Seiten
Sowohl die ukrainische Regierung als auch die Separatisten werden von Gruppen tschetschenischer Kämpfer unterstützt. Im März 2014 bildete sich das Dschochar-Dudajew-Bataillon unter Führung von Issa Munajew, um sich und die Ukraine nach eigenen Angaben gegen die „russische Aggression“ zu verteidigen.[687] Munajew fiel im Kampf um Debalzewe.[688] Im Oktober 2014 wurde ein zweites tschetschenisches proukrainisches Bataillon gegründet, das nach dem Widerstandsanführer des späten 18. Jahrhunderts, Scheich Mansur, benannt ist.[689]
Gleichzeitig kämpft eine starke Gruppe, die zu der tschetschenischen Kadyrow-Regierung hält, für eine Abspaltung des Donbas.[690][691] Das tschetschenische Oberhaupt Ramsan Kadyrow hatte schon für seinen Einsatz auf der Krim von Präsident Putin einen Orden verliehen bekommen dafür, dass er die Krim „bei ihrer Selbstbestimmung unterstützt“ hatte, was gegen eine komplette Freiwilligkeit der tschetschenischen Kämpfer spricht.[692]
Boris Nemzow versuchte 2014, die Kadyrow-Freiwilligen, die ungehindert die Grenze zur Ukraine überquerten, in Russland vor Gericht zu stellen. Nemzow wurde im Februar 2015 von tschetschenischen Tätern ermordet; Auftraggeber dafür wurden nicht ermittelt.[693]
Nordkoreanische Soldaten auf Seiten Russlands
Seit Oktober 2024 gibt es Berichte, dass Nordkorea Russland nicht nur mit Munition und Waffen unterstützt, sondern auch 12.000 Infanteriesoldaten an Russland abgegeben hat, die in russischen Uniformen im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden sollen. Der südkoreanische National Intelligence Service hatte gemeldet, dass russische Schiffe die Soldaten nach Wladiwostok gebracht hätten und dass sie nun für den Einsatz an der ukrainischen Front ausgebildet würden. Nordkorea bekommt im Gegenzug von Russland Erdöl und Lebensmittel geliefert und Unterstützung in seinem Raketen- und Atomprogramm. Nach einem Bericht der südkoreanischen Tageszeitung Chosun Ilbo seien bereits mehrere nordkoreanische Soldaten bei Kursk desertiert. In Donezk seien sechs Nordkoreaner bei einem ukrainischen Raketenangriff getötet und drei weitere verletzt worden. Russland bestreitet jegliche militärische Hilfe aus Nordkorea. Die NATO bestätigte die Berichte bisher nicht, „die Sache werde noch geprüft“.[694][695]
Laut Einschätzung von Simon Gauseweg (Jurist mit Spezialisierung auf Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht) ist es – Stand Oktober 2024 – fraglich, ob es sich bei Nordkoreas Unterstützung Russlands um eine direkte Kriegs- oder Konfliktbeteiligung handelt bzw. ob Nordkorea zur Kriegspartei im Russisch-Ukrainischen Krieg wurde, wenn die nordkoreanischen Soldaten unter russischem Kommando und in russischen Uniformen in den Krieg zogen.[7]
Friedensbemühungen und Einigungsversuche
Genfer Erklärung vom April 2014
Bei „Genfer Gesprächen“ zwischen den Außenministern der USA, Russlands, der Außenbeauftragten der EU und dem Interimsaußenminister der Ukraine wurde am 17. April 2014 eine Vereinbarung getroffen, die Spannungen abbauen und die Sicherheit für alle Bürger wiederherstellen sollte. Es sollten alle illegal bewaffneten Gruppen in allen Regionen der Ukraine entwaffnet und besetzte Gebäude, Straßen und Plätze geräumt werden. Alle Seiten wurden zum Gewaltverzicht aufgerufen und eine Amnestie für alle Teilnehmer, die keine Kapitalverbrechen begangen hatten, verkündet. Beobachter der OSZE sollen die ukrainischen Behörden bei der Umsetzung dieser Deeskalationsschritte in führender Rolle unterstützen. Es wurde „ein sofortiger, breiter nationaler Dialog“ gefordert. Der bereits „angekündigte Verfassungsprozess wird transparent sein und niemanden ausgrenzen“. Die Teilnehmer unterstrichen die Wichtigkeit der wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität der Ukraine.[696]
Wenige Tage später formulierten die Separatisten den Rücktritt der Regierung als Voraussetzung für das Niederlegen der Waffen.[697]
Beim Jahrestreffen des Europarates Anfang Mai 2014, an dem auch die Außenminister Russlands und der Ukraine, Sergei Lawrow und Andrij Deschtschyzja, teilnahmen, wurde vorgeschlagen, noch vor dem Wahltermin am 25. Mai eine zweite „Genfer Konferenz“ zur Versöhnung der Gegensätze abzuhalten. Lawrow forderte, dazu auch die prorussischen Aktivisten einzuladen, was der Außenminister der Ukraine zurückwies.
„Runder Tisch“
Am 13. Mai 2014 flog der deutsche Bundesaußenminister Steinmeier zu Vermittlungsgesprächen mit dem Ziel der Einrichtung eines „runden Tisches“ nach Kiew.[698] Am 14. Mai wurde dort unter der Schirmherrschaft der OSZE und der Moderation des deutschen Exdiplomaten Wolfgang Ischinger das erste der geplanten Gespräche geführt. Die Regierung in Kiew hatte dazu Experten aus der gesamten Ukraine eingeladen, jedoch keine Vertreter der Separatisten – die laut Wolfgang Ischinger, auch falls eingeladen, nicht gekommen wären.[699]
Teilnehmer am ersten, zweieinhalb Stunden dauernden „Rundtischgespräch“ waren: Interimspräsident Oleksandr Turtschynow, Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk, die frühere Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, OSZE-Moderator Wolfgang Ischinger, die früheren Präsidenten der Ukraine Leonid Kutschma und Leonid Krawtschuk sowie der Fraktionsvorsitzende der „Partei der Regionen“ im ukrainischen Parlament, Oleksandr Jefremow (ukr. Олександр Сергійович Єфремов).[700]
Am 17. Mai fand in Charkiw die zweite Sitzung des Runden Tisches statt, die ebenfalls ergebnislos blieb.[701] Am 21. Mai fand in Mykolajiw eine dritte Sitzung statt. Arsenij Jazenjuk schloss auf dieser Sitzung bilaterale Gespräche mit Russland aus und äußerte, es könnten allenfalls, wie seinerzeit in Genf, Gespräche unter Beteiligung der USA erfolgen.[702]
Am 30. Juni 2014 erklärten die Präsidenten Frankreichs, der Ukraine, Russlands und die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland nach gemeinsamen Telefonaten halboffiziell, die am Abend dieses Tages auslaufende Waffenruhe müsse verlängert werden, um gemeinsam mit allen Beteiligten, unter Einbindung der OSZE, eine dauerhafte Lösung des Konfliktes zu realisieren. Insbesondere sollten Russland und die Ukraine gemeinsam für eine Grenzüberwachung sorgen, und die Ukraine solle sich mit den Aufständischen an einen Tisch setzen.[703]
Für die Ukraine „waren die Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt“; Poroschenko sagte in Kiew bei einer offiziellen Rede: „Im Verlauf von zehn Tagen haben wir dem Donbass, der Ukraine und der ganzen Welt gezeigt, dass wir diesen von außen provozierten Konflikt friedlich regeln wollen, jedoch haben die Aufständischen mit „verbrecherischen Taten“ die einmalige Chance zunichtegemacht.[704] Der Friedensplan bleibt in Kraft: Wir sind zur Einstellung des Feuers in jedem Moment bereit, sobald wir sehen, dass sich alle Seiten an die Erfüllung der Hauptpunkte des Friedensplans halten.“[705] Dazu gehöre die Forderung nach Befreiung aller Geiseln, die noch in der Hand von prorussischen Kämpfern seien; stattdessen stellten die Aufständischen immer wieder eigene Bedingungen. Die OSZE werde ihre Arbeit nur nach dem Verschwinden von Waffen und Checkpoints wieder aufnehmen.[706] Der Waffenstillstand war seitens der Separatisten einhundert Mal gebrochen worden und 27 ukrainische Soldaten hatten dabei ihr Leben verloren.[183]
Verhandlungen des Protokolls von Minsk („Minsk I“)
Am 2. September 2014 traf sich im belarussischen Minsk erstmals eine trilaterale OSZE-Kontaktgruppe, die sich aus Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE zusammensetzt. An diesem Treffen nahmen auch Repräsentanten der Separatisten aus Donezk und Lugansk teil.[707] Am 3. September, wenige Tage vor dem NATO-Gipfel und dem Inkrafttreten neuer Sanktionen des Westens, einigten sich nach Medienberichten die Präsidenten Poroschenko und Putin telefonisch auf einen Waffenstillstand. Dem widersprach jedoch umgehend Putins Pressechef Peskow. Er sagte, dass Russland nicht direkt einen Waffenstillstand vereinbaren könne, weil es an dem Konflikt im Donbass gar nicht beteiligt sei. Auch aus der Ukraine kam umgehend Widerspruch: „Das ist ein Plan zur Vernichtung der Ukraine und zur Wiederherstellung der Sowjetunion“, sagte Ministerpräsident Arseni Jazenjuk am 3. September 2014 in Kiew.[708][709][710]
Am 5. September wurde dennoch ein zwölf Punkte umfassendes Protokoll von Minsk zwischen der ukrainischen Regierung und den prorussischen Separatisten unterzeichnet. Die Konfliktparteien vereinbarten darin eine von der OSZE zu überwachende Waffenruhe und einen Gefangenenaustausch. Neben der OSZE war auch Russland an der Vereinbarung beteiligt. Für die Ukraine unterzeichnete Kutschma das Dokument; als Vertreter des Donbass unterzeichneten Alexander W. Sachartschenko und Igor W. Plotnizki. Die ukrainische Seite verpflichtete sich zur Umsetzung eines Gesetzes über einen regionalen Sonderstatus.[711][712]
Gemäß Boris Litwinow, einem Vertreter der Separatisten in Donezk, sollen Sachartschenko und Plotnizki nur als Beobachter an dem Treffen teilgenommen haben. Ihre Unterschrift dokumentiere lediglich, dass sie die Vereinbarung zur Kenntnis genommen hätten.[713]
Am 16. September beschloss das ukrainische Parlament ein Gesetz über einen Sonderstatus der Konfliktregion in der Ostukraine sowie eine weitgehende Amnestie für die Separatisten. Staatspräsident Poroschenko hatte das Gesetz erst am Vormittag ins Parlament eingebracht. Das Gesetz über den Sonderstatus gilt für drei Jahre und verbrieft das Recht auf die eigene Sprache für die russischsprachige Bevölkerung in den Regionen Donezk und Luhansk. Zudem soll die Selbstverwaltung dieser Regionen gestärkt werden und es ist eine enge Kooperation mit angrenzenden russischen Gebieten geplant. Das Gesetz gesteht den Regionen außerdem eigene Wahlen sowie die Gründung einer eigenen Volksmiliz in den von den prorussischen Separatisten kontrollierten Regionen zu. Im Gegenzug sollen die Aufständischen in den nicht anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk auf ihre Forderung nach Unabhängigkeit verzichten.[714] Während der Parlamentssitzung in Kiew kam es zu Gewalttätigkeiten, an denen unter anderem die Organisation Prawyj Sektor, die Swoboda-Partei sowie die AutoMaidan-Bewegung beteiligt waren.[715] Der Abgeordnete Witali Schurawski, ehemaliges Mitglied der Fraktion der Partei der Regionen, wurde von Protestierern körperlich angegriffen, in eine Mülltonne gestürzt und mit Abfällen beworfen.[716]
Am 19. September kam es zu einem mehrseitigen Treffen derselben Gruppen in Minsk, wobei alle teilnehmenden Gruppen zunächst ihre schon bekannten Forderungen stellten.[717] Am 20. September wurde aber dann eine Einigung über die Einrichtung einer Pufferzone um die umkämpften Gebiete in der Ostukraine bekanntgegeben, deren Einhaltung kontrolliert werden soll.[718]
Nachdem der in Minsk vereinbarte Waffenstillstand dreieinhalb Monate lang kaum eingehalten worden war (siehe oben), wurde erst kurz vor Weihnachten am 23. Dezember 2014 offiziell bekanntgegeben, dass noch in derselben Woche die Friedensgespräche von Minsk wiederaufgenommen würden.[576]
Im Januar 2015 gab der Separatistenführer Alexander Sachartschenko nach der angeblichen Eroberung des Flughafens Donezk offen zu, sich nicht an die Waffenruhe zu halten und im Gegenteil eine Offensive durchzuführen, mit dem Ziel, weiteres Territorium zu erobern.[719]
Minsk II
Anfang Februar 2015 lehnten Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Hollande bekräftigte, Frankreich sei nicht dafür, dass die Ukraine der NATO beitritt.[720] Am 5. Februar reisten Merkel und Hollande zunächst zu einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko nach Kiew, der sich einige Stunden zuvor mit Arseni Jazenjuk und dem US-Außenminister John Kerry zu Gesprächen getroffen hatte.[721][722] Danach reisten Merkel und Hollande weiter nach Moskau zu einem Treffen mit Putin.[723][724] Nach einem fünfstündigen Dreiergipfel am 6. Februar 2015 kam als Ergebnis die Zusage zustande, den bislang gescheiterten Friedensplan von Minsk wiederbeleben zu wollen. Nach einem siebzehnstündigen „Verhandlungsmarathon“ in der Nacht vom 11. auf den 12. Februar kamen die Beteiligten (Poroschenko, Putin, Hollande, Merkel und die Milizenführer) zu einer Einigung. Die Einzelheiten wurden am späten Vormittag des 12. Februar bekannt gegeben: Demnach sollte das Verhandlungsergebnis vom September 2014 („Minsk I“) vollständig durchgeführt werden.[725] Laut „Minsk II“ sollten ab Sonntag, 15. Februar 2015, 0:00 Uhr Ortszeit, die Waffen schweigen.
Die schweren Waffen sollten dann binnen 14 Tagen abgezogen und die Gefangenen binnen 19 Tagen freigelassen werden. Die ukrainische Armee sollte ihre schweren Waffen aus einem dem derzeitigen Frontverlauf entsprechenden Grenzgebiet abziehen. Für die Aufständischen galt Entsprechendes für die Grenze des von ihnen am 19. September 2014 besetzten Gebietes.
Am 24. August 2015 konferierten in Berlin aus Anlass des 24. Jahrestages der Selbständigkeit des ukrainischen Staates Merkel, Poroschenko und Hollande. Daraus resultierte die einheitliche Forderung, den Minsk-II-Vertrag vom Februar einzuhalten.[726]
Nach dem russischen Einmarsch 2022
Nach dem russischen Einmarsch im Februar 2022 fanden Verhandlungen in Belarus und in der Türkei statt. Die Ukraine brachte unter anderem den Verzicht auf einen NATO-Beitritt als Option ein, es war jedoch unklar, wie belastbare Sicherheitsgarantien aussehen könnten, nachdem das Budapester Abkommen von 1994 die Annexion der Krim nicht verhindert hatte. Die weiteren Verhandlungen in der Türkei zeigten (Stand August 2022) keinen ernsthaften politischen Willen Russlands, über eine Neutralität der Ukraine zu verhandeln.[727] Nach einem Bericht von Reuters habe es zu Beginn des Krieges eine vorläufige Einigung mit einem Verzicht der Ukraine auf einen NATO-Beitritt gegeben, diese sei jedoch von Putin abgelehnt worden.[728]
OSZE-Beobachtermissionen und Vermittlungsbemühungen
Der Schweizer Bundespräsident und Präsident der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Didier Burkhalter, forderte am 24. Februar 2014 in einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat eine internationale Kontaktgruppe zur Ukraine unter dem Dach der OSZE zu bilden, der die wichtigsten Akteure angehören sollten, um zu erreichen, dass die russische und die ukrainische Seite direkt miteinander sprächen.[729] Burkhalter rief sodann am 3. März 2014 in einer Rede vor dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf dazu auf, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren. Russland lehnte generell Hilfe der OSZE an die Ukraine und somit auch eine Beobachtermission der OSZE entschieden ab, begründet mit der gemäß Russland angeblich nicht legitimen ukrainischen Regierung.
Anfang März 2014 entschieden die OSZE-Mitgliedstaaten auf Anfrage der Ukraine unbewaffnete Militärbeobachter zur Durchführung von OSZE-Inspektionen nach dem Wiener Dokument der Verhandlungen über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 (WD 11) zu entsenden. Der Zutritt zur Krim wurde den Beobachtern verwehrt.[730]
OSZE-Standorte in der Ukraine
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Russland ließ nach seiner Annexion der Krim zu, dass der ständige Rat der OSZE am 21. März auf Anfrage der Ukraine und unter Zustimmung aller 57 Mitgliedsstaaten die Entsendung einer OSZE-Beobachtermission mit erweiterten Befugnissen in die Ukraine – ohne die Krim – (OSCE Special Monitoring Mission (SMM)) beschloss.[731] Ziel der SMM ist, Informationen zu sammeln, Bericht über die Sicherheitslage zu erstatten und vor Ort über konkrete Vorfälle zu berichten. Die SSM bestand je nach Zeitpunkt aus rund 500 bis 1200[732] zivilen, unbewaffneten Beobachtern aus mehr als 40 OSZE-Teilnehmerstaaten und bis 400 lokalen Mitarbeitern aus der Ukraine, die als Übersetzer, Verwaltungsassistenten und Berater arbeiten. Das ursprünglich sechsmonatige Mandat wurde jährlich verlängert, letztmals im März 2021.[733] Der Sitz der Mission ist Kiew, das Mandat der Mission umfasst aber das gesamte Territorium der Ukraine und die Beobachter arbeiten in den zehn größten Städten der Ukraine (Donezk, Dnipro, Luhansk, Charkiw, Cherson und Odessa sowie Lemberg, Stanislau, Czernowitz und Kiew) 350 Beobachter arbeiteten 2015 alleine in den Donezker und Luhansker Regionen.[734]
Auch noch nach der Zustimmung Russlands behauptete die russische Propaganda „einen Mangel an Neutralität der OSZE“; laut russischen staatlichen Medien existiere in der OSZE „eine gewisse politische Direktive […] die Ukraine zu einem Territorium zu machen, auf dem keine Rechtsnormen gelten.“[735] Unabhängig von der Beobachtungsmission wurde im Juli 2014 eine separate und zunächst auf drei Monate begrenzte Mission zur Beobachtung zweier russischer Grenzübergänge in Gukowo und Donezk aufgestellt, die nur ein Teil einer mehrere Schritte umfassenden Deklaration war – aus russischer Sicht ausschließlich „eine Geste guten Willens“.[736][737][738]
Der Umfang dieser Mission wurde von westlichen OSZE-Mitgliedern anfangs als vollkommen unzureichend kritisiert.[175] OSZE-Präsident Didier Burkhalter forderte am 29. August 2014 eine Untersuchung über den wachsenden Strom militärischen Personals und Ausrüstung aus Russland in das Konfliktgebiet; er wiederholte, die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine müssten jederzeit geachtet werden.[739]
Anfang Dezember 2016 machte der Leiter der OSZE-Beobachtungsmission, Alexander Hug, in der schärfest möglichen diplomatischen Form deutlich, dass „Männer in Uniformen und Anzügen“, welche behaupteten, die Interessen der Menschen zu vertreten, für die Zivilisten in den Konfliktgebieten verantwortlich seien und diese Verantwortung nicht wahrnähmen. Auch humanitäre Hilfe würde behindert. Auch noch im Februar 2018 sprach Hug identisch von einem Krieg, in dem die Menschen nicht verstünden, warum sie beschossen würden und dass die Menschen nicht an künstlich gezogene Linien glaubten; sie misstrauten nicht den Zivilisten auf der anderen Seite, sondern Entscheidungsträgern und sagten: „Das ist nicht unser Konflikt.“[51] Ein Bericht der Nowaja gaseta beschrieb Anfang August 2018 die Gebiete der „Volksrepubliken“ als Horte der Armut und Hoffnungslosigkeit ohne eine Möglichkeit zu menschenwürdiger Arbeit, die Region würde „sozial und wirtschaftlich zerstört“.[740]
Russland hatte selbst die Ausrüstung von Beobachtern mit Feldstechern verhindert, während die für die Überwachung wichtigsten Werkzeuge, die Langstreckendrohnen, von August 2016 bis April 2018 überhaupt nicht eingesetzt wurden: 2016 waren mehrere Drohnen von Boden-Luft-Raketen über nicht von der Regierung kontrollierten Gebiet abgeschossen worden. Kurz vor Einstellung der Flüge hatte eine Drohne auch einen russischen Zhitel-Störsender aufgenommen.[741] Erst im Jahr 2018 wurden die Flüge wieder aufgenommen. Der damalige Missionsleiter Alexander Hug sprach von unbequemen Fakten für „gewisse Leute“. Nach einem zweifachen Abschuss im Juni 2016 hatten die Beobachter trotz aller diplomatischen Zurückhaltung davon geschrieben, dass einmal die Indizien stark auf einen Abschuss aus Rebellengebiet hingewiesen hätten („evidence strongly suggested one of them was hit from a rebel position“).[742]
Die Überwachung der beiden Grenzstellen Gukowo und Donezk durch 22 Mitarbeiter wurde am 30. September 2021 nicht verlängert.[743] Ein Beitrag der Berichte könnte sein, „dass kleine Vorfälle in der Ostukraine nicht als Anlass genommen werden, eine grössere Eskalation zu rechtfertigen“, die öffentlichen Berichte erschwerten es zudem, „Behauptungen in die Welt zu setzen, die nicht der Realität entsprechen“, so der ehemalige Leiter der Beobachtermission.[744]
Am 2. September 2014 leitete die damalige Ukraine-Beauftragte der OSZE, die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini die Gespräche der OSZE-Kontaktgruppe in Minsk, die den Waffenstillstand vom 5. September 2014 vorbereitete.[745][746] Didier Burkhalter forderte eine Ausweitung der OSZE-Beobachtermission im Osten der Ukraine sowie deren Ausweitung zur Überwachung der Grenze. Zusätzlich solle die OSZE zur «Versöhnung, zum Wiederaufbau und zu Reformen» in der Ukraine beitragen.[747] Der Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine hatte am 18. Februar 2015 beschlossen, sich um Blauhelm-Truppen in Form einer EU-Polizeimission zu bemühen.[748] Auch der Ukraine-Beauftragte der USA befürwortete 2017 eine bewaffnete UN-Truppe.[749] Unter dem Schutz einer Friedensmission sollten auch demokratische Wahlen in den Gebieten legitime Lokalregierungen ermöglichen, mit denen Kiew verhandeln könnte. Russland will keine Mission, welche die Grenze nach Russland kontrolliert.[750][751] In der sehr beschränkten Mission nur entlang der Waffenstillstandslinie nach der Idee Russlands würde eine UNO-Mission gemäß Konrad Schuller förmlich das von den anti-ukrainischen Milizen besetzte Gebiet „beschützen“.[752] Es wurde erwartet, dass die Ukraine Ende September 2018 einen Resolutionsentwurf zu Friedenstruppen bei der UNO-Generalversammlung vorstellt.[753]
Die Chefunterhändlerin Heidi Tagliavini wurde im Juni 2015 durch den österreichischen UN-Botschafter in New York, Martin Sajdik, abgelöst.[754] Im April 2017 starb ein OSZE-Beobachter, als ein Fahrzeug vermutlich auf eine Mine fuhr.[755]
2017 zählte die OSZE über tausend Waffenstillstandsverletzungen pro Tag. Fünfhundert Zivilisten kamen laut Kenntnis der OSZE in diesem Jahr ums Leben.[756] Am 16. Mai 2018 wurde der Waffenstillstand an einem einzigen Tag 2380 Mal gebrochen.[732]
Eine Aufarbeitung der erhobenen Daten zu Waffenstillstandsverletzungen fand bis im April 2018 nicht statt; es gab keinen Prozess, durch welchen Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen worden wären; eine Waffenstillstandsverletzung hat gemäß dem Leiter der Mission unbefriedigender Weise kaum Disziplinarverfahren oder andere Konsequenzen zur Folge und es entstünden dadurch auch kaum politische „Unkosten“ für die politischen Verantwortungsträger, selbst in jenen Fällen, in denen die Verantwortlichen zweifelsfrei bekannt sind.[358] Ein halbes Jahr später wechselte die Leitung der Beobachtermission; Alexander Hug übergab die Leitung an den Briten Mark Etherington. Das Fazit Hugs war: „Es gibt keinen Willen, diesen Konflikt zu beenden.“ Gleichzeitig widersprach er der Moskauer Darstellung eines innerukrainischen Konflikts; der Krieg sei „kein einheimischer Konflikt“.[757]
Ab Juli 2020 wurden die Waffenstillstandsverletzungen wirklich reduziert. Bis im November lagen die Zahlen im Bereich von 5 Prozent des Vorjahres. 2021 verschlechterte sich die Situation wieder. Im Dezember 2021 gab es fünfmal mehr Waffenstillstandsverletzungen als im Dezember 2020, so waren es am 22. Dezember 613.[758] Der ehemalige Leiter der OSZE-Beobachtungsmission hoffte auf einen positiven Effekt für Lösungen aufgrund der erneuten weltweiten Aufmerksamkeit im Februar 2022.[744]
Behinderung der OSZE-Beobachtungsmissionen
Am 26. Mai verlor die OSZE den Kontakt zu einem ihrer SMM-Beobachterteams in der Region Donezk; kurze Zeit später wurde ein weiteres Team der OSZE im Raum Luhansk von prorussischen Separatisten verschleppt, sodass für einen ganzen Monat insgesamt neun OSZE-Mitarbeiter festgehalten wurden. Beide Teams wurden erst am 27. bzw. 28. Juni freigelassen,[759] dies unter Mitwirkung Alexander Borodais, der Anfang Juni das Verschwinden der Beobachter noch als skandalös, weil möglicherweise als eine (ukrainische) Provokation eingeschätzt hatte.[760]
OSZE-Beobachter wurden nach dem Waffenstillstand von Minsk am 5. September wiederholt beschossen. Wer für die Angriffe verantwortlich ist, war oft nicht klar.[761] Insbesondere zwei Beobachtungs-Drohnen wurden von prorussischen Truppen mittels konzentrierter Mikrowellen – also mit den neuesten High-Tech-Waffen einer modernen Armee – zum Absturz gebracht,[600][601] zum mutmaßlichen Absturzort einer weiteren Drohne wurde der OSZE der Zugang verweigert.[762]
Die im ersten und zweiten Minsker Abkommen vereinbarte Überwachung der russischen Grenze kam nie zustande.[763]
Im Sommer 2015 nahmen organisierte Behinderungen der OSZE zu: Im Juli wurden 30 Fahrzeuge der OSZE und des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) in Donezk von der „Bevölkerung“ einsatzunfähig gemacht, wobei die bewaffneten Vertreter der Separatisten es unterließen, die Fahrzeuge zu schützen. Im August wurden weitere vier Autos komplett zerstört. Ukrainische Quellen sprachen von Versuchen, die OSZE aus dem Donbass zu verdrängen.[764][765][766][767]
Der stellvertretende Leiter der OSZE-Mission, Alexander Hug, teilte im März 2016 in einem Interview mit, dass sich keine der beiden Seiten wirklich an die „Sicherheitszone“ beiderseits der Minsker Kontaktlinie halte, in der Truppenbewegung eigentlich verboten seien. Die Beobachter würden bei ihren Inspektionen vor allem durch pro-russische Kräfte behindert. Bedrohungen und Einschüchterungen gegen die Beobachter kämen ausschließlich durch pro-russische Separatisten vor.[768]
Spionageverdacht
Laut Recherchen des ARD-Magazins Fakt wurden Mitglieder der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB ausspioniert. Der FSB habe Mitarbeiterlisten und Kurzdossiers mit privaten Informationen über die OSZE-Mitarbeiter, wie Familienstand, Angaben zum Gesundheitszustand, Charaktereigenschaften und genauer Aufenthaltsort in der Ukraine erhalten. Auch Einschätzungen zu persönlichen Gewohnheiten und Vorlieben wurden in den Dossiers erfasst, etwa Details über bevorzugte Frauentypen, Anfälligkeiten für Alkohol und die finanzielle Situation. Dem Magazin liegt dazu die Kopie eines Datenträgers vor, der sich zuvor im Besitz eines russischen FSB-Beamten befunden habe. Darüber hinaus habe der FSB interne OSZE-Dokumente, detaillierte Pläne von OSZE-Einrichtungen, Berichte über besondere Vorkommnisse sowie die Kommunikation des stellvertretenden Leiters der Mission, Alexander Hug, erhalten. Nach Recherchen des Magazins könnten die Dokumente von einem der Mitarbeiter der OSZE-Mission an russische Agenten weitergeleitet worden sein, ausgehend von den Dokumenteneigenschaften.[769][770] Die Sprecherin der OSZE-Mission kündigte eine Untersuchung an.[771]
Wahlbeobachtungen
Vom ukrainischen Außenministerium wurde die OSZE eingeladen, die auf den 25. Mai 2014 vorgezogene Präsidentschaftswahl zu beobachten.[772][773] Am 19. September 2014 eröffnete das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office for Democratic Institutions and Human Rights – ODIHR) formell eine Wahlbeobachtungsmission für die Parlamentswahlen am 26. Oktober 2014 auf Einladung des ukrainischen Außenministeriums. Die Mission wird von der Italienischen Politikerin Tana de Zulueta geleitet und besteht aus 16 Experten in Kiew und 80 Langzeitbeobachtern im ganzen Land.[774]
Internationale Reaktionen
Reaktionen internationaler Organisationen
Vereinte Nationen
Am 17. März 2014 verurteilte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Gewalt in der Ostukraine. Er rief alle Beteiligten dazu auf von Gewalt abzusehen und sich zu Gewaltfreiheit und einem nationalen Dialog zur Suche nach einer politischen und diplomatischen Lösung zu verpflichten.[775]
Am 4. September tagte auf Antrag Russlands der UN-Sicherheitsrat in New York (Dringlichkeitssitzung) zur Lage der Menschen in der Konfliktregion. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hatte zuvor, basierend auf russischen Angaben, mitgeteilt, dass seit Jahresbeginn 730.000 Menschen aus der Ostukraine in Russland Zuflucht gesucht hätten. 168.000 Ukrainer hätten sich als Flüchtlinge registrieren lassen. Man habe aber keine Möglichkeiten zur Überprüfung der russischen Angaben „Wir haben keine Helfer dort, sondern leisten nur technische Unterstützung.“ Der Vertreter der Ukraine warf Russland Zynismus vor: „Keines dieser Probleme würde bestehen, wenn Sie sich nicht in die Angelegenheiten eines souveränen Landes einmischen würden.“ US-Vize-Botschafterin Rosemary DiCarlo warf Russland Heuchelei vor. „Russland kann das alles beenden. Die Gewalt endet an dem Tag, an dem Russland seine Hilfe für die Aufständischen einstellt.“ Moskau müsse die Ukraine respektieren, die Besetzung der Krim beenden und mit der Destabilisierung der Ostukraine aufhören.
Europäische Union
Nach der gewaltsamen Belagerung des ukrainischen Parlaments durch Mitglieder des Rechten Sektors schloss sich die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am 29. März den Aufrufen zur Abgabe aller illegaler Waffen im Land an die ukrainischen Behörden an.[776][777]
In einem Interview erklärt EU-Währungskommissar Olli Rehn am 6. April, der Ukraine sei nie gesagt worden, sie müsse „sich zwischen Europa und Russland entscheiden“.[778]
Am 16. Juli 2014 verschärften sowohl die EU als auch die USA ihre Sanktionen gegenüber Russland.[779][780] Die EU verabschiedete am 6. September 2014 weitere Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die am 12. September 2014 in Kraft traten.[781] Betroffen von den Sanktionen sind neben dem Zugang zu den EU-Finanzmärkten für russische Finanzinstitute und Banken (gilt für alle Banken mit einem staatlichen Anteil von mindestens 50 Prozent) insbesondere russisch staatlich gelenkte Erdölunternehmen wie Rosneft, Transneft und Gazprom Neft. Die EU untersagte des Weiteren die Ausfuhr für Spezialtechnik zur Ölförderung und verbot künftige Rüstungslieferungen.[782]
Am 12. September verschärfte die EU nochmals ihre Sanktionen gegen Russland und die Separatisten der Ostukraine, erneut im Einklang mit den USA.
Am 16. September 2014 ratifizierte das EU-Parlament das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Die Russland direkt oder indirekt betreffenden wirtschaftlichen Teile des Abkommens („Freihandelsabkommen“) wurden allerdings aufgeschoben. Russland wurde bei den Abkommen nicht eingebunden, was die Beziehungen zwischen der EU und Russland weiter belastete.
Die Außenminister der EU beschlossen am 17. November in Brüssel eine Verschärfung der Sanktionen gegen prominente Mitglieder der Separatisten in der Ukraine.
Die Europäische Kommission warnte Russland nach den amerikanischen Befürchtungen einer Invasion im Dezember 2021, die EU würde, falls Russland in die Ukraine einmarschieren werde, ebenfalls Strafmaßnahmen verhängen.[783]
Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten warnten Russland im Dezember 2021 vor einer militärischen Offensive in der Ukraine, ohne konkrete Sanktionen zu nennen, die im Falle einer russischen Invasion in der Ukraine folgen würden.[784][785]
Am 23. November 2022 erklärte das Europäische Parlament Russland als staatlichen Unterstützer des Terrorismus.[786][787]
Vor dem Wintereinbruch 2022 stellt sich die Frage: Werden die Staaten der Europäischen Union der Ukraine helfen, wenn dem vom Krieg zerrütteten Land das Gas ausgehen sollte und die Menschen frieren müssten? Die Ukraine ist kein EU-Mitglied und die westlichen Staaten wollen ihre Industrien retten, auch wenn die russischen Gaslieferungen nach Europa gänzlich ausbleiben sollten.[788]
Die Sanktionen gegen Russland wurden in ihrer Wirkung teils kritisiert. So hätten sie ihre Wirkung verfehlt, da Russland sich seit 2023 wieder im wirtschaftlichen Wachstum befinde.[789]
NATO
Während die NATO 1997 noch 100.000 Soldaten in Europa stationiert hatte, ging die Anzahl bis 2014 auf 25.000 zurück.[790] In den Staaten der Osterweiterung wurde jedoch das Besatzungslimit von maximal 5.000 stationierten Truppen eingehalten. Im März 2014 begannen in Polen und Rumänien die Flüge der NATO zur Überwachung der Krise.[791] Am 23. März 2014 erklärte der Oberkommandierende der NATO, Philip Breedlove, die russischen Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine seien so stark, dass sie im Konflikt um die abtrünnige Region Transnistrien auch eine Bedrohung für die frühere Sowjetrepublik Moldau darstellen könnten. Die Allianz müsse über die Stationierung und Einsatzbereitschaft ihrer Kräfte nachdenken. Das gelte besonders für das Baltikum.[792] In Reaktion auf die russische Annexion der Krim setzte die NATO im April 2014 ihre zivile und militärische Zusammenarbeit auf praktischer Ebene mit Russland aus. Politisch-diplomatische Beziehungen, etwa im Rahmen des NATO-Russland-Rates, sollten jedoch aufrechterhalten werden.[793][794]
Die NATO führte am 4./5. September 2014 in Newport in Wales ein Gipfeltreffen durch, zu dem der ukrainische Präsident Poroschenko als Gast anreiste. Russland war nicht eingeladen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagte zum Auftakt: „Wir haben es mit einem dramatisch veränderten Sicherheitsumfeld zu tun. Im Osten greift Russland die Ukraine an.“ Der Krieg in der Ostukraine – und die Frage, wie die NATO darauf reagieren soll – stand im Zentrum des Treffens. Folgende Ziele wurden bei dem Treffen formuliert: Stärke gegenüber Russland demonstrieren; der Regierung in Kiew Unterstützung signalisieren; Entwicklung eines Aktionsplans für eine stärkere Präsenz der NATO in ihren osteuropäischen Mitgliedsstaaten und Aufbau einer als „Speerspitze“ bezeichneten Eingreiftruppe, die innerhalb von zwei bis drei Tagen kampfbereit sein soll. Der NATO-Generalsekretär forderte überdies von Russland, das Land solle seine Truppen von der Grenze zur Ukraine abziehen, das Einsickern von Waffen und Kämpfern in das Land stoppen, die Unterstützung von bewaffneten Separatisten einstellen sowie konstruktive politische Bemühungen für eine Lösung beginnen.[795] Russland wurde vorgeworfen, mit Soldaten und Kriegsgerät direkt in die Kämpfe zwischen Separatisten und ukrainischen Regierungstruppen einzugreifen. Nach NATO-Darstellung gebe es Beweise für eine massive Militärpräsenz Russlands im Nachbarland.[568]
Vom 11. bis zum 28. September 2014 veranstaltete die NATO, unter Leitung des US European Command, das Manöver »Rapid Trident 14« (Schneller Dreizack) auf einem nahezu 400 km² großen Truppenübungsplatz bei Jaworiw im äußersten Westen der Ukraine. Bei der kombinierten Land- und Luftwaffenübung waren etwa 1300 Soldaten aus 16 Nationen, darunter auch drei Soldaten der deutschen Bundeswehr, beteiligt.[796][797]
Auf dem NATO-Gipfel 2016 in Warschau änderte das Bündnis seine Strategie von „Rückversicherung“ zu „Abschreckung“. Im Januar 2017 stationierte die NATO vier Bataillone mit insgesamt drei- bis viertausend Mann in Polen und den baltischen Staaten. Die Entsendung nach Polen war die größte Verlegung von US-Truppen nach Europa seit 1991.[790]
2022 wurde auf Grund der anhaltenden Kampfhandlungen sowie einer massiven Präsenz russischer Streitkräfte an der ukrainischen Grenze der NATO-Russland-Rat reaktiviert.[798] Am 10. Januar tagte zur Vorbereitung des am 12. Januar 2022 in Brüssel geplanten Treffens die NATO-Ukraine-Kommission. „Russland setzt seinen militärischen Aufmarsch fort, mit Zehntausenden kampfbereiten Truppen, die für schwere Fähigkeiten gerüstet sind“, sagte der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Die Teilnahme der stellvertretenden Ministerpräsidentin der Ukraine Olga Stefanishyna sollte Kiew vor dem Treffen des NATO-Russland-Rats in die Gespräche zur Lösung des Konflikts einbinden.[799] Ungeachtet der zunehmenden Spannungen mit Russland hält die NATO an der Selbstbestimmung der Staaten Europas sowie an Gesprächsangeboten zu Stationierungen und Waffensystemen fest.[800] Russland forderte Sicherheitsgarantien für Russland und stellte weitere unannehmbare Forderungen betreffend der NATO-Staaten.[801] In einem Interview mit ZDFheute sagte Stoltenberg, dass die Gespräche nicht einfach gewesen seien, „aber sie waren offen und wurden frei geführt“.[798]
Die NATO-Staaten übergaben am 26. Januar ihre Antworten auf eine schriftlich formulierte Anfrage Moskaus zu den von Russland geforderten Sicherheitsgarantien. Einen Verzicht auf die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO wiesen die Vereinigten Staaten darin zurück.[802] Die NATO schlug in ihrer Antwort vor, die nach einem Spionagestreit geschlossenen Vertretungen in Moskau und Brüssel wieder zu öffnen. Außerdem wolle das Bündnis die bestehenden militärischen Kommunikationskanäle in vollem Umfang nutzen, um die Transparenz zu fördern und Risiken zu verringern. In einem ersten Schritt zur Deeskalation solle man sich gegenseitig über Manöver und Atompolitik im NATO-Russland-Rat verständigen.[803][802]
Reaktionen einzelner Staaten
Deutschland
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich am 16. März 2014 gegenüber Putin für mehr OSZE-Beobachter vor allem in der unruhigen Ostukraine ausgesprochen, und von ihm dieses Zugeständnis erreicht.[804] Am 22. März 2014 traf Bundesaußenminister Steinmeier in Donezk den damaligen Gouverneur Serhij Taruta sowie den vermögenden Unternehmer Rinat Achmetow. Von der Kiewer Übergangsregierung forderte er, die Rechte aller Bevölkerungsgruppen zu sichern, die Milizen zu entwaffnen[805] und sich von extremistischen Kräften zu distanzieren.[806]
Die deutsche Bundesregierung lobte im April 2014 die bisherige Zurückhaltung der ukrainischen Übergangsregierung beim aktuellen Vorgehen gegen die prorussischen Kräfte in der Ostukraine.[807] Infolge der Ukrainekrise verfügte die deutsche Bundesregierung einen Exportstopp für Rüstungsgüter nach Russland.[808] Am 27. Juni erwähnte Bundespräsident Joachim Gauck aus Anlass einer Ausstellungseröffnung zum hundertjährigen Jahrestag des Attentats von Sarajevo explizit die Krise in der Ukraine: „Der Widerstand Russlands gegen eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union hat uns mit Denk- und Verhaltensmustern konfrontiert, die wir auf unserem Kontinent für längst überwunden hielten. Was wir heute erleben, ist altes Denken in Macht- und Einflusssphären – bis hin zur Destabilisierung fremder Staaten und zur Annexion fremder Territorien“.[809]
Am 1. September 2014, zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges, hielt Gauck eine Rede in Danzig. Darin kritisierte er, Russland habe die Partnerschaft mit dem Westen de facto aufgekündigt. Gauck hielt der Regierung in Moskau zudem indirekt vor, nicht nur die Halbinsel Krim annektiert zu haben, sondern auch die Separatisten in der Ostukraine militärisch zu unterstützen. „Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern“, warnte der Bundespräsident.[810]
Im September 2014 bereitete die Bundesregierung eine Lieferung mit medizinischer Ausrüstung, Feldlazaretten und Schutzwesten an die Ukraine vor. Der Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew, Witali Klitschko, hatte zuvor erklärt, die ukrainische Führung bitte seit drei Monaten bei den NATO-Staaten vergeblich um Unterstützung.[811]
Angela Merkel hielt im Anschluss an die Brisbaner G20-Konferenz in Sydney 2014 eine Rede, in der sie vor einem Wiederaufleben des Kalten Krieges und einer Aufteilung der Welt in Einflusssphären warnte: Es gehe sonst nicht um die Ukraine allein und deren Assoziation an die EU, sondern auch um Georgien, Moldawien, Serbien und andere Staaten. Sie erinnerte auch an die Verhältnisse in der DDR, wo man immer erst in Moskau habe nachfragen müssen, bevor man etwas unternahm. Im Dezember 2014 appellierten 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur unter dem Namen Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen! an die Mitglieder des Deutschen Bundestages, auf Ausgleich und Dialog mit Russland zu setzen. Der Appell zog wegen des als unkritisch beschriebenen Umgangs mit Russlands Militäroperationen und der Annexion der Krim Kritik auf sich und löste einen Gegenaufruf von 100 Wissenschaftlern aus.[812]
Auf der 51. Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2015 verwies Merkel darauf, dass der Konflikt militärisch nicht zu gewinnen sei: „Das Problem ist, dass ich mir keine Situation vorstellen kann, in der eine verbesserte Ausrüstung der ukrainischen Armee dazu führt, dass Präsident Putin so beeindruckt ist, dass er glaubt, militärisch zu verlieren.“[813] Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte Anfang März 2015, die Sanktionen gegen Russland würden so lange aufrechterhalten, bis das zweite Abkommen von Minsk komplett umgesetzt sei, also bis zur Übernahme der Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenze durch die Ukraine.[814] Dies galt auch noch eineinhalb Jahre später: Im Oktober 2016 sollte ein Treffen mit Putin, Poroschenko, Hollande und Merkel in Berlin „die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen bewerten“.[815] Das einzige Resultat ein Jahr zuvor war, dass die regierungsfeindlichen Gebiete auf ihre Wahlen verzichteten und sich somit nichts änderte.[47]
Während der Verschärfung der Lage im Jahr 2021 forderte Deutschland im April den Abzug der russischen Truppen.[816] Ab November, als die USA von Kriegsgefahr sprachen, klaffte die Einschätzung schon weiter auseinander.[817] Die Deutsche Ampelkoalition sandte bis Mitte Januar mehrdeutige Signale, nur „ein bisschen“ (der Spiegel) drohte Olaf Scholz Russland mit Konsequenzen bei einem russischen Einmarsch.[818] Kevin Kühnerts Aussage, es gebe in der Ostukraine „glücklicherweise noch keinen heißen Konflikt, noch keinen Krieg“, wurde als mangelhaftes Durchdringen von Tatsachen bei der SPD kommentiert.[819] Die von der deutschen Bundesregierung Ende Januar 2022 zugesagte Lieferung von 5000 Gefechtshelmen wurde von der ukrainischen Regierung als rein symbolische Geste gewertet. Den Export „letaler Waffen“ hatten sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz als auch Außenministerin Annalena Baerbock ausgeschlossen.
Die ukrainische Regierung bat die Deutsche Bundesregierung im Januar und Februar 2022 durch ihren Botschafter Andrij Melnyk, u. a. mit einem offiziellen Schreiben mit genauer Aufzählung von benötigter Waffentechnik,[820] das ukrainische Militär auszurüsten.[821][822] Als Reaktion auf den russischen Angriff Ende Februar 2022 auf die Ukraine hat Deutschland eine massive Aufstockung der Wehrausgaben angekündigt: Ein einmaliges Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro und das Ziel, zukünftig mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren. Außerdem soll die Abhängigkeit von russischem Erdgas u. a. durch zwei neue Flüssigerdgas-Terminals reduziert werden.[823]
Österreich
Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) schloss sich dem 2022 fälligen Sanktionspaket der Europäischen Union an. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) merkte an, dass Sanktionen eine Art Bestrafung sind, welche man nicht im Vorfeld verhängen kann und soll.[824] Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen kritisiert die Entscheidung, russische Truppen in die Ost-Ukraine zu entsenden, als eklatante Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine.[825]
Schweiz
Die Schweiz verurteilte 2014 die Annexion der Krim durch Russland. Das Land beschloss eine Einfuhrunterbrechung für Kriegsmittel aus Russland und der Ukraine. Überdies veranlasste der Bundesrat als Folge der Angliederung der Krim durch Russland ein Einfuhr- und Ausfuhrverbot gewisser Schlüsselgüter zur Öl- und Gasförderung sowie Anlagebeschränkungen für die Krim. Grund der Haltung gegen Sanktionen sei die Glaubwürdigkeit der Schweiz als Anbieter der Guten Dienste sowie als OSZE-Vorsitz, um ihre Vermittlerrolle nicht zu gefährden. Die Schweiz führte den Courant normal (gewohnte Tagesgeschäfte) durch, das heißt, dass die Strafen der EU nicht über die Schweiz umgangen werden sollten.[826][827]
Die Schweiz forderte Russland 2022 nach dessen Anerkennung der Volksrepubliken auf, die Anerkennung zurückzunehmen. Nach dem Einmarsch verurteilte sie die russische Aggression nicht nur diplomatisch, sondern zusätzlich mit einer Erklärung beider Parlamentskammern.[828] In einem in diesem Umfang einmaligen Schritt schloss sie sich den EU-Sanktionen an, der Bundespräsident erklärte: «Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral.»[829]
Nach seiner Emeritierung an der ETH Zürich machte Michael Ambühl als ehemaliger oberster Diplomat der Schweiz Vorschläge zur Beilegung des Konflikts zwischen den Kriegsparteien.[830]
Vereinigte Staaten
US-Präsident Barack Obama forderte am 28. März 2014 Russland auf, seine Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen.[831] Der Direktor des US-Geheimdienstes CIA, John Brennan, war am 12. und 13. April 2014 in Kiew und hatte sich auch mit Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk und seinem Vize Witalij Jarema getroffen.[832] Die USA stellten sich auf die Seite der ukrainischen Übergangsregierung, als diese begann, militärisch gegen Separatisten vorzugehen, nachdem diese systematisch und bewaffnet staatliche Einrichtungen besetzt hatten.[561] Der amerikanische Regierungssprecher Jay Carney bezeichnete das militärische Vorgehen Kiews am 16. April als „ausgewogen“.[833] Am 21. April 2014 veröffentlichte das US-amerikanische Außenministerium eine Serie von Fotos, die Russlands Verwicklung in die Aufstände in der Ostukraine belegen sollen. Die veröffentlichten Bilder sollen belegen, dass einige der bewaffneten Kämpfer in der Ostukraine russische Militärs oder Offiziere des russischen Geheimdienstes seien.[834] Am 24. April 2014 warf US-Außenminister John Kerry Russland eine gezielte Destabilisierung der Ukraine vor. Russland versuche den demokratischen Prozess im Nachbarland zu behindern. Die russische Regierung behaupte zwar, sie sei an einer Stabilisierung der Lage interessiert, dies sei aber eine Täuschung. In Wahrheit habe Russland mit Provokationen und Drohungen die Instabilität in der Ukraine vergrößert.[835] Kerry warnte Russland vor einem „schweren und teuren Fehler“, sollte es an seinem Vorgehen nichts ändern.[836]
Am 16. Juli 2014 gaben die USA eine Verschärfung ihrer Sanktionen gegen Russland bekannt, mit der Begründung, Russland habe den Zustrom von Kämpfern und Waffen für die Separatisten nicht gestoppt. Die Sanktionsrunde richtet sich gegen die staatliche Wneschekonombank und die Gazprombank sowie gegen die Energiekonzerne Novatek und Rosneft und gegen acht Rüstungskonzerne.[779][837] Auch die EU verschärfte ihre Sanktionen am gleichen Tage.[780]
Im September 2014 setzte die US-amerikanische Regierung weitere Sanktionen gegen Russland in Kraft. Betroffen sind russische Finanzinstitute und Banken, insbesondere die Sberbank sowie russische Rüstungsunternehmen und Unternehmen der Erdölförderung.[838] Anfang Dezember 2014 verabschiedete der US-Kongress mit nur 10 Gegenstimmen eine Resolution, wonach Russland in der Ukraine jeden einzelnen der 10 Punkte der Schlussakte von Helsinki gebrochen hätte.[839] Eine Woche später beschloss er einstimmig den „Ukraine Freedom Support Act“.[840] Das Gesetz sieht erstmals Rüstungsexporte für die Ukraine vor. Der Kongress genehmigt der US-Regierung im laufenden Haushaltsjahr 100 Millionen US-Dollar und jeweils 125 Millionen US-Dollar in den darauf folgenden beiden Jahren. Mit diesen Mitteln solle die USA die ukrainischen Streitkräfte mit „Panzerabwehrwaffen, Munition, Artillerieaufklärungsradar, Feuerleitsysteme und Überwachungsdrohnen“ ausstatten, um „die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine wiederherzustellen“. Weiterhin wird die US-Regierung dazu aufgefordert, für ukrainische Waffenproduzenten, die bisher vor allem nach Russland exportierten, „angemessene alternative Märkte“ zu finden.[841] Am 16. Dezember 2014 erklärte Präsident Barack Obama das Gesetz unterzeichnen zu wollen. Er habe zwar Bedenken, weil sich die USA in diesem Fall nicht mit ihren Verbündeten über neue Strafmaßnahmen abgestimmt hätten, das Gesetz verschaffe ihm aber einen Spielraum für neue Sanktionen.[842]
US-Senator John McCain kritisierte die Rede Angela Merkels auf der Münchner Sicherheitskonferenz, in der sie für eine Verhandlungslösung warb, als „Torheit“ und verglich Merkels Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine mit der Appeasement-Politik der britischen Regierung gegenüber Nazi-Deutschland in den 1930er-Jahren.[843][844] US-Vizepräsident Joe Biden warnte auf der MSC „entschieden vor Uneinigkeit der Europäer in der Ukraine-Krise“. Er sagte ferner, die US-Regierung werde der Ukraine weiter militärische Ausrüstung liefern, ging aber nicht auf die Forderung der US-Senatoren ein, auch tödliche Waffen zu liefern.[845]
US-Präsident Biden teilte im Dezember 2021 Putin in einem Gespräch mit, dass die USA im Falle eines Einmarsches ihre NATO-Kapazitäten in Osteuropa erhöhen und Sanktionen verhängen, aber selbst nicht militärisch eingreifen würden.[846][847] Die Vereinigten Staaten verstärkten im Januar und Februar 2022 ihre militärische Präsenz in den an die Ukraine grenzenden NATO-Staaten. 3000 zusätzlichen Soldaten wurden (Stand Mitte Februar) nach Polen beordert; mindestens 1700 weitere sollten folgten. Die US-Armee verlegte außerdem 1000 Soldaten von Deutschland nach Rumänien.[848]
Heiliger Stuhl
Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine und der Eskalation des Krieges besuchte Papst Franziskus die Russische Botschaft beim Heiligen Stuhl, was als „beispielloser Schritt“ bezeichnet wurde.[849] Franziskus telefonierte mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und brachte seine „Trauer“ zum Ausdruck, während der Vatikan versuche, „Raum für Verhandlungen“ zu finden.[850] „Der Heilige Stuhl ist bereit, alles zu tun, um sich in den Dienst des Friedens zu stellen“, sagte der Papst und kündigte an, Anfang März zwei hochrangige Kardinäle mit Hilfsgütern in die Ukraine zu schicken.[851] Bei diesen Sondergesandten handelt es sich um Kardinal Konrad Krajewski, Leiter der Apostolischen Almosenverwaltung, und Kardinal Michael Czerny, Leiter des päpstlichen Büros für Migration, Caritas, Gerechtigkeit und Frieden. Diese Mission, die mehrere Reisen umfasste,[852][853] wurde als höchst ungewöhnlicher Schritt der vatikanischen Diplomatie angesehen.[854] Papst Franziskus weihte am 25. März 2022 sowohl Russland als auch die Ukraine dem Unbefleckten Herzen Mariens.[855] Der Papst nahm am 7. Kongress der Weltreligionen und der traditionellen Religionen[856] am 13.–15. September 2022 in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan (am 17. September 2022 umbenannt in Astana) teil, um zusammen mit den weiteren Religionsoberhäuptern für den Frieden zu beten.[857] Franziskus hat seit Beginn des Krieges den Frieden immer wieder angemahnt[858] und würde nach unbestätigten Berichten gerne mit dem Patriarchen Kyrill von Moskau ins Gespräch kommen.
Völkerrecht und gerichtliche Klagen
Zahlreiche Wissenschaftler und Journalisten sehen in dem russischen Vorgehen seit 2014 einen Verstoß gegen das Völkerrecht. Dabei sind mehrere völkerrechtlichen Verträge einschlägig:
- Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 enthält in Artikel II, Absatz 4 ein generelles Gewaltverbot: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete […] Androhung oder Anwendung von Gewalt.“[859]
- Im Budapester Memorandum sagte Russland der Ukraine 1994 im Gegenzug zur Überstellung sämtlicher auf deren Territorium befindlicher Nuklearwaffen der ehemaligen Sowjetunion zu, ihre Souveränität und ihre bestehenden Grenzen zu achten. Der amerikanische Militärexperte David S. Yost sieht die Verletzung des Memorandum im Rahmen einer allgemeinen Missachtung internationaler Verträge durch Russland, wie auch des INF-Vertrags.[860] Der russische Politikwissenschaftler Vladislav Belov verweist demgegenüber darauf, dass das Memorandum von der Staatsduma nicht ratifiziert wurde. Somit sei es nur als Willenserklärung der damaligen russischen Regierung unter Boris Jelzin, nicht aber als völkerrechtlich bindend anzusehen.[861]
- In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 sagte Russland zu, auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt „gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit in einer Weise, die mit der Charta der Vereinten Nationen oder der in der Schlussakte von Helsinki enthaltenen Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, unvereinbar ist“, zu verzichten. Es werde „die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit aller Staaten sowie ihr naturgegebenes Recht“ achten, selbst zu bestimmen, wie sie ihre Sicherheit, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker sichern.[862] Damit sicherte Russland der Ukraine das Recht auf freie Bündniswahl zu.[863]
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Am 13. März 2014 legte die Ukraine beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine erste Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK) gegen die Russische Föderation ein; bis Februar 2022 folgten neun weitere,[864] wobei teilweise vorläufige Maßnahmen erlassen wurden. Am 22. Juli 2021 legte auch die Russische Föderation Staatenbeschwerde gegen die Ukraine ein.[865] Am 16. Dezember 2020 erklärte der Gerichtshof die erste Staatenbeschwerde der Ukraine von 2014 zur Krim weitgehend für zulässig;[866] endgültige Entscheidungen stehen noch aus. Daneben wurden beim EGMR Tausende von Individualbeschwerden eingereicht.[867]
Internationaler Strafgerichtshof
Die Anklagebehörde beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) beschäftigt sich seit dem 25. April 2014 mit dem russisch-ukrainischen Krieg. Durch zwei Erklärungen von 2014 und 2015 erkannte die Ukraine, selbst genau wie Russland nicht Vertragspartei des IStGH-Statuts, die Gerichtsbarkeit des IStGH an (Art. 12 Abs. 3 des IStGH-Statuts).[868] Die Anklagebehörde übernahm die Vorprüfung (Art. 15 Abs. 2 des IStGH-Statuts) und berichtete darüber ab 2014,[869] wobei auf der Krim und in der Ost-Ukraine Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen (Art. 8 des IStGH-Statuts), auf der Krim auch für Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 des IStGH-Statuts) gesehen wurden. Seit dem 17. März 2023 ist ein internationaler Haftbefehl gegen Wladimir Putin und seine „Kinderrechtsbeauftragte“ Marija Alexejewna Lwowa-Belowa wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Kraft.
Internationaler Gerichtshof
Am 16. Januar 2017 reichte die Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eine erste Klage gegen Russland ein.[870] Die Ukraine wirft Russland Verstöße gegen das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung durch Verfolgung von Ukrainern und Krimtataren auf der besetzten Krim vor sowie Verstöße gegen das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus durch Waffenlieferungen und andere Hilfe an bewaffnete Gruppen, die auf ukrainischem Gebiet agieren. Diese Gruppen hätten mit den von Russland bereitgestellten Waffen terroristische Akte verübt wie etwa den Abschuss der Malaysia-Airlines-Flug 17.[871] Die Anhörungen begannen am 6. März 2017; ein Teilurteil, mit dem vorgängige prozessuale Einreden Russlands zurückgewiesen wurden, erging am 8. November 2019; mit einem Endurteil wird nicht vor 2023 gerechnet.[veraltet]
Internationaler Seegerichtshof
Am 25. Mai 2019 ordnete der Internationale Seegerichtshof (ISGH) nach Art. 290 Abs. 5 SRÜ die Freilassung von drei ukrainischen Kriegsschiffen und deren Besatzung an, die am 25. November 2018 von Russland in der Straße von Kertsch beschlagnahmt worden waren.[872] Die Festsetzung durch Russland wurde dabei vom Seegerichtshof nicht als militärische Handlung, sondern als Maßnahme der Strafverfolgung angesehen; anderenfalls wäre der Seegerichtshof nicht zuständig gewesen.[873]
Opfer
Die ersten Todesopfer des Russisch-Ukrainischen Konflikts starben während der Annexion der Krim durch die Russische Föderation im Februar 2014.[874] In den nachfolgenden Jahren kamen tausende von Zivilisten und Angehörige unterschiedlicher Streitkräfte im von Russland unterstützten bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine ums Leben oder wurden verwundet.[875] Die UNO ging im Herbst 2016 von rund 32.000 Toten und Verletzten aus.[876][877]
Die als Beobachter abgestellte OSCE bzw. OSZE dokumentierte folgende zivile Opferzahlen (getötete Zivilisten) pro Jahr: 2084 im Jahr 2014, 954 im Jahr 2015, 112 im Jahr 2016, 117 im Jahr 2017, 55 im Jahr 2018, 27 im Jahr 2019, 26 im Jahr 2020 und 18 im Jahr 2021.[878] Im Zeitraum von 2017 bis einschließlich 2020 dokumentierte die OSCE außerdem insgesamt 548 durch den Konflikt verletzte Zivilisten.[879][880]
Im Zeitraum von 2014 bis zur russischen Invasion im Februar 2022 verschwanden auf der Krim und im Donbass etwa 2.000 Menschen.[881]
Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine Ende Februar 2022 starben innerhalb einer kurzen Zeitspanne Zehntausende Zivilisten und Angehörige der russischen und ukrainischen Streitkräfte oder wurden verwundet. Während Russland im April 2022 etwa 13.500 russische Gefallene vermeldete (die Zahl wurde kurz nach ihrer Veröffentlichung wieder dementiert),[882] gab die Ukraine die Zahl der bei Kampfhandlungen getöteten russischen Soldaten im Mai 2022 mit 23.000 Personen an.[883] Im September 2022 meldete die Ukraine 52.650 Tote auf russischer Seite.[884] Die CIA schätzte die Zahl der russischen Gefallenen Mitte Juli 2022 auf etwa 15.000.[885] Das entsprach der Schätzung der britischen Regierung von Ende Mai.[886] Die Ukraine meldete im August 2022 eine Zahl von rund 9.000 toten Soldaten,[887] wohingegen die russische Seite Mitte April 2022 die Zahl der bei Kampfhandlungen verstorbenen ukrainischen Streitkräfte auf mehr als 23.000 bezifferte.[888] Nach ukrainischen Angaben fanden im Zuge der russischen Invasion bis Anfang August 2022 12.000 bis 28.400 Zivilisten den Tod.[889] Das OHCHR meldet im September 2022 rund 5.800 bestätigte Todesfälle; es geht jedoch davon aus, dass die tatsächlichen Todesfälle weit über dieser Zahl liegen.[890]
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